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Eva Birkenstock: Option assistierter Suizid

Rezensiert von Heribert Wasserberg, 09.03.2023

Cover Eva Birkenstock: Option assistierter Suizid ISBN 978-3-03777-259-1

Eva Birkenstock: Option assistierter Suizid. Wann genug ist, entscheide ich. Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen (Zürich) 2022. 214 Seiten. ISBN 978-3-03777-259-1. D: 17,00 EUR, A: 17,00 EUR, CH: 19,00 sFr.
Reihe: Penser la Suisse.

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Thema

Nach dem Ende der kulturellen Dominanz des Christentums stehen die weltanschaulich pluralen westlich-demokratischen Gesellschaften vor der Aufgabe, einen neuen Konsens zu finden in Bezug auf die Kunst zu sterben (ars moriendi). Die Schweiz ist eines jener Länder, in welcher sich der assistierte Suizid gesellschaftlich durchgesetzt hat. Jedoch bleibt die Suizidassistenz und die Gestaltung des Lebensendes insgesamt eine Gestaltungsaufgabe für staatliche, zivilgesellschaftliche Akteure und für jede Person als solche. In diesem Zusammenhang ist wichtig, zu verstehen, wie, wann und warum Menschen die Option wählen, unter Suizidassistenz zu sterben bzw. sterben zu werden. Welche Überlegungen und Normen leiten sie, welche Entscheidungen treffen sie? Dieser Frage geht das Buch nach.

Interessenskonflikt?

Der Rezensent ist nicht beruflich oder wirtschaftlich mit Fragen am Ende des Lebens befasst. Auch andere berufliche oder wirtschaftliche Interessen, die in Bezug auf diese Rezension von Belang sein könnten, existieren nicht.

Autorin:

Dr. Eva Birkenstock, MA phil. hat nach einem Studium der Philosophie und Germanistik über das Problem des Todes in der Existenzphilosophie promoviert. Sie publizierte zu Fragen des Alterns, Biografie und Lebensgeschichte. Sie ist als Projektleiterin tätig an der Berner Fachhochschule für Soziale Arbeit.

Entstehungshintergrund

Der spezifische schweizerische Weg, organisierter Suizidassistenz Raum zu geben, erscheint gefestigt. Das heißt aber nicht, dass die Suizidassistenz dort unumstritten wäre. Auch in der Schweiz werden dieselben Fragen diskutiert wie in Deutschland in Bezug auf die Akzeptanz der Suizidhilfe: Wann ist sie ethisch legitim? Wo und wie soll sie stattfinden dürfen? Was ist eine akzeptable Entscheidung, das eigene Leben zu beenden?

Vor diesem Hintergrund gibt es ein Bedürfnis, den Wunsch nach bzw. die Inanspruchnahme von Suizidassistenz tiefer zu durchdringen. An diesem Bedürfnis setzte das von Birkenstock geleitete Forschungsprojekt an. Im Zentrum des Projekts stand die kontrollierte wissenschaftliche Erhebung und Auswertung der per Call durchgeführten Interviews von 41 Personen mithilfe der Ground-Theory-Methode in Verbindung mit Textananalysen der Interviewtranskripte mit Hilfe des Textverarbeitungsprogramms MAXQDA.

Aufbau

Der Buchaufbau spiegelt den Vollzug und das Ergebnis der analytischen Arbeit der Autorin wieder, in welcher eigene theoretische Überlegungen und die Aussageinhalte aus den Interviews zusammengeführt und thematisch geordnet wurden, insbesondere in den Seiten von Seite 72 bis 176. Der Leser:in werden hier im breiten Umfang Originalaussagen der Interviewten angeboten und eingeordnet. Eine abschließende zusammenfassende Besprechung und Reflektierung des Erkenntnisertrages wird nicht geboten, jedenfalls nach Meinung des Rezensenten. Jedoch endet das Buch mit einem „Ausblick“ und einem Fazit.

Inhalt

Wie schon erwähnt sind weite Teile des Buches der Referierung und thematischen Einordnung der Interviewaussagen gewidmet; sie entziehen sich nach Meinung des Rezensenten einer sinnvollen Zusammenfassung im Rahmen einer Rezension. Daher konzentriere ich mich darauf, die Inhalte anderer Buchteile vorzustellen.

1. Das Forschungsprojekt und sein Ertrag („Vorwort“ und „Fazit“)

Im Vorwort (S. 8–12) steckt die Autorin ab, in welchem Umfeld der Schweizerische Nationalfonds (SNF) sich dazu entschied, das Projekt zu fördern, „um ein Bild davon zu bekommen, wie Personen, denen es wichtig ist, die Möglichkeit eines assistieren Suizids zu haben, ihren Entscheidungsweg begründen und wie frei sie dabei sind.“ Als Hintergrund für diese Fragestellung wird die zunehmende „Entfremdung zwischen den Expert:innen, die Ethik institutionell vertreten, und der Öffentlichkeit“ angegeben. Nicht zuletzt auch aufgrund eines „Rückzugs ins Private“ aufgrund von „Erinnerungen an eklatanten Machtmissbrauch im Namen einer angeblich höheren Moral.“ Trotz der Fortschritte in der Ermöglichung von Selbstbestimmung am Lebensende in den letzten Jahrzehnten „bleibt noch ein weiter Weg zu gehen, wenn man das Ziel ins Auge fasst, das Lebensende nicht den Abläufen und Autoritäten im Heil- und Intensivpflegebetrieb zu überlassen, sondern bestmöglich für die Betroffenen und Mitbetroffenen zu gestalten.“ (S. 11)

„Das Forschungsziel war“, so eröffnet die Autorin ihr Fazit (S. 188–192), „Prozesse der Entscheidungsfindung hinsichtlich des Lebensendes unter Einbeziehung der Option eines assistierten Suizids und die dahinterstehenden Werte zu untersuchen sowie eventuelle Anhaltspunkte dafür zu finden, ob Wünsche nach einer weiteren Liberalisierung des Zuganges zu einem assistierten Suizid mit einem wachsenden gesellschaftlichen Druck einhergehen könnten.“ (S. 188) Zwei Interviewpartner, so resumiert die Autorin, bejahten einen finanziellen Druck; dies müsse eine Überprüfung des schweizerischen Sozialsystems veranlassen. Diese sollte eingebettet sein in eine generelle Entlastung des Individuums von gesellschaftlichem Druck und einem Umbau hin zu einer „solidarischen, sorgenden und warmen Gesellschaft“, welche zum Weiterleben einlade. Sorgen über einen drohenden sozialdarwinistischen „Dammbruch“ seien aber weiterhin unbegründet („keine Belege für einen solchen Verdacht“), aber „es wird sicher nötig sein, auch in der Zukunft zu monitoren, dass sich ein solcher Druck nicht aufbaut“ (so schon auf Seite 176).

2. Empfehlungen („Ausblick“)

In ihrem „Ausblick – Sowohl als auch“ (S. 176–187) empfiehlt die Autorin, sowohl das Weiterleben, als auch – insbesondere nach einem langen Lebensweg – die herbeigeführte Lebensbeendigung zu erleichtern: „Ob jemand das eigene Leben annimmt (…) oder für sich bestimmt, wann es beendet wird, sollte nicht zu ideologischen Debatten führen.“ (S. 177) Auch denjenigen, die einen „leichteren Zugang zu einem Bilanzsuizid“ – gemeint ist: einen eigenen Zugang zu Natriumpentobarbital ohne Gatekeeperschaft eines Arztes oder einer Sterbehilfeorganisation – wünschen, solle man entgegenkommen; sofern daraus kein neuer allgemeiner Standard abgeleitet werde, sei „eine Verweigerung dieses Wunsches paternalistisch“ (S. 178).

Der vielleicht für die Autorin wichtigste Ertrag der Forschungsarbeit sei, dass der Zugang zur Suizidassistenz der Ermöglichung offener und „vorurteilsfreier Kommunikation über das Sterben“ gedient habe, welche ihrerseits wirklich unumgänglich sei. Die offene Diskussion auf Augenhöhe sei der Hauptverdienst der Liberalisierung der vergangenen Jahrzehnte und entspreche nicht zuletzt auch den Wünschen vieler Menschen, auch unter den Interviewten.

Die Autorin kommt darauf hin auf die Gatekeeper-Rolle der Ärzte zu sprechen, denen „über die Rezeptpflicht eine Macht zugefallen ist, die eine offene Diskussion erfordert“. Überdies sei der Mangel an rezeptierenden Ärzten eines Tatsache; dies „drängt Sterbewillige in die Rolle der Bittstellenden, die sie als entwürdigend empfänden“ (S. 181). Selbstverständlich müsse die Palliativpflege ausgebaut werden, auch, um die Möglichkeit zu eröffnen, „immer wieder neu zu bewerten, ob die erreichte Lebensqualität mit dem Selbstbild im Einklang ist“. (S. 184) Der „‘Notausgang‘ eines assistierten Suizids“ sei wichtig für die „Akzeptanz der Pflege“. Auch im Umgang mit dem ethischen Dilemma bei Demenz „müsste es möglich sein, beiden Sichtweisen Raum zu lassen – dem Individualismus ebenso wie der Inklusion“. Überhaupt sei es nötig, grundsätzlich „aus der Bipolarität herauszufinden“, zwischen einer einseitigen Individualisierung der Ethik einerseits und einer einseitigen institutionellen Dominiertheit der Ethik andererseits. „Demokratisierung der Ethik“ schließe nun einmal nicht aus, sondern ein: „Es gibt kein gutes rationales Argument dagegen, dass ein Individuum im Rahmen des gesetzlich Zulässigen über das eigene Leben und dessen Ende verfügen darf“ (S. 187).

Diskussion

Im Zentrum des Buches stehen die Überzeugungen, Überlegungen und Entscheidungen jener 41 Personen, mit welchen Eva Birkenstock analytisch und synthetisch gearbeitet hat. Es ist faszinierend, ihr dabei zu folgen – faszinierend auch, zumal es für denjenigen, insbesondere, wenn er mit der gewählten Methodik nicht vertraut ist, auch ein wenig geheimnisvoll bleibt. Wie kam es von der Projektidee zum Text, insbesondere zum großen Hauptteil des Buches, in welchem es in erster Linie um die Interviews und die von ihnen thematisierten Sachverhalte ging? Und wiederum wie kam es von diesem großen Textkorpus zum Ausblick beziehungsweise zum Fazit? Dies blieb – zumindest dem Rezensenten – verborgen, was man wahlweise als Faszinosum oder Mangel dieses Buches ansehen kann. Im Verlauf der Buchlektüre entschloss der Rezensent sich dazu, eigene Bedürfnisse nach wissenschaftlicher Transparenz und Nachvollziehbarkeit zurückzudrängen, und die Interpretationskunst der Autorin zu genießen. Er ging Arbeit und Reflexionsarbeit der Autorin gerne nach und versuchte nachzuvollziehen, wie Birkenstock Ausgangsfragen, Fragen des Studiendesigns, Sachinformationen, existenzphilosophische und andere Theorieaspekte und die Gedanken der befragten schweizerischen Bürgerinnen und Bürger durch die Analysen und Synthesen zum Buchganzen zusammenfügte. Dies lohnt sich, denn dabei geht es immer um Fragen und Themen, die zugleich eindeutig im Schweizer Kontext verortbar sind, und zugleich unbedingt von allgemeinem Interesse sind. Fragen der Selbstbestimmung, Würde, Urteilsfähigkeit, Sinn, Autonomie, der sozialen Akzeptanz.

Intellektuell gereift an der Auseinandersetzung mit der Existenzphilosophie Sören Kierkegaards („Entweder – Oder“) plädiert Eva Birkenstock für eine Gesellschaftskultur des Sowohl – als Auch. Für eine Gesellschaft, die das Individuum von Druck entlastet, sowohl vom Druck, nicht mehr weiterleben zu können, als auch vom Druck, weiterleben zu müssen. Dieses Plädoyer nimmt der Rezensent gerne mit in seine eigene weitere Beschäftigung mit dem Thema Gestaltung des Lebensendes. Gesellschaftliche Stressoren, die Druck und Unfreiheit bei der Lebensendegestaltung erzeugen, existieren in der Tat, und sie lassen sich sehr wohl als solche identifizieren. Diese Tatsache scheint dem Rezensenten der hermeneutische Schlüssel für eine gewinnbringende Lektüre dieses Buches zu sein. Welche externen, gesellschaftlichen Einwirkungen setzen Menschen unter Druck bei der Entscheidungsfindung bei der Gestaltung am Lebensende? Das ist eine wichtige Frage; eine Frage zugleich, welche dieses Buch eher aufwirft als beantwortet. Eine erneute gezielte und systematische Auswertung des Aussagenmaterials zur Beantwortung dieser Frage wäre wünschenswert.

Elke Birkenstock wirbt für die vollständige gesellschaftliche Öffnung für das Gespräch über Leben, Lebensqualität und Tod. Sie plädiert für eine soziale und warme Gesellschaft, die sowohl zum Weiterleben einlädt als auch auf paternalistische Übergriffigkeiten verzichtet und dem Individuum das Recht zugesteht, über das eigene Leben und Lebensende zu verfügen.

Den Empfehlungen der Autorin konnte der Rezensent uneingeschränkt gut folgen. Sie zur Kenntnis zu nehmen und zu beachten, wäre auch in den anderen deutschsprachigen Nachbarstaaten der Schweiz und den anderen europäischen Ländern hilfreich.

Fazit

Eva Birkenstock ermöglicht mit ihrem Buch den Einblick in das Denken, Fühlen und Entscheiden von Menschen, denen es wichtig ist, das Ende ihres Lebens bewusst und kontrolliert herbeizuführen und ausgestalten zu können. Dieses Buch ist aufschlussreich und wird – anders als andere Bücher – vom Rezensenten uneingeschränkt empfohlen, insbesondere politischen Entscheidern und Personen, die professionell mit Sterbewilligen umgehen.“

Rezension von
Heribert Wasserberg
Evangelisch-reformierter Theologe, Politikwissenschaftler, Evangelischer Pfarrer und Altenheimseelsorger im Ruhestand
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Es gibt 9 Rezensionen von Heribert Wasserberg.

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Zitiervorschlag
Heribert Wasserberg. Rezension vom 09.03.2023 zu: Eva Birkenstock: Option assistierter Suizid. Wann genug ist, entscheide ich. Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen (Zürich) 2022. ISBN 978-3-03777-259-1. Reihe: Penser la Suisse. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30111.php, Datum des Zugriffs 01.04.2023.


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