Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Karin Kersting: "Coolout" in der Pflege

Rezensiert von Alexandra Günther, 12.04.2023

Cover Karin Kersting: "Coolout" in der Pflege ISBN 978-3-940529-99-2

Karin Kersting: "Coolout" in der Pflege. Eine Studie zur moralischen Desensibilisierung. Mabuse-Verlag GmbH (Frankfurt am Main) 2022. 6. Auflage. 322 Seiten. ISBN 978-3-940529-99-2. 39,95 EUR.
Reihe: Mabuse-Verlag Wissenschaft - 114.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Kaufen beim socialnet Buchversand
Kaufen beim Verlag

Thema

Der Arbeitsalltag in der Pflege bringt moralische Konflikte mit sich. Pflegekräfte müssen mit dem Widerspruch zwischen patientenorientierter Pflege und den Arbeitsbedingungen mit Kollegenausfall, Unterbrechungen oder ökonomischen Zwängen umgehen. Die Studie untersucht das Phänomen Coolout von Pflegekräften. Die moralische Desensibilisierung ist Anpassung und Handlungsmöglichkeit zugleich.

Autorin

Prof. Dr. Karin Kersting arbeitet am Fachbereich Sozial- und Gesundheitswesen der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft in Ludwigshafen. Ihre Lehrgebiete sind Pflegewissenschaft und Pflegepädagogik mit dem Forschungsschwerpunkt u.a. Coolout in der Pflege.

Hintergrund

Die Autorin führte 1995 bis 2000 die Coolout-Studie mit Pflegeauszubildenden im Krankenhaus durch. Diese wurde 2003 Inhalt der Studiengänge Pflegepädagogik und Pflegemanagement. Seit 2007 ist die Studienreihe zum Coolout-Phänomen einer der Forschungsschwerpunkte im Fachbereich Sozial- und Gesundheitswesen der Hochschule Ludwigshafen am Rhein.

Aufbau

Das Fachbuch ist folgendermaßen aufgebaut:

  1. Sollen und Sein in der Pflege
  2. „Bürgerliche Kälte“ und Krankenpflege
  3. Kohlbergs Stufen der Moralentwicklung
  4. Untersuchungsanlage und Forschungsmethode
  5. Reaktionsmuster auf eine moralische Konfliktsituation
  6. Zur Entwicklungslogik der Reaktionsmuster
  7. Die Bearbeitung moralischer Konflikte in der Pflegeethik
  8. Was ist zu tun?
  9. Weiterführende Forschungen

Inhalt

Die Autorin arbeitet im ersten Kapitel heraus, wie moralische Konflikte im Arbeitsalltag von Pflegekräften entstehen. Dabei geht sie auf die Norm der patientenorientierten Pflege ein. Sie stellt u.a. das Pflegemodell nach Roper und gesetzliche Regelungen vor. Der normative Anspruch steht im Widerspruch mit den Rahmenbedingungen und fehlenden Ressourcen der Pflege im Krankenhaus als Ort der Massenversorgung. Kersting geht auf Problembereiche in der Pflege ein.

Im zweiten Kapitel stellt Kersting den Begriff der bürgerlichen Kälte nach Theodor W. Adorno und Max Horkheimer als theoretischen Bezugspunkt ihrer Studie vor. Im Anschluss an die Kritische Theorie nach Adorno und Horkheimer setzt sich die Autorin mit den Arbeiten von Andreas Gruschka auseinander.

Die Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft beinhalten den Widerspruch zwischen bürgerlichen Idealen und der ökonomischen Zweckrationalität. Bürgerliche Kälte ist als Anpassungsmechanismus zu verstehen, der es dem Einzelnen ermöglicht dennoch handlungsfähig zu bleiben. Kersting übernimmt im Anschluss den Begriff der Kälte als moralische Kategorie.

Das dritte Kapitel geht auf die Theorie der Moralentwicklung nach Lawrence Kohlberg ein. Die Autorin setzt sich mit Kohlbergs Forschung zur Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit und seinem nach formalen Kriterien entworfenen Stufenmodell auseinander. Kersting kritisiert u.a. den ausschließlichen Fokus Kohlbergs auf Gerechtigkeit, die vorgegebenen Begründungsvarianten und den Ausschluss einer regressiven Entwicklung.

Das vierte Kapitel gibt einen Überblick über den Studienaufbau bzw. das Studiendesign. Insgesamt werden 40 Probanden, alle Pflegeauszubildende im Krankenhaus, für die Studie befragt. In den Interviews äußern sich die Probanden zu einer alltäglichen, konflikthaften Situation aus dem Pflegealltag. Die Autorin stellt die angewandten Interview- und Auswertungsverfahren vor. Dabei wendet sie u.a. die Methodik der objektiven Hermeneutik nach Ulrich Oevermann an.

Im fünften Kapitel erläutert die Autorin zwölf Reaktionsmuster, mit der die Pflegenden auf die Widersprüche in der Praxis reagieren. Gegenüber den moralischen Konflikten und Normverletzungen verhalten sich die Pflegenden in unterschiedlicher Weise mit Desensibilisierung bzw. Kälte. Kersting erarbeitet sogenannte Verdichtungstypen, die auf andere Situationen in der Pflege übertragbar sind.

Im sechsten Kapitel analysiert Kersting die Entwicklungslogik in den Reaktionsmustern und stellt ihr Kälteellipse-Modell vor. Damit lassen sich die verschiedenen Abstufungen und Orientierungen im Prozess einordnen. Als Anpassungsstrategien enthalten sie sowohl die Möglichkeit der moralischen Desensibilisierung als auch einer moralischen Resensibilisierung.

Das siebte Kapitel untersucht, welchen Beitrag zur Lösung die Pflegeethik leisten kann. Kersting diskutiert u.a. das Entscheidungsfindungsmodell für ethische Konflikte von der Pflegeethikerin Sara T. Fry. Sie kritisiert daran zum Beispiel, dass Optimierung nicht den Mangel an Ressourcen ausgleichen kann. Des Weiteren geht Kersting auf den pflegeethischen Ansatz von Marianne Arndt ein. Auch hier bleibt nach Kersting der Widerspruch zwischen Norm und Funktion allerdings unberücksichtigt.

Das achte Kapitel fasst die Studienergebnisse zusammen. Kersting erläutert, inwiefern die Untersuchung des Coolout-Prozesses pflegewissenschaftlich und pflegepädagogisch aufgegriffen werden kann. Kersting führt u.a. aus, wie Konfliktbearbeitung schon in der Pflegeausbildung Ausgangspunkt für moralische Bildungsprozesse sein kann.

Im neunten Kapitel geht die Autorin überdies auf Forschungen zu Belastungen im Pflegealltag und Burnout ein.

Diskussion

Fachkräftemangel, Arbeitsausfall von KollegInnen, Zeitdruck, Unterbrechungen etc. gehören zum Arbeitsalltag von Pflegenden. Einerseits wirtschaftlich und zeitlich effizient zu arbeiten, andererseits zugewandte, patientenorientierte Pflege zu leisten, ist die tagtägliche Herausforderung für die Pflege.

Die verschiedenen Strategien der Pflegekräfte mit den moralischen Konflikten im Arbeitsalltag umzugehen, werden in der Studie von Karin Kersting differenziert untersucht. Im Anpassungsprozess zeigt sich das Phänomen Coolout bei Pflegekräften. Die Autorin erarbeitet mit ihrem neunteiligen Kälteellipsen-Modell ein Instrument, um Reaktionsmuster einordnen zu können und Entwicklungsmöglichkeiten zu erkennen.

Weder Resignation noch das Ignorieren der moralischen Konflikte bieten eine Lösung. Stattdessen schafft erst die Wahrnehmung und Bearbeitung der Konflikte neue Handlungsperspektiven und eine kritische Position gegenüber den Rahmenbedingungen in der Pflege.

Umstrukturierungen, Organisationsentwicklung oder Personalgewinnung in der Pflege sind einige der derzeit diskutierten gesundheitspolitischen Themen. Ein Strukturwandel in der Pflege ist notwendig. Die Einsicht der Pflegekräfte in den immanenten Widerspruch bringt diesen Prozess kritisch voran.

Fazit

Professorin Karin Kersting erarbeitet eine neue Perspektive auf die (strukturellen) Probleme in der Pflege. Das Buch bringt Erkenntnisse über einen schwierig zu untersuchenden Bereich: die Dialektik von Sein und Sollen in der Pflege, die sich in den moralischen Entscheidungen zeigt.

Leitungskräfte in der Pflege und Organisationsentwicklung, ebenso wie Fachkräfte im Pflegemanagement und -pädagogik bekommen Wissen über das Phänomen Coolout von Pflegekräften und die Möglichkeit, die Anpassungsprozesse in der Pflegepraxis zu reflektieren und Entwicklungen zu begleiten.

Rezension von
Alexandra Günther
Sozialpädagogin und Ethikerin
Mailformular

Es gibt 45 Rezensionen von Alexandra Günther.

Lesen Sie weitere Rezensionen zum gleichen Titel: Rezension 11032

Besprochenes Werk kaufen
Sie fördern den Rezensionsdienst, wenn Sie diesen Titel – in Deutschland versandkostenfrei – über den socialnet Buchversand bestellen.


Zitiervorschlag
Alexandra Günther. Rezension vom 12.04.2023 zu: Karin Kersting: "Coolout" in der Pflege. Eine Studie zur moralischen Desensibilisierung. Mabuse-Verlag GmbH (Frankfurt am Main) 2022. 6. Auflage. ISBN 978-3-940529-99-2. Reihe: Mabuse-Verlag Wissenschaft - 114. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30105.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.


Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht