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Patrick Meurs, Andreas Jensen: Im Dickicht des Ankommens

Rezensiert von Simon W. Kolbe, 22.05.2023

Cover Patrick Meurs, Andreas Jensen: Im Dickicht des Ankommens ISBN 978-3-8379-3094-8

Patrick Meurs, Andreas Jensen: Im Dickicht des Ankommens. Einblicke in die psychosoziale Begleitung von Geflüchteten. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2022. 360 Seiten. ISBN 978-3-8379-3094-8. D: 22,90 EUR, A: 23,60 EUR.
Reihe: Forschung psychosozial.

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Thema

Psychosoziale Versorgung von Geflüchteten

Das vorliegende Werk will praktische Einblicke und reflexive Diskurse zu Aspekten der psychosozialen Versorgung von Geflüchteten, insbesondere mit dem Fokus auf 2017 in Hessen eröffnete Psychosoziale Versorgungszentren, anbieten. Insgesamt ist das zu rezensierende Buch im Blick auf ansteigende die Publikationsdichte zur psycho-sozialen Versorgung bzw. zur interdisziplinären Unterstützung, Beratung und Begleitung von Geflüchteten nach 2014 als thematisch relevant zu verorten, vor allem da sich hier vorwiegend die Disziplinen der Psychologie und Soziologie mit der Problematik auseinandersetzen.

Autoren*innen und Herausgeber

Prof. Patrick Meurs gibt in diesem umfangreichen Werk einer Vielzahl von Kollegen*innen die Möglichkeit Teil einer vielschichtigen Auseinandersetzung zur Thematik der psychosozialen Unterstützung von Geflüchteten. Meurs ist Professor an der Uni Kassel, unter anderem leitet die dort verortete Fachgruppe Psychoanalyse am Institut für Erziehungswissenschaften und ist Direktor des Sigmund Freud Instituts Frankfurt am Main. Laut Eigendarstellung sind seine Forschungs-Schwerpunkte Emotionsregulation im Kindes- und Jugendalter, Frühentwicklung von Kindern mit Migrations- und Fluchthintergrund, Frühprävention bei Familien mit Migrations- und Fluchthintergrund, Prävention im Jugendalter mit dem Schwerpunkt der Radikalisierung, Psychoanalytische Spiel- und Gesprächstherapie bei traumatisierten Kindern, Kultursensible Präventions- und Therapieprogramme sowie Elternschaft nach einer Ehetrennung. Sowohl Forschungsprojekte als auch Publikationen lassen einen anspruchsvollen und fachlich versierten Wissenschaftler erkennen, der sich intensiv und aus verschiedenen Perspektiven mit dem Thema Fluchtmigration auseinandersetzt. Die weiteren Autoren*innen sind disziplinär ähnlich zu verorten. Sie werden als Mitarbeiter*innen aus wissenschaftlichen, administrativen und studentischen Bereichen benannt, die in zwei Projekten namens „Verlust, Trauma und Integration“ (2018–2019) und „Zwischenräume des Ankommens“ (2020–2022) mitwirkten.

Entstehungshintergrund und Aufbau

Im Fokus des Buches stehen sozialwissenschaftliche quantitative und qualitative Beiträge, die vor allem die therapeutische und psychosoziale Formen der Beratung in vier hessischen Psychosozialen Zentren (PSZ) für Geflüchtete aus verschiedenen Perspektiven betrachten. Das Buch soll folgende Fragen beantworten:„Wie können diese Beratungsformen geflüchteten Menschen helfen, Orientierungspunkte und Wege zu finden im Dickicht der Bestimmungen rund um die Suche nach Asyl und Schutz oder in der undurchsichtigen Zeit der Desorientierung unmittelbar nach der Ankunft in Europa? Wie kann ihnen geholfen werden, wenn sie den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen und Gefahr laufen, sich zu verirren? Wie kann man ihnen helfen, Lichtblicke oder Anknüpfungspunkte zu sehen in der Dunkelheit und Unsicherheit, die durch das erzwungene Verlassen einer vertrauten Lebensumgebung entstehen können? Wie entstehen nach der Flucht neue Gefühle von Sicherheit und Vertrauen, die die Angst, in ein immer tieferes Loch zu fallen, mildern oder gar beseitigen können?“ (Meurs et al. 2022; S. 9).

Diese teils als (noch) nicht klar wissenschaftlich formulierten Fragen sollen im Buch möglichst beantwortet werden. Um dies umsetzen zu können, wurde das Buch in sieben (7) Kapitel unterteilt, welche auf ein persönlichen Zeugnis eines Geflüchteten und einer historisch geprägten Abhandlung zur Thematik der Betreuung von Geflüchteten als Einleitung folgen. Das erste der sieben (7) Kapitel beschäftigt sich mit dem Prozess des Ankommens und den wesentlichen Aspekten sowie Daten der psychosozialen Beratung von Geflüchteten. Daraufhin folgen 5 sogenannte „Zwischenspiele“, die sich jeweils einem übergeordneten Thema der psychosozialen Beratung widmen. Im abschließenden Kapitel werden Handlungsempfehlungen für die Praxis vermittelt.

Inhalt

Das Vorwort dieses Werkes beschreibt zusammenfassend ausführlich und konsequent die Problematiken von Fluchtmigration und damit verbundene Aspekte der psychosozialen Beratung, denen sich inhaltlich gewidmet werden soll. Ebenfalls wird die Entstehungsgeschichte und der Aufbau sowie spezifische Fragestellungen und Herausforderungen bezüglich der Thematik umfangreich dargestellt, was auch eine Danksagung u.a. an die Beteiligten und Förderer*innen des Buches beinhaltet. Das Zeugnis des Geflüchteten stellt letztendlich eine autobiographische Selbstreflexion einer Fluchtgeschichte, die als exemplarisch für die komplexen und belastenden Lebensrealitäten von Geflüchteten zu beschreiben ist.

Einleitung: „Von einer europäischen Resolution und dem Nobelpreis für Literatur bis zu den Psychosozialen Zentren für geflüchtete Menschen in Hessen“ – Auf den Spuren von Odysseus und Prinzessin Europa: Lehren aus der klassischen Antike für die Betreuung von geflüchteten Menschen heute (23-28)

Die teils historische Zusammenfassung unterschiedlicher Momente und Zeugnisse um das Thema Flucht, Gastfreundschaft und diesbezügliche Aspekte von Beratung und Begleitung versucht die Komplexität des Feldes punktuell zu analysieren. So werden (politische) Dimensionen und Erkenntnisse der Willkommenskultur und europäischer Migrationspolitik, aber auch die Entstehungsgeschichte der psycho-sozialen Versorgungszentren bzw. Institutionalisierung und Notwendigkeit einer psycho-sozialen Beratung und Begleitung von Geflüchteten aufgegriffen sowie die Rolle der Fluchterfahrungen und der in der Beratung tätigen Menschen erläutert. Im zweiten Schritt werden sprachliche Hinleitungen zu den Begriffen umgesetzt und knappe Verweise auf die d die Mythen und Epen der römischen und griechischen Antike und die Odyssee des Odysseus in Beziehung zum aktuellen Diskurs um Fluchtmigration gesetzt.

Kapitel 1: Das Ankommen nach einer Flucht als komplexer Prozess – Hauptaspekte und aktuelle Daten in internationaler Perspektive (S. 33–77)

Dieser Abschnitt des Buches dient zur Einordnung der psychosozialen Betreuung in ihrer Entwicklungsgeschichte, ihrer Angebotsstruktur und ihrer Aufgabe als Ergänzung materieller und medizinischer Versorgung. Ferner werden Konflikt- und Kooperationsebenen aufgezeigt und dann das Pilotprojekt STEP-BY-STEP zur psychosozialen Unterstützung in den hessischen Erstaufnahmeeinrichtungen vorgestellt. Daraufhin widmen sich die Autoren*innen der Bedeutung präventiver Ansätze der Förderung von Resilienz und Stärke und deren mittel- und langfristigen Wirkpotenzialen. Nach einer Analyse der europäischen Sichtweise bzw. Haltungen zur Aufnahme von Geflüchteten „bed, bread and shelter for displaced people“, „refugee management“ und „therapeutic care for refugees“ wird ergänzend auf zwei Kernaspekte fluchtspezifischer psychosozialer Angebote eingegangen, die in diesem Buch als „psychosoziale Unterstützung von Stärke, Kraft und Resilienz“ und „psychotherapeutische Unterstützung bei kumuliertem Verlust und Trauma“ erfasst werden. Abschließend legen die Autoren*innen Wert darauf, dass ein elementarer Bestandteil des Buches ist, die von Fluchtmigration Betroffenen zu Wort kommen zu lassen und Personen in die Studien mit einzubeziehen, die als Betreuende, Führungskräfte oder auch Dolmetscher*innen in Unterkunftsformaten für Geflüchtete tätig sind, da sie Experten*innen der Praxis sind. Danach folgt eine Beschreibung und Hinleitung zum Aufbau des Buches und der einzelnen inhaltlichen Zielsetzungen der weiteren Kapitel.

Im Anschluss an diesen Abschnitt erfolgt das sogenannte „Erste Zwischenspiel“ (S. 79–81), welches letztendlich als rahmende Einleitung des zweiten Kapitels fungiert. Sie bezieht sich auf die mythische Geschichte der Prinzessin Europa und ihrer Entführung durch Zeus sowie die Entstehung Europas. Zudem wird das Kapitel mit diesem Abschnitt in Verbindung gesetzt.

Kapitel 2: Ankommen als Übergang und Zwischenraum: psychosoziale Situation und Belastungen von Geflüchteten in Deutschland und in between (S. 83–84). Dieses Kapitel fokussiert sich auf die Geflüchteten in Deutschland. Konkreter sollen unterschiedliche Lebensumstände, Belastungen, Bedingungen und aber auch Anhaltspunkte für praktische Unterstützer*innen abgehandelt werden.

Im folgenden Abschnitt 2.1 „,Wenn man keine Hoffnung hat, ist der Mensch verloren‘ – Herrn Amals Ankunft in Europa“ (S. 84–88) bieten die Autoren*innen einen Einblick in eine Fallvignette einer Fluchtbiographie. Diese wechselt Äußerungen der Person mit ergänzenden Zusammenfassungen und Analysen der beschriebenen Abschnitte ab. Insbesondere wird die Perspektivlosigkeit des Betroffenen herausgearbeitet und die Begrifflichkeit der Immobilisierung an Hand des Beispiels verdeutlicht.

Daraufhin folgt eine weitere Fallvignette mit dem Titel 2.2 „,Ich habe für mich weitergelebt‘ – die Flucht der Frau Azadi“ (S. 89–93), die ergänzende Elemente darstellen soll und eine andere Fallkonstellation beschreibt, die sich im Kontext von Missbrauch in der Ehe und psychosoziale und psychotherapeutischer Unterstützung bewegt. Beide Fallvignetten dienen als Grundlagen der folgenden theoretischen Ausarbeitungen zu den Themenkomplexen Trauer und Trauerarbeit sowie Trauma und Traumaverarbeitung.

Somit greift das darauffolgende Kapitel die Thematik von 2.3 „Verlust und Trauer“ (S. 93–96) auf und widmet sich dieser Problematik übergeordneten wissenschaftlichen Deutungsansätzen und Differenzierungen um schließlich im Abschnitt 2.3.1 „Trauer und Trauerarbeit im Kontext von Flucht“ (S. 95–96) die Aspekte dieser spezifischen Bedingungen konkreter aufzugreifen und die unübersichtlichen und anspruchsvollen Zusammenhänge zu verdeutlichen. Die Abhandlungen zu 2.2.2 „Notwendigkeit von hoffnungsspendenden Begegnungen: Dem Verlust von Hoffnung entgegenwirken“ (S. 96–99) greifen dann Formen von und Bedürfnisse nach Hoffnung auf und beschreiben sogenannte hoffnungsspendende Objekte als hilfreiche Elemente. Ebenfalls wird 2.2.3 „Der Verlust des Zuhauses und die Suche nach re-settlement“ (S. 99–100) als Problemkonstellation aufgegriffen. Anschließend werden 2.3.4 „Überlegungen zum Trauerprozess“ (S. 100–102) an Hand der praktischen Fallbeispiele und theoretischen Ausarbeitungen ausgestaltet und notwendige Aspekte für gelingende Trauerprozesse hervorgehoben.

Das Kapitel 2.4 „Trauma“ (S. 102–104) ist entsprechend der vorhergehenden Systematik aufgebaut. Zunächst folgen theoretische bzw. begriffliche Einlassungen und dann eine Konkretisierung mit der Thematik Fluchtmigration (2.4.1 „Flucht und die Sequenzialität des Traumas“ S. 104–107). Hier wird das 6-sequenzielle Modell bzw. Konzept der sequenziellen Traumatisierung nach Keilson bzw. Becker und Zimmermann erläutert. In diesem Zusammenhang wird dieses Modell in seiner Bedeutung für die psychosoziale Beratungspraxis, aber auch die Wissenschaften, Gesellschaft und Politik als sogenannte 2.4.2 „Nachträglichkeit des Traumas“ (S. 107–109) aufgegriffen und erläutern, dass Fluchttraumata vielschichtig, komplex von vielen Faktoren abhängig sind und, dass insbesondere die Phase des Ankommens eine relevante Zeitdimension darstellen, in denen schnelle und adäquate psychosoziale Versorgung wichtig und mit hoher Wirkung verbunden ist.

Im Abschnitt 2.5 „Quantitative Betrachtung der psychischen Belastungen von Geflüchteten“ (S. 109–133) eine Studie unter Geflüchteten in Erstaufnahmeeinrichtungen vorgestellt (N=193), die sich mit Angst- und Depressionssymptomatiken, Traumafolgesymptomatiken und PTSD, Somatisierung, Psychischem Wohlbefinden sowie Komorbidität, Mehrfachdiagnosen und Hochrisikopulationen beschäftigte. Die Ergebnisse werden im Kontext vorhandener Forschungsergebnisse („Einordnung der Ergebnisse in bisherige quantitative Untersuchungen“ S. 124–126) diskutiert. Insbesondere wird auf die Thematik von 2.6 „Suizidalität und selbstverletzendes Verhalten bei Geflüchteten“ (S. 126–131) ausführlich eingegangen und das Kapitel 2 abschließend zusammengefasst (2.7 „Zusammenfassung der psychosozialen Belastungen von Geflüchteten“ S. 131–133). Die Zusammenfassung verdeutlicht noch einmal die Notwendigkeit von adäquater und zeitnaher psychosozialer Beratung und Begleitung und die enormen Belastungssituationen von Geflüchteten.

Dem Duktus des Rahmengebildes folgend, startet das dritte Kapitel als „Zweites Zwischenspiel“ (S. 135) mit einem längeren Zitat von Hanna Arendt. Es soll mit dem Titel 3 „Die psychosoziale Begleitung von Geflüchteten: Arbeitsweisen und Arbeitskonzepte“ (S. 137–185) eher konzeptionelle und praktische Bedingungen aufzeigen. Es wird dabei auch das Spannungsverhältnis der in der Hilfe für Geflüchteten tätigen Menschen aufgegriffen, das auch eine politische Dimension darstellt und sich mit Herausforderungen von innen und außen konfrontiert sieht („Die Arbeit mit Geflüchteten als Spannungsfeld innerer und äußerer Konstellationen“, S. 137–140).

So wird anschließend die Beschreibung der vorzufindenden Versorgungslandschaft angegangen (3.2 „Psychosoziale Begleitung – eine Skizze der Versorgungslandschaft“) und Klarheiten zur den Begriffen Psychotherapie und Beratung geschaffen. Die „Sequenzialität der Flucht im Prozess der Begleitung“ (3.3, S. 142–152) aus dem vorhergehenden Kapitel 2 wird wieder aufgegriffen und ihr Einfluss auf Beratungsprozesse bei Geflüchteten analysiert und mit einer Erläuterung dieser Tätigkeit von einer Praktikerin in Form eines Interviews eingebaut. Dieses Interview wird dann auch als Referenzpunkt für Aspekte der Psychosozialen Begleitung aufgegriffen (3.3.1 „Psychosoziale Begleitung zwischen Inhalten und wieder in Bewegung kommen“ S. 145- 148 und 3.3.2 „Psychosoziale Begleitung als Dasein, Zuhören, Raum- und Haltgeben“ S. 148–153) und um ein weiteres Interview ergänzt.

Auch für die „Theoretische[n] Anregungen zur Reflexion psychosozialer Begleitung von Geflüchteten“ (3.4, S. 153–174) werden die Interviews herangezogen, Aspekte des „Nichtwissen[s] und Nichtverstehen[s] als Arbeitsweisen der psychosozialen Begleitung“ (3.4.1, S. 154–161), das sogenannte containing-contained-Modell als Option der Auseinandersetzung mit dem eigenen Handeln (3.4.2 „Containing – Psychosoziale Begleiter*innen als Behälter für das Unaushaltbare“, S. 161–166), die Relevanz von psychosozialer Begleitung in der Freizeit bzw. im Alltag („<Wir spielen irgendwie nur Tischtennis> – psychosoziale Begleitung als Freizeitangebot“, S. 166–168) sowie das 3-R-Modell (Regulate, Relate, Reason) und das NMT-Modell (Neurosequenzielles Modell der Therapie) (3.4.4 „<First regulate and relate and then reason>“, S. 168–174) erläutert. Daraufhin folgt ein knapper Verweis auf das Marginalisierungsrisiko von Kindern und Jugendlichen in den vorzufindenden Settings und Angebotsstrukturen („Kinder und Jugendliche – ein blinder Fleck der psychosozialen Begleitung“, S. 174).

Kapitel 3.6 „STEP-BY-STEP – Ein Pilotprojekt psychosozialer Begleitung“ widmet sich einer ausführlichen Beschreibung und empirischen Überprüfung des beschriebenen Projektes, welches das Ankommen in unterschiedlichen Versorgungsschritten (FIRST STEPS; SECOND STEPS) strukturiert und sich als multiprofessionelles Konzept in einem mikro-kosmischen Dorfsystem etabliert („Erste und zweite Schritte der psychosozialen Versorgung“, S. 175–176; „Geben und Nehmen im Dorf“, S. 176; 3.6.3 „Angebotsstruktur und Bedeutung der Multiprofessionalität in der Begleitung“, S. 176–182 – mit Unterkapiteln zur Angebotsstruktur und Bedeutung von Multiprofessionalität, aufsuchenden Arbeit, Sensibilität und Haltung von Mitarbeiter*innen, Alltagsstrukturen sowie Grenzen und Möglichkeiten des Projekts). Im „Fazit und Ausblick: [wird] Der Prozess der psychosozialen Begleitung als Möglichkeit und des persönlichen Wachstums“ (3.7, S. 182–183) identifiziert und die Bedeutung von psychosozialer Begleitung als niedrigschwelliges Angebot mit komplexer Dynamik hervorgehoben, der förderlich aber auch risikobehaftet sein kann.

Das dritte (S. 187–188), vierte (S. 235–236) und fünfte Zwischenspiel (S. 267–268) rahmt jeweils wieder ein Kapitel ein. Kapitel 4 (=drittes Zwischenspiel) „The cost of caring – Ambivalenzen mit denen Mitarbeiter*innen der Geflüchtetenhilfe zu kämpfen haben“(S. 189–234) kann als Abhandlung über die Herausforderungen und Problemlagen der in der psychosozialen Begleitungs-Praxis Tätigen verstanden werden: Einerseits werden strukturelle belastende Aspekte aufgegriffen, andererseits Diskurse in der Praxis selbst analysiert. Auch werden die individuellen psychischen Belastungsrisiken erläutert und an Hand von Forschungsergebnissen verdeutlicht. Ausgewählte Beispiele und ein umfangreicher Überblick für den adäquaten Umgang mit diesen Belastungen und Risiken werden in Kapitel 5 (=viertes Zwischenspiel) „Hilfe für Helfer*innen? Umgangsstrategien und Unterstützungsangebote für Mitarbeiter*innen“ (S. 237–264) präsentiert. Kapitel 6 „Abschließende Themen und Gedanken“ (S. 269–305) greift dann offene und aktuelle Thematiken auf, die mitunter Daten zu den psychosozialen Zentren aufbereiten, Herausforderungen in der Realisierung der Beratungen beschreiben und ethische Aspekte auswerfen. Zudem wird aktuellen Themen wie der Corona-Pandemie, Geflüchteten aus der Ukraine und Kindern bzw. Jugendlichen jeweils ein Unterkapitel gewidmet. Abschließend wird der Mythos Europa vom Anfang des Buches wieder aufgegriffen.

In Kapitel 7 werden „Empfehlungen“ (S. 311–343) in Form von „Grundlegende[n] Handlungsempfehlungen zur psychosozialen Begleitung von Geflüchteten“ (7.1, S. 312–318) und als „Handlungsempfehlungen zur helfenden Beziehung zwischen Geflüchteten und Begleitpersonen im Rahmen psychosozialer Hilfe“ (7.2; 318–343) weitergegeben, die sich vor allem aus den Erfahrungen in der Umsetzung des Projektes STEP-BY-STEP s.o. ableiten.

Kapitel 7.1 „Grundlegende Handlungsempfehlungen zur psychosozialen Begleitung von Geflüchteten“ (S. 312–318): Dieser Abschnitt erläutert 9 zentrale Punkte bzw. Empfehlungen, die wie folgt zusammengefasst werden können:

  • Erhöhung des Bekanntheitsgrades der psychosozialen Beratungs-Arbeit und Etablierung in den nationalen und internationalen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs
  • Adäquate Begleitung für Geflüchtete und Supervision und Weiterbildung für ihre Begleitpersonen
  • Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung der Angebote (vgl. S. 313)
  • Konkretisierung von Abläufen der Weitervermittlung und Schließung von Versorgungslücken
  • Doppelte Perspektivität auf Verlust und Trauma sowie Hoffnung, Stärke und Resilienz als Hilferessourcen und Lebensrealitäten
  • Direkte Beziehungsarbeit mit Fokus auf [d]ie beraterische und (psycho-)therapeutische Beziehung (…) [in] der ressourcenorientieren Arbeit mit Geflüchteten (vgl. 315)
  • Adäquate Weiterbildungen für Mitarbeitende unter Einbezug aktueller Fachliteratur (hier: Trauer und Trauma)
  • Investitionen in die Präventionsarbeit mit Geflüchteten
  • Unterstützung von Hoffnung uns Resilienz zur Schaffung von Sicherheiten und Perspektiven

Kapitel 7.2 „Handlungsempfehlungen zur helfenden Beziehung zwischen Geflüchteten und Begleitpersonen im Rahmen psychosozialer Hilfe“ (S. 318–343)

Auch diese Empfehlungen lassen sich in Stichworten erfassen, dieses Mal handelt es sich um 15 Punkte:

  • Integration von Hoffnungsaspekten in die Interventionen der psychosozialen Beratung
  • Vertrauensaufbau als Grundlage für die Annahme von Hilfe, posttraumatische Weiterentwicklung und Begleitung in der Trauerarbeit
  • Spezifische Fähigkeiten im Kontext von Erstaufnahme und Weitervermittlung in andere Unterkunftsformate
  • Psychosoziale Hilfen sind psychosozial orientierte präventive Beratungsangebote zur Ermöglichung prätherapeutischer Interventionen
  • Erwerb von fachlichen Differenzierungskompetenzen in den Dimensionen Trauer, Trauma und hoffnungsorientierte Begleitung
  • Umfangreiche Angebotsstruktur unter Berücksichtigung des Drei-Ebenen-Modells (s.o.)
  • Entgegenwirken auf Hoffnungslosigkeit, Stärkung fragiler Hoffnung und Förderung der Handlungsmacht
  • Beziehungsgestaltung muss als Fundament adäquater psychosozialer Beratung erkannt werden
  • Befähigung zum sicheren Umgang mit Ungewissheit und Ohnmacht in der Beziehungsarbeit
  • Containing bzw. Containment als kreative Umwandlung der Belastungen in der Interaktion von Geflüchteten und Begleitenden
  • Optimierung der ökonomischen Situation und Lebensbedingungen von Mitarbeitenden und Geflüchteten
  • Zeit für Reflexion, Teamgespräche, Intervision und Supervision
  • Vernetzung und Netzwerkarbeit in der Geflüchtetenhilfe
  • Geflüchtetenhilfe geht über Refugee Management hinaus
  • Traumasensibilität in der Arbeit mit Geflüchteten und Realisierung Langzeitstudien
  • Vorbeugung von Burnout
  • Programme mit flucht-spezifischer Ausbildung
  • Adäquate Intervention in der Ankommensphase = optimierte Bedingungen für soziale Entwicklung und Integration

Diskussion

Die Einrahmung des vorliegenden Buches in eine Art Theaterstück, sowie die historisch-einrahmenden Gefüge, aber auch die strategische Platzierung von englischen Begrifflichkeiten in den Überschriften macht es dem Leser bisweilen Mühsam, auf den konkreten Punkt bzw. die Quintessenz eines jeden Abschnitts zu kommen. Die umfangreiche und vielschichte Ausarbeitung von Begrifflichkeiten und theoretischen Hinführungen, sowie die Integration von Perspektiven bzw. Fallvignetten zeigen eine sehr anspruchsvolle Herangehensweise an die komplexe Thematik vor. Dies wird auch durch umfangreiche Forschungsarbeit belegt. Bisweilen birgt das jedoch das Potenzial, sich im Text zu verlieren: Leser*innen sollten sich ausreichend Zeit für die Lektüre nehmen, die sicherlich nicht zum „einfachen Durchlesen“ gedacht ist und eine gewisse Fachlichkeit als Voraussetzung mit sich bringt. Der Aufbau ist jedoch insgesamt als gelungen zu bewerten und das Buch bietet das, was es verspricht.

Die Inhalte aus einer sehr umfangreichen Quellenarbeit, eigenen Gedanken, Projekten und Forschungsprozessen sind sehr positiv zu bewerten. Die zu Beginn aufgeworfenen Fragestellungen werden im Buch insgesamt aufgegriffen und bieten somit umfangreiche und unterschiedliche Antworten an, die mitunter nützlich für den Lesenden sind. Auch wenn die fachliche Komplexität, die beschriebenen Voraussetzungen und die finanziellen, personellen und lokalen Rahmenbedingungen die Adaption in andere Unterstützungsprojekte nicht einfach machen, können dennoch wesentliche Essenzen für laufende Programme oder zu entwickelnde Konzepte übertragen werden. Praktiker*innen, die konkrete Hinweise für ihre Begleitungs- und Beratungsarbeit suchen, müssen genauer hinsehen und sich vor allem dem Kapitel 7 widmen. Dieses ist als absolut hilfreich zu bewerten, denn es bietet den Lesenden konkrete Handlungsempfehlungen an. Diese sind zwar unterschiedlich intensiv ausgestaltet und leiten nicht immer zu ergänzender Literatur weiter, aber sie sind vor allem verständlich, deutlich und umsetzbar.

Fazit

Dieses Werk sollte einen festen Platz im Bücherregal von Personen finden, die ehrenamtlich oder beruflich mit Geflüchteten arbeiten (werden). Die Perspektiven der Geflüchteten und die interdisziplinäre Ausarbeitung dienen dem Verständnis der Notwendigkeit multiprofessioneller Kooperationen in diesem Handlungsfeld.

Rezension von
Simon W. Kolbe
M.A. Soziale Arbeit, Dipl. Soz.-Päd. (FH), Doktorand
Professur für Soziale Arbeit (zunächst als Lehrkraft für besondere Aufgaben), SRH Wilhelm Löhe Hochschule Fürth
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Zitiervorschlag
Simon W. Kolbe. Rezension vom 22.05.2023 zu: Patrick Meurs, Andreas Jensen: Im Dickicht des Ankommens. Einblicke in die psychosoziale Begleitung von Geflüchteten. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2022. ISBN 978-3-8379-3094-8. Reihe: Forschung psychosozial. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30089.php, Datum des Zugriffs 11.06.2023.


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