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Marga Günther, Joachim Heilmann et al. (Hrsg.): Psychoanalytische Pädagogik und Soziale Arbeit

Rezensiert von Dr., Dr. Achim Würker, 02.08.2023

Cover Marga Günther, Joachim Heilmann et al. (Hrsg.): Psychoanalytische Pädagogik und Soziale Arbeit ISBN 978-3-8379-3148-8

Marga Günther, Joachim Heilmann, Anke Kerschgens (Hrsg.): Psychoanalytische Pädagogik und Soziale Arbeit. Verstehensorientierte Beziehungsarbeit als Voraussetzung für professionelles Handeln. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2022. 599 Seiten. ISBN 978-3-8379-3148-8. D: 59,90 EUR, A: 61,60 EUR.
Reihe: Psychoanalytische Pädagogik - Band 55.

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HerausgeberInnen, AutorInnen und Entstehungshintergrund

Die zwei Herausgeberinnen Marga Günther und Anke Kerschgens und der Herausgeber Joachim Heilmann verbindet ihre Mitgliedschaft im Frankfurter Arbeitskreis für Psychoanalytische Pädagogik, alle drei sind Vorstandsmitglieder. Entsprechend rekrutiert sich auch etwa die Hälfte der insgesamt dreiundzwanzig Autor/​innen aus der Mitgliedschaft dieses Vereins: neben dem Herausgeberteam sind dies Urte Finger-Trescher, Manfred Gerspach, Christoph Kleemann, Susanne Kupper-Heilmann, Doris Maas, Joachim Maas, Thilo E. Naumann, Ursula Pfarr. Weitere Beiträge stammen von Lutz Eichler, Karin Flaake, Hans-Walter Gumbinger, Oliver Hechler, Evelyn Heimann, Holger Kirsch, Sylvia Künstler, Bernhard Rauh, Gunzelin Schmid Noerr, Inge und Matthias N. Schubert, Angelika Schwab sowie Gisela Wiegand. Sowohl im Einleitungskapitel des Herausgeberteams als auch in einer Art Anhang unter dem Titel „Psychoanalytische Pädagogik und Soziale Arbeit in Fort- und Weiterbildung“ wird die Arbeit des Frankfurter Arbeitskreises gewürdigt. Erste Vorarbeiten des Bandes – so wird angemerkt – begannen bereits 2015 auf Initiative von Annelinde Eggert-Schmid Noerr und Heinz Krebs.

Aufbau und Inhalt 

Unter dem Motto „Wer nichts versteht, kann nichts verändern“ verdeutlicht das Herausgeberteam den Anspruch des Sammelbandes. Die Textsammlung zielt auf die „Aktualität psychoanalytischen Verstehens in Psychoanalytischer Pädagogik und Sozialer Arbeit“ (S. 9). Sie soll Fachkräfte dazu ermutigen, „sich Freiräume des Nachdenkens und Reflektierens“ zu eröffnen. Hierzu wird der „Hintergrund psychoanalytischer Methoden“ beleuchtet und werden „Grundkonzepte und […] Beispiele aus verschiedenen Praxiskonzepten“ (S. 9 f.) vorgestellt. Grundlage bildet „die Auseinandersetzung mit dem Unbewussten“ sowie die Annahme „einer grundlegenden Spannung zwischen zwei rivalisierenden Sinnebenen: den bewussten und den unbewussten Lebensentwürfen“ (S. 10).

Der Inhalt der vom Herausgeberteam auch als „Handbuch“ bezeichneten Aufsatzsammlung ist in fünf Hauptabschnitte mit folgenden inhaltlichen Schwerpunkten gegliedert:

  1. Unter der Überschrift „Entwicklungslinien und theoretische Konzepte der Psychoanalytischen Pädagogik und Sozialer Arbeit“, stellt Manfred Gerspach überblicksartig Bedeutung und Geschichte der Psychoanalytischen Pädagogik dar, erläutert Oliver Hechler den Erziehungsbegriff als zentrale pädagogische Kategorie und erörtert Gunzelin Schmid Noerr die besonderen Herausforderungen für eine Politische Bildung.
  2. Unter dem Titel: „Grundlegende Konzepte der Psychoanalytischen Pädagogik und deren Anwendung“ erfolgen zunächst Begriffsklärungen zum „Unbewussten“ und zu „Übertragung und Gegenübertragung“ (Holger Kirsch), zu „Intrapsychischer Abwehr“ sowie zu „intrapersonaler, familiärer und institutionalisierter Abwehr“ (Lutz Eichler). Es schließen sich methodenorientierte Beiträge über „Szenisches Verstehen“ (Bernhard Rauh), „Psychoanalytische Beziehungsarbeit“ (Hans-Walter Gumbinger) und „Gruppenanalytische Pädagogik“ (Thilo Naumann) an. Den Schluss des Abschnitts bilden zwei Aufsätze von Karin Flaake über „Sexualität“ und „Körper“.
  3. „Analytische Entwicklungstheorie und ihre Bedeutung für den pädagogischen Dialog“ ist die Überschrift des dritten Hauptabschnitts, in dem es um „Behinderung und Trennung“ (Gisela Wiegand), „Elternschaft und Entwicklung“ (Anke Kerschgens) und „Adoleszenz, Generationenverhältnisse und pädagogisches Handeln“ (Marga Günther) geht.
  4. Am umfangreichsten ist der Abschnitt mit dem Titel „Psychoanalytische Pädagogik und Soziale Arbeit in spezifischen Arbeitsfeldern“. Berücksichtigt werden die „Frühförderung“ (Doris Maas), die „Begleitende Erziehungshilfe in der Schule“ (Christoph Kleemann), „Psychoanalytische Beratung in Feldern der Pädagogik und Sozialen Arbeit“ (Urte Finger-Trescher), „Familienhilfe“ im Zusammenhang mit den Leistungen des Jugendamtes (Angelika Schwab), „Kinder- und Jugendhilfe“ im Zusammenhang mit psychoanalytischem Fallverstehen (Inge und Matthias N. Schubert), „Pädagogisch-therapeutische Arbeit […] am Beispiel von Autismus“ (Joachim Heilmann), Bedeutung der Diagnose von geistiger Behinderung (Ursula Pfarr), Heilpädagogisches Reiten (Susanne Kupper-Heilmann), „Das Psychoanalytische in der Sozialen Arbeit“ (Sylvia Künstler) sowie Demenz (Evelyn Heinemann).

Diskussion

Der Sammelband beeindruckt durch die Vielfalt der Themenschwerpunkte und die Differenziertheit, mit der Überblicke über den jeweiligen Diskussionsstand gegeben werden. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang zum Beispiel Manfred Gerspachs Darstellung sowohl der psychoanalytisch-pädagogischen Diskurstradition, besonders des Engagements von Alois Leber und Hans-Georg Trescher als auch der Problematik aktueller (sonder-)pädagogischer Diskurse. Erkennbar ist eine unterschiedliche Gestaltung der Beiträge: Da finden sich einerseits Texte wie der von Marga Günther über „Adoleszenz, Generationenverhältnisse und pädagogisches Handeln“, der auf 13 Seiten ein sehr komprimiertes und dichtes Diskursreferat präsentiert, dem ein fünfseitiges Literaturverzeichnis folgt. In anderen Aufsätzen wiederum besticht die Balance zwischen einer großen Differenziertheit der Problem- und Diskursdarstellung und einem hohen Grad an Anschaulichkeit, so die beiden Beiträge von Lutz Eichler über psychische Abwehr. Wie er machen viele der Autor/​innen durch Einbezug von Fallvignetten anschaulich, was abstrakt ausgeführt wird. So stellt Gunzelin Schmidt Noerr seinen Überlegungen zur Politischen Bildung eine Szenenfolge aus der Schule voran, in der deutlich wird, wie das Bestreben, sich als Schüler normgerecht zu verhalten, irritierend abweicht vom Verhalten außerhalb der offiziellen Kontrolle durch Lehrkräfte (S. 111 f.).

In der in vielen Aufsätzen artikulierten Wertschätzung des Szenischen spiegelt sich die theoretisch-methodische Bezugnahme auf Lorenzers Konzept des „Szenischen Verstehens“ sowie auf dessen Rezeption bei Hans-Georg Trescher, was die Aufmerksamkeit auf den diesem Konzept eigens gewidmeten Beitrag von Bernard Rauh lenkt. In seiner Darstellung fallen einige Verkürzungen und Missverständlichkeiten im Hinblick auf den hermeneutischen Charakter des Verfahrens auf. So vernachlässigt er die immer erneute Rückbindung an das zu verstehende Material als ausschlaggebendes Moment für Horizonterweiterung und Kontrolle bzw. Absicherung des Verstandenen und legt damit das Missverständnis nahe, wichtiger sei zum Beispiel eine Ausweitung des Bezugsmaterials, so die „Zuhilfenahme von Beobachtungen, anamnestischen Daten und theoretischen Konzepten“ (S. 214). Auch mit der Kennzeichnung „als hypothesengenerierendes Verfahren“ (ebd.) weckt er die Assoziation eines objektiv abzusichernden Verfahrens, in dem Hypothesen verifiziert oder validiert werden könnten. Lorenzer betont ausdrücklich, psychoanalytische Erkenntnis „nie deduktiv-subsumierend, „hypothesenvalidierend“ von der Theorie aus (Vgl. Lorenzer 2006, S. 63). Der unmittelbare Blick auf Zusatzinformationen und Theorien, den Rauh nahelegt, blockiert den Erkenntnisprozess eher. Rauh verweist an anderer Stelle (S. 218) durchaus auf Freuds Erläuterungen zur gleichschwebenden Aufmerksamkeit − die dieser mit der Forderung nach Theorieabstinenz im Verstehensprozess verknüpft −, aber er thematisiert nicht die Spannung zwischen einer Reflexion der eigenen Verstrickung und der propagierten Bezugnahme auf sachliche Informationsquellen. Lorenzer spricht denn auch sinnvoller Weise nicht von Hypothesengenerierung, sondern von „lebenspraktischen Vorannahmen“, die der Verstehende probehalber einsetzt und sich irritieren lässt, wenn sie sich als untauglich erweisen, bzw. von Annäherungsprozessen der eigenen Entwürfe an die im Text enthaltenen Vorstellungen (Vgl. z.B. Lorenzer 1986, S. 62, 2013 zus. mit Würker, S. 201 ff.). Der von Rauh präsentierte „Leitfaden“ (vgl. S. 225) weist − abgesehen von der grundsätzlichen Problematik vereinfachender Handreichungen – eine Lücke auf, die ebenfalls im Zusammenhang mit der Auffassung von Hermeneutik steht: Es fehlt der Hinweis auf die zentrale Bedeutung der immer erneuten Rückkehr zu den Details des szenischen Materials, weil nur sie eine Ausdifferenzierung und Absicherung des Verstehensprozesses gewährleistet. Weder die Hinzunahme objektiven Informationsmaterials noch ein Theorieabgleich und auch nicht der unmittelbare Verweis auf Aussagen von Teilnehmer/​innen einer Interpretationsgruppe kann diese Funktion übernehmen.

Überzeugender stellt Christoph Kleemann in seinem Beitrag über „Begleitende Erziehungshilfe“ unter Bezugnahme auf Müller et al, Muck und vor allem Figdor die hermeneutische Qualität psychoanalytisch-pädagogischer Verstehensprozesse im Sinne Szenischen Verstehens dar (S. 385 ff.). Er betont ausdrücklich die Spiralförmigkeit des Verstehensprozesses (vgl. S. 395), dessen Ergebnisse immer nur vorläufig sein können. Auch wenn er ebenfalls von Hypothesen anstelle von Vorannahmen spricht, so räumt er explizit das Missverständnis aus, es könne eine ein für alle Mal gesicherte Validierung geben. Aus der betonten Vorsicht bezüglich des Verstehens und der Warnung vor „wildem Deuten“ (S. 395) leitet er schlüssig die Notwendigkeit eines sicheren Ortes der Auseinandersetzung ab, an dem ein „exzentrischer Betrachtungsstandpunkt“ (Müller et.al., zitiert S. 395) einbezogen werden kann. Auch wenn Kleemann in diesem Zusammenhang Gudrun Merz mit der Formulierung zitiert, es handele sich dabei um einen Beobachter, „der emotional nicht in die in die Problematik verstrickt ist“ (Merz, zitiert auf S. 399), so macht er im Folgenden doch deutlich, dass es keine Außenposition geben kann, bei der Verstehen nicht ebenfalls über die Reflektion eines Verstrickt-seins gewonnen wird. Der Anspruch des Szenischen Verstehens gilt, das macht Kleemann deutlich (S. 400 ff.), insofern auch für die – ebenfalls von Rauh geforderte − triangulierende Position.

Fazit

Zusammenfassend: Der Sammelband ermöglicht einen Einblick in die Theorie und Praxis zahlreicher Teilgebiete der Sozialen Arbeit, auch solcher, die üblicher Weise nicht so sehr im Fokus von Auseinandersetzungen stehen, z.B. der Umgang mit Demenz (Heinemann) oder die Möglichkeiten der Therapie mit Pferden (Kupper-Heilmann). Dieser Einblick wird intensiviert durch die Einbeziehung von Fallmaterial, das immer wieder zu eigenen Assoziationen und Verknüpfungen mit erlebten Szenen anregt. Auf diese Weise ermöglicht die Lektüre nicht nur eine kognitive Bereicherung, sondern regt auch die eigene Erfahrung und Selbstreflexion an und so realisiert sich, was das Herausgeberteam am Anfang als Anspruch formuliert: nämlich Fachkräfte zu ermutigen, sich Freiräume des Nachdenkens und Reflektierens zu eröffnen.

Literatur

Lorenzer, Alfred (1986): Tiefenhermeneutische Kulturanalyse. In: König, H.-D., Lorenzer, A., Lüdde, H., Nagbøl, S. u.a. (Hrsg.): Kultur-Analysen, Frankfurt a.M.: Fischer, 11–98

Lorenzer, Alfred, Würker, Achim (2013): Tiefenhermeneutische Literaturinterpretation. In: Reinke, E. (Hrsg.): Alfred Lorenzer. Zur Aktualität seines interdisziplinären Ansatzes, Gießen: Psycho-sozial-Verlag, 185–210

Lorenzer, Alfred (2006): Der Analytiker als Detektiv, der Detektiv. In: Ders.: Szenisches Verstehen. Zur Erkenntnis des Unbewußten. Marburg: Tectum. S. 53- 67

Rezension von
Dr., Dr. Achim Würker
Promotionen in Sozialwissenschaft und in Pädagogik, Mitglied der Kommission psychoanalytische Pädagogik der DGfE und der Interdisziplinären Studiengesellschaft
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Es gibt 3 Rezensionen von Achim Würker.

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Zitiervorschlag
Achim Würker. Rezension vom 02.08.2023 zu: Marga Günther, Joachim Heilmann, Anke Kerschgens (Hrsg.): Psychoanalytische Pädagogik und Soziale Arbeit. Verstehensorientierte Beziehungsarbeit als Voraussetzung für professionelles Handeln. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2022. ISBN 978-3-8379-3148-8. Reihe: Psychoanalytische Pädagogik - Band 55. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30095.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.


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