Beate Kriechel: Missbrauchtes Vertrauen
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 13.07.2023
Beate Kriechel: Missbrauchtes Vertrauen. Wie sich sexualisierte Gewalt in der Kindheit auf Angehörige auswirkt. Mabuse-Verlag GmbH (Frankfurt am Main) 2023. 160 Seiten. ISBN 978-3-86321-611-5. D: 16,65 EUR, A: 17,20 EUR, CH: 21,90 sFr.
Thema
Beate Kriechel beschäftigt sich in ihrem zweiten Buch zu den Folgen sexuellen Missbrauchs (Rezension zu „Für immer traumatisiert? Leben nach sexuellem Missbrauch in der Kindheit“ unter https://www.socialnet.de/rezensionen/​25865.php) mit den Auswirkungen sexueller Gewalt im sozialen Umfeld der Betroffenen. „Sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend hat nicht nur weitreichende Folgen für die Betroffenen, sondern wirkt sich auch spätestens nach der Offenlegung auf das Leben von Eltern, Geschwistern und anderen Bezugspersonen aus“ (Umschlagtext). Die Autorin hat zur Untersuchung dieser Thematik mit Eltern, Geschwistern, Partner:innen und weiteren Angehörigen von Betroffenen gesprochen und zusammengestellt, mit welchen Gedanken und Gefühlen sich diese Angehörigen konfrontiert sahen und wie es ihnen gelungen ist, der oder dem Betroffenen Hilfe und Unterstützung zu ermöglichen und die eigene Belastung zu verarbeiten.
Autorin
Beate Kriechel ist selbst betroffen von sexueller Gewalt und mehrjährig als Autorin und in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit tätig.
Aufbau und Inhalt
Das Buch enthält eine mit sechs Seiten kurze Einleitung mit Hinführung an das Thema und fünf Kapitel, in denen Eltern, Geschwister, Kinder, Partner:innen und Freundinnen von Betroffenen über ihre Erfahrungen im Umgang mit der sexuellen Gewalterfahrung ihres Angehörigen, bzw. ihrer Freundin berichten.
Die Berichte der Angehörigen enthalten großteils sehr detaillierte Darstellungen zu Familienkonstellationen, dem Missbrauchsgeschehen, zur Entwicklung der Betroffenen nach der Gewalterfahrung, den Veränderungen im sozialen Gefüge und den aufkommenden Gefühlen und psycho-sozialen Problemen der Angehörigen: Wut, Scham, Unsicherheit, Verlassen sein und Einsamkeit, Angst und Hoffnungslosigkeit, teilweise schlechtes Gewissen bis hin zu tiefergehenden psychischen Problemen, etwa nach Suizidhandlungen von Angehörigen, welche mit den erfolgten sexuellen Gewalthandlungen in Verbindung gebracht wurden. Deutlich wird, dass die in den Taten liegenden Schädigungsanteile mit der Zeit auf das soziale System übergreifen, dieses belasten und -auch dauerhaft- negativ beeinflussen können. Andererseits berichten Eltern und Geschwister über ihre Bewältigungsstrategien in Therapie oder durch ehrenamtliches Engagement über Wege der Verarbeitung und des persönlichen Wachstums. Eindringlich sind die Schilderungen bei der Konfrontation bei Aufdeckung des Missbrauchsgeschehens, im Umgang mit den psychischen Krisen der Opfer sexueller Gewalthaltungen oder die Erfahrungen mit dem öffentlichen Gesundheits- und Hilfssystem, die Suche nach Fachexpert:innen und der Austausch mit anderen Angehörigen. Teilweise lassen sich bei der Lektüre auch Erkenntnisse zum familiären oder weiteren sozialen Umfeld erschließen, in dem die referierten Gewalthandlungen stattgefunden haben und die Teil der Lebenswelt der Interviewten waren. Durch die unterschiedlichen Perspektiven der Berichterstatter:innen (Eltern, Geschwister, Partner:innen etc.) ergeben sich Einblicke in unterschiedliche Konflikt- und Belastungsszenarien, wodurch ein umfangreiches Bild von der psychosozialen Realität der Angehörigen gezeichnet wird.
Zielgruppe des Buches
Alle, die sich auf privaten oder beruflichen Gründen mit der Situation der Angehörigen von Opfern sexueller Gewalt beschäftigen wollen, bzw. müssen.
Diskussion
Die von Beate Kriechel gesammelten Interviews geben einen tiefen Einblick in die Thematik, und präsentieren ausführliche Psycho- und Soziogramme rund um sexuelle Gewalthandlungen und deren Verarbeitung in verschiedenen Stadien. Beate Kriechel verzichtet auf jegliche Analyse und Interpretation der Fallgeschichten, die sie im Rahmen ihrer Recherche erhoben hat, was aus mehreren Gründen schade ist: zum einen überlässt sie es ihren Leser:innen diese Analyse vorzunehmen, oder anders ausgedrückt, sie lässt sie mit der Analyse der Berichte alleine. Zum anderen haben es die Fallerzählungen, die im sozialwissenschaftlichen Sinne Daten sind, verdient fachlich analysiert und strukturiert zu werden. Dieser Schritt könnte, oder besser: sollte in einer weiteren systematischen Auseinandersetzung mit dem Datenmaterial, am besten in Auswertung der direkten Interviewtranskripte erfolgen und gesondert publiziert werden.
Unabhängig davon zeigt das Buch, dass sexuelle Gewalt neben den direkten Auswirkungen auf die unmittelbar Betroffenen tief in das soziale Netz der Gewaltopfer ausstrahlt und ein umfassendes Schädigungspotenzial entwickeln kann. Das Projekt selbst und die Bereitschaft der Menschen derartiges zu berichten, zeigen den Mut, die erneute Begegnung mit dem Thema, aber auch die Veröffentlichung der privaten Geschichten zu realisieren. Das ist beispielhaft und wird anderen von sexueller Gewalt betroffenen Menschen helfen, die eigene Geschichte zu bewältigen.
Fazit
Ein wichtiges Buch, das zeigt, wie tief sexuelle Gewalt auf der Ebene der direkt Betroffenen, aber auch deren Angehörigen wirken kann, welches Schädigungspotenzial sexuelle Gewalt besitzt. Ein Buch, das psychosoziale Zusammenhänge aufzeigt und ganz unterschiedliche Verarbeitungserfahrungen und Bewältigungsformen präsentiert und damit auch Mut macht. Beate Kriechel ist zu danken, dass sie die Perspektive der Angehörigen von Opfern sexueller Gewalt der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat.
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Es gibt 177 Rezensionen von Gernot Hahn.
Zitiervorschlag
Gernot Hahn. Rezension vom 13.07.2023 zu:
Beate Kriechel: Missbrauchtes Vertrauen. Wie sich sexualisierte Gewalt in der Kindheit auf Angehörige auswirkt. Mabuse-Verlag GmbH
(Frankfurt am Main) 2023.
ISBN 978-3-86321-611-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30098.php, Datum des Zugriffs 09.11.2024.
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