Elisabeth Grünberger, Jakob Eichinger (Hrsg.): Psychosoziale Betreuung und Psychotherapie in der Gerontologie
Rezensiert von Prof. Dr. Stefan Pohlmann, 26.05.2023

Elisabeth Grünberger, Jakob Eichinger (Hrsg.): Psychosoziale Betreuung und Psychotherapie in der Gerontologie. Praktische Fallbeispiele und theoretischer Hintergrund.
Mabuse-Verlag GmbH
(Frankfurt am Main) 2023.
374 Seiten.
ISBN 978-3-86321-634-4.
D: 50,00 EUR,
A: 51,40 EUR,
CH: 48,41 sFr.
Reihe: Mabuse-Verlag Wissenschaft - 130.
Thema
Um die Bereiche der psychosozialen Betreuung und Beratung auf der einen und der Psychotherapie auf der anderen Seite ranken sich trotz der unwidersprochenen inhaltlichen Überschneidungen seit vielen Jahren massive Abgrenzungsversuche und Kompetenzstreitigkeiten. Diese sind den sehr unterschiedlich gearteten rechtlichen Verankerungen im deutschsprachigen Bereich geschuldet.
Zudem unterliegen sie diversen standespolitische Interessen, Schulen und Sozialisationen in den beteiligten Professionen und Disziplinen (vgl. Maercker, 2015; Nestmann et al., 2007; Pantel et al. 2021; Pohlmann. 2013). In dem hier vorliegenden Sammelband spielt diese Differenzierung indes keine Rolle.
Der Schwerpunkt liegt auf Darstellungen einer gerontologisch fundierten psychosozialen Begleitung älterer Menschen mit unterschiedlichen Unterstützungsbedarfen im stationären Setting von Pflegeeinrichtungen. Abgrenzungen zur Gerontopsychotherapie finden nicht statt. Die Beiträge konzentrieren sich auf die Situation stationärer Alteneinrichtungen in Wien und Niederösterreich. Dabei handelt es sich um eine Sammlung von insgesamt zwölf Berichten, die nach Angabe des Herausgeberteams als Praktikumsergebnisse im Zuge einer Qualifikation in der Lebens- und Sozialberatung älterer Menschen entstanden sind.
Herausgeber:in
Elisabeth Grünberger und Jakob Eichinger bilden einen Teil des Leitungsteams einer privaten Ausbildungseinrichtung mit dem Namen agenetwork psychosoziale Betreuung GmbH. Diese ist seit mehreren Jahren mit Sitz in Wampersdorf in Niederösterreich tätig. Zu ihren Aufgaben gehört die Zusammenarbeit mit klinisch-gerontopsychosozialen Praktikumsstellen, die von Seiten des dort zuständigen Bundesministeriums für Gesundheit als genehmigte Einrichtungen bei einschlägigen Fort- und Weiterbildungen den erforderlichen Anwendungsbezug erlauben.
Der genaue berufliche Hintergrund des Herausgeberduos ist dem Klappentext nicht zu entnehmen. Zusätzlich hat sich dort offenbar ein Schreibfehler eingeschlichen, der Herrn Eichinger im Vergleich zur Onlineinformation des Verlags um gleich 38 Jahre älter erscheinen lässt.
Entstehungshintergrund
Formal und inhaltlich bestehen in Deutschland, der Schweiz und Österreich Unterschiede in den Ausbildungsprogrammen und rechtlichen Zulassungsverordnungen für eine psychotherapeutische Arbeit. Bindende oder gar übergreifende Vorgaben für eine psychosoziale Betreuung und Beratung älterer Menschen existieren indes nicht.
Bei der vorliegenden Publikation handelt es sich um eine Sammlung von Praktikumsarbeiten, die im Zuge einer Qualifizierung zu gerontopsychosozialen Betreuungskräfte in Österreich einen festen Bestandteil der Ausbildung in Zusammenarbeit mit der Agentur agenetwork ausmachen. Eine psychotherapeutische Behandlung älterer Menschen steht in den vorgestellten Fallbeispielen nicht im Vordergrund. Stattdessen geht es um fallbezogene psychosoziale Betreuungsleistungen für ältere Menschen innerhalb von Pflegeeinrichtungen.
Aufbau und Inhalt
Die Publikation umfasst insgesamt 374 Seiten und ist im Mabuse-Verlag erschienen, der Fachkräfte im Gesundheitswesen aus unterschiedlichen Berufsgruppen adressiert. Der Sammelband beginnt mit einem kurzen Vor- und Geleitwort von Gerald Gatterer, der als Supervisor der nachfolgend vorgestellten Praktikumsstellen und Auszubildenen fungiert. Es folgt eine vierseitige Einleitung von Elisabeth Grünberger und Jakob Eichinger, in der über das Ausbildungsinstitut und das damit einhergehende Betreuungskonzept informiert wird. Daran schließen sich dann zwölf Kapitel an, die offenbar als Abschlussberichte in den oben beschriebenen Praktika dienen. Sie folgen weitgehend der gleichen Struktur und enthalten jeweils einen theoretischen Impuls, eine ausführliche Fallbeschreibung und einen Reflexionsblock. Jedes Kapitel schließt zudem mit einem Literaturverzeichnis. Etliche der Autor:innen sind zugleich auch Teammitglieder in der oben genannten Ausbildungsstätte.
Den Anfang macht Elisabeth Moser-Melan. Sie fokussiert auf die „fragile Identität im Alter“ und rekurriert hierzu auf den Betreuungsprozess einer 90-jährigen Frau auf der Grundlage der integrativen Therapie von Hilarion Petzold. Das zweite Kapitel stammt von Andreas Steuer und setzt sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen Autonomiebedürfnis und körperlichen Veränderungen im Alter auseinander. Elisabeth Ferstl nimmt im dritten Kapitel die Falldarstellung einer Patientin außerhalb des geriatrischen Settings vor. Stefan Haderer beschreibt im Anschluss daran die Verbindung zwischen moderner Medizin und Selbstbestimmung als sinnstiftende Ressourcen im Prozess des Sterbens. Im fünften Kapitel grenzt Christian Wagner Demenz und Depression innerhalb der gerontopsychosozialen Betreuung voneinander ab.
Es folgt auf der Basis einer systemischen Beratung die Auseinandersetzung von Ingo N. Berger mit der psychischen Stabilisierung und Motivation als Mittel zur Stärkung der Resilienz trotz depressiver Verstimmungen. Ihre Erfahrungen aus der gerontopsychosozialen Betreuung skizziert Jolana Rixinger-Jehlicka in Bezug auf die frauenorientierte Altenarbeit. Dazu geht sie auf die körperliche und sexualisierte Gewalt in der Biografie alter Frauen ein.
Carmen Operschall-Reiter stellt im achten Kapitel Überlegungen zum Wahn im Alter als Folge einer Traumatisierung an. Jakob Eichinger – zugleich Herausgeber – hinterfragt am Beispiel von Narzissmus, wie spezifische Persönlichkeitsmerkmale den Umgang mit einer neurodegenerativen Erkrankung im Sinne eines Bewältigungsmechanismus begleiten.
Lamija Muzurović konzentriert sich im zehnten Kapitel auf das Phänomen der Gegenübertragung am Beispiel der Betreuung einer sprachbeeinträchtigten, fremdsprachigen älteren Person mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung. Im elften und zwölften Kapitel legen sowohl Thomas Schmäl als auch Andreas Gorbach den Akzent auf die angewandte Logotherapie. Letzterer adressiert insbesondere die Haltung der beteiligten Berater:innen zur unbedingten Aufrechterhaltung der Würde desorientierter alter Menschen.
Den Abschluss der Publikation bildet ein namentlich nicht zugeordnetes Resümee, das vermutlich vom Herausgeberteam verfasst wurde und eine gesonderte Danksagung umfasst. In diesem Abschnitt werden auch die beteiligten Praxisstellen genannt. Dabei handelt es sich um das Sanatorium Maimondezentrum und eine nicht weiter aufgeschlüsselte Zahl von niederösterreichischen Pflege- und Betreuungszentren.
Diskussion
Die psychosoziale Betreuung von alten Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen und Unterstützungsbedarfen stellt gerade im Kontext einer Unterbringung in Pflegeeinrichtungen ein fraglos zentrales Thema dar. Die bekannten Herausforderungen in der Versorgung beziehen sich in anderen Darstellungen nur allzu oft allein auf die pflegerische Versorgung. Die Aufrechterhaltung der Lebensqualität, die Prävention von vermeidbaren Eskalationen, die Unterstützung der Angehörigenarbeit und die passgenaue biospsychosoziale Begleitung und Beratung von Bewohner:innen sowie die Bereitstellung bedarfsorientierter psychotherapeutischer Angebote definieren in unserer alt gewordenen Gesellschaft wichtige und oftmals vernachlässigte Themenfelder. Insofern setzt die hier vorliegende Veröffentlichung vor allem angesichts einer schleichenden Rationierung von Hilfeleistungen ein wichtiges Signal für eine ohnehin stark vernachlässigte Gruppe.
Die Fallbeispiele geben sehr anschaulich und teilweise berührend die Situation alter Menschen in der institutionellen Betreuung wieder und zeigen zugleich die Handlungsspielräume und Anforderungen auf, die durch eine fundierte Begleitung zu berücksichtigen sind. Gleichzeitig heben sie das Engagement der beteiligten Kapitelautor:innen deutlich hervor. Sie alle verfügen zum Zeitpunkt der Publikation über ein nicht weiter ausgeführtes Zertifikat bzw. einen Abschluss in der „GPS-Beratung“. Ob es sich hier um eine rechtlich geschützte Bezeichnung handelt, ist der Veröffentlichung nicht zu entnehmen. In diesem Zusammenhang weist die Homepage des Ausbildungsanbieters auf eben diese Zusatzqualifikation hin. Dort ist ein Lehrgang für Lebens- und Sozialberatung angeführt, der mit dem Zeugnis als gerontopsychosoziale Beraterin oder gerontopsychosozialer Berater abschließt. Für den Erwerb ist der Nachweis von praktischer Tätigkeit im Ausmaß von 240 Stunden in den letzten drei Jahren notwendig. Entsprechend irreführend erscheint vor diesem Hintergrund der Titel des Sammelbands. Eine gerontologisch fundierte Psychotherapie spielt nur am Rande eine Rolle und ist – anders als zu erwarten wäre – deutlich unterrepräsentiert. Vielmehr geht es, wie auch im Vorwort der Publikation beschrieben, um einen „Baustein“ in der stationären Altenbetreuung mit einem klaren Schwerpunkt auf die psychosozialen Betreuungsaspekte. Auch wenn die zugrundeliegende Zertifizierung auf dem Weg zu einer psychotherapeutischen Ausbildung von Nutzen sein kann, ist sie bei den hier vorgestellten Darstellungen nachrangig.
Legt man die Angaben zu den beteiligten Autor:innen zugrunde, sind diese Berichte über einen Zeitraum von August 2015 bis Januar 2022 erstellt worden. Damit umfasst auch die Entstehungsgeschichte des Sammelbands sieben Jahre. Die aufgeführten Kapitel unterscheiden sich angesichts der abweichenden Abfassungsdaten hinsichtlich ihrer Aktualität. Sie erwecken nicht den Eindruck einer Nachbereitung für die Aufnahme im Sammelband. Zudem haben sich in dieser Zeit augenscheinlich die Qualifikationen einiger Verfasser:innen verändert. Einige weisen auf eine abgeschlossene psychotherapeutische Ausbildung hin. Andere befinden sich noch in Ausbildung. Zu einer dritten Gruppe liegen keine diesbezüglichen Angaben im Bereich psychotherapeutischer Qualifikationen vor.
Die gelisteten therapeutischen Schulen im Verzeichnis der Autor:innen nehmen ein sehr breites Spektrum ein und reichen von der Verhaltenstherapie über die Existenzanalyse, Logotherapie und Individualpsychologie bis hin zu tiefenpsychologisch-analytischen bzw. psychoanalytisch orientierten sowie personenzentrierten Ansätzen. Eine klare Differenzierung, Abgrenzung oder Verbindung zwischen diesen Vorgehensweisen wird weder in den Kapiteln und auch nicht im Resümee vorgenommen.
Wenig überzeugend und eher kursorisch erscheinen die theoretischen Anteile in den einzelnen Abhandlungen. Zumindest einige der Beiträge genügen akademischen Anforderungen in weiten Teilen nicht. Die Quellenarbeit ist teilweise unzureichend und inkonsistent. Belege dafür sind Abweichungen in den Jahreszahlen zwischen Fließtext und Literaturverzeichnis, gänzlich fehlende Angaben im Literaturverzeichnis sowie eine sehr begrenzte Referenzauswahl. Ferner fehlen in der Gliederungsübersicht die Namen der Autor:innen. Diese sind aber zumindest jedem Kapitel vorangestellt und machen damit die Urheberschaft im Textverlauf klar.
In dem verglichen mit dem Gesamtumfang recht kurz geratenen Resümee und Ausblick fehlt eine Synopse, die eine Verbindung zwischen den einzelnen Beiträgen herstellt und auch eine übergeordnete Einordnung vornimmt. Praktische, bildungspolitische oder auch forschungsstrategische Implikationen werden nicht abgeleitet. Damit stehen Impulse aus, die sich eine Leser:innenschaft an dieser Stelle wünschen würde.
Es ist verdienstvoll, wenn eine Ausbildungseinrichtung den beteiligten Absolvent:innen die Möglichkeit bieten will, die entstandenen Arbeiten nicht nur für das anstehende Zertifikat, sondern auch darüber hinaus nutzbar zu machen. Allerdings braucht es für eine Veröffentlichung dieser Art dann auch eine stärkere Auf- und Überarbeitung für einen größeren Kreis von Adressat:innen. Leider entsteht der Eindruck, dass die Praktikumsberichte eher als freie und unzusammenhängende Sammlung aufgeführt wurden, ohne dass die Herausgeberin und der Herausgeber weiterführende und übergreifende Informationen bereitstellen. Insofern wirkt die Zusammenstellung insgesamt wie eine interne Dokumentation des herausgebenden Ausbildungsinstituts ohne redaktionelle Anpassung.
Fazit
Wer die Situation hochaltriger Menschen in einem Pflegeheim besser verstehen will und nach möglichen Vorgehensweisen der psychosozialen Begleitung sucht, ist für die in diesem Band dargestellten Fallbeispiele sicher dankbar. Wer indessen grundlegende theoretische Denkanstöße und solide Beschreibungen psychotherapeutischer Vorgehensweisen benötigt, wird in diesem Sammelband weniger fündig werden. Gleichwohl wird mit den Beiträgen die Notwendigkeit eines stärkeren Theorie-Praxis-Transfers in besonderer Weise unterstrichen. Dieses Anliegen bleibt für alle Interessierten eine gemeinsame Vision.
Literatur
Maercker, Andreas (Hrsg.) (2015). Alterspsychotherapie und klinische Gerontopsychologie. Berlin: Springer.
Nestmann, Frank, Engel, Frank & Sickendiek, Ursel (Hrsg.) (2007). Das Handbuch der Beratung. Band 1: Disziplinen und Zugänge; Band 2: Ansätze, Methoden und Felder. Tübingen: DGVT-Verlag.
Pantel, Johannes, Bollheimer, Cornelius, Kruse, Andreas, Schröder, Johannes, Sieber, Cornel & Tesky, Valentina (Hrsg.) (2021). Praxishandbuch Altersmedizin. Geriatrie – Gerontopsychiatrie – Gerontologie. Stuttgart: Kohlhammer.
Pohlmann, Stefan (Hrsg.) (2013). Gut beraten. Forschungsbeiträge für eine alternde Gesellschaft. Wiesbaden: Springer VS.
Rezension von
Prof. Dr. Stefan Pohlmann
Professor für Gerontologie an der Hochschule München (HM); Dekan der Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften; Wissenschaftlicher Leiter des HM-Forschungsinstituts Soziales, Gesundheit und Bildung
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