Harry Waibel: Rechte Kontinuitäten
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 10.03.2023

Harry Waibel: Rechte Kontinuitäten. Rassismus und Neonazismus in Deutschland seit 1945. Eine Dokumentation.
MARTA PRESS
(Hamburg) 2022.
504 Seiten.
ISBN 978-3-96837-005-7.
D: 28,00 EUR,
A: 30,00 EUR,
CH: 32,00 sFr.
Reihe: Substanz.
Gegen Rechtsradikalität, Ethnozentrismus, Faschismus, Rassismus und Populismus
Die neuere Geschichte der Bundesrepublik Deutschland weist immer wieder auf, dass nationalistische und nazistische Ideologien entstehen konnten, weil die Mentalitäten und öffentlichen Meinungen in der deutschen Bevölkerung (überwiegend) obrigkeitshörig, hierarchisch und dominanzorientiert vorfindbar und etabliert sind. „Heil Führer“ und „Deutschland über Alles in der Welt“ hat vielfach das eigene Denken ersetzt und „Führer, wir folgen dir!“ intonieren lassen. Die anfangs zögerliche, eher als „Weg“- denn „Hinschauen“ charakterisierte, intellektuelle, historische, gesellschaftliche Aufarbeitung hat bewirkt, dass ehemalige Täter und Mitläufer beinahe kontinuierlich im freiheitlichen, demokratischen, parlamentarischen System wieder „heimisch“ und aktiv werden konnten. In den (späten) aktuellen Aufdeckungen über die Verstrickungen und Beteiligung des ehemaligen Gründungs-Intendanten des ZDF, Karl Holzamer (1906 – 2007) im Nationalsozialismus wird deutlich, dass das Wiedererstarken von rechtsradikalen, faschistischen und populistischen Parteien und Gruppierungen in Deutschland ihre Ursachen im (vergangenen) antihumanistischen Denken „der“ Deutschen hat. Dass diese Einstellungen nicht nur bei den „Ewiggestrigen“ und „Verquer-Phantasten“ zu verorten sind, zeigen auch Kontroversen, wie sie sich z.B. über die demokratiefeindlichen, populistischen Meinungen und Verlautbarungen des ehemaligen Verfassungsschutz-Präsidenten und CDU-Mitglieds Karl-Georg Maaßen fokussieren.
Entstehungshintergrund und Autor
Es bedarf der politischen Aufmerksamkeit und des Widerstands gegen rechtsradikale Aktivitäten, wie dies bereits Bertolt Brecht im Epilog des Parabelstücks „Der aufhaltsame Aufstieg des Aruto Ui“ (1941) zum Ausdruck bringt: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“. Damit eine Gemeinschaft sich human und demokratisch entwickeln kann, bedarf es des Bewusstseins, dass Vergangenes Gegenwärtiges und Zukünftiges bestimmt. Die Frage, wie wir geworden sind, was und wie wir sind, ist nur durch Geschichts- und Aktualitätsempfinden human zu beantworten. Denn die Tatsachen sprechen eine deutliche Sprache: Der „Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei“ (NSDAP) gehörten (1939) rund 7,5 Millionen Deutsche an; der „Hitler Jugend“ (HJ) 9 Millionen; Hunderttausende traten freiwillig der SS bei. Auch wenn es Widerstand gegen die Nazi-Diktatur gab, wird man davon ausgehen können, dass die meisten Deutschen als „willige Vollstrecker“ des Rassenwahns bezeichnet werden können.
Der Berliner Historiker und Publizist Harry Waibel gilt als einer der kenntnisreichsten Experten über die Entwicklung des Rechtsradikalismus in den beiden deutschen Staaten und in der wiedervereinigten Republik. Er legt eine Studie vor, wie sich rechtsradikales Denken und Handeln in Ost- und Westdeutschland nach 1945 darstellt, und sich auch nach der Wiedervereinigung kontinuierlich entwickelt hat. Er dokumentiert rechte Gewalt- und Propagandastraftaten und weist darauf hin, dass in Deutschland in der Zeit vom 3. Oktober 1990 bis April 2022 „über 400 Männer, Frauen und Kinder von mutmaßlich rechten Täterinnen und Tätern getötet wurden“.
Aufbau und Inhalt
Neben der Einleitung, in der der Autor die gegenwärtige politische Situation in Deutschland zu Fragen des Nazismus und Neonazismus analysiert und Begriffe klärt, wird die wissenschaftliche Studie in drei Kapitel gegliedert:
Im ersten thematisiert er, wie sich die „Bundesrepublik Deutschland bis 1990“ darstellt, als Ideologie des Verdrängens, des Vergessens und des Relativierens im Alltagsbewusstsein und -geschehen. Es sind konservativistische Einstellungen wie „Deutschland den Deutschen“, es sind Höherwertigkeitsmentalitäten, die sich gegen Fremde und Fremdes, etwa bei der Arbeitsmigration; bei der parteipolitischen Ablehnung der Perspektive, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei; bei der Unfähigkeit, sich gesellschaftlich interkulturell und global weiterzuentwickeln (etwa, wenn im Dezember 1946 die US-amerikanische Militärverwaltung 40 % der Deutschen attestierte, dass sie Antisemiten seien). Im gesellschaftlichen Diskurs gibt es bis heute die Kontroverse, ob auch die Nachgeborenen der Täter im Nazismus eine Mitschuld und Mitverantwortung an den Menschheitsverbrechen hätten, oder ob nicht „endlich ein Schlussstrich gezogen werden könne (wie dies z.B. im sogenannten „Historikerstreit“ 1986 über die Deutung der rassistischen Massenmorde der Nazis erfolgte)“. Es sind die rassistischen und diskriminierenden Auffassungen über „Mischlingskinder“, Vorteile gegen Menschen anderen Glaubens, anderer Herkunft; und es sind die Aktivitäten, neonazistische und rassistische Organisationen und Parteien zu gründen, die mit ihren Parolen wie „Deutschland den Deutschen“, „Ausländer raus!“ und „Das Boot ist voll!“ demagogisch wirken. Die demokratiefeindlichen Bewegungen gewinnen an lokal- und global-gesellschaftlichen Einfluss und Akzeptanz auch durch direkte und mediale Netzwerkbildungen.
Im Kapitel „Deutsche Demokratische Republik bis 1990“ zeigt der Autor auf, wie die „linke Diktatur“ unter der Führung der „Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ (SED) alles unternahm, Kritik an der offiziellen Politik und Ideologie zu verhindern, „was nicht sein kann, was nicht sein darf“. Die verbotene, „reaktionäre“ Kritik im Sinne der marxistisch-leninistischen, „klassenlosen“ Gesellschaftsordnung verdeutlicht, dass vorhandene Vorurteile, Ressentiments, Neidkomplexe … sind in jeder Gesellschaft vorhanden sind. Sie brechen sich Bahnen in Ausgrenzungen und Fremdenfeindlichkeit. Weil im Laufe der Jahrzehnte viele Einheimische die DDR verlassen haben und geflohen sind, war das Land (auch) angewiesen auf ausländische Arbeitskräfte. Sie kamen aus Algerien, Angola, Bulgarien, Ghana, Guinea, Indien Jugoslawien, Kamerun, Kongo, Kuba, Libyen, Nigeria, Mongolische VR, Mosambik, Sierra Leone, Türkei, Ungarn, Vietnam und Zimbabwe. Die begrenzt staatlich ausgesprochene Aufenthaltsdauer von zwei bis fünf Jahren ermöglichte keine Integration, ebenso nicht die überwiegend kasernierte und Lager-Unterbringung. So entwickelte sich in der Bevölkerung eher Ablehnung, wie auch Unkenntnis der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Ausländer, bis hin zu Aggressionen, die mögliche Erklärungen für die Angriffe und Pogrome auf Wohnheime von Ausländern in Hoyerswerda, Erfurt, Dessau, Ludwigsfelde, Dresden, Wittenberge, Jena, Leipzig, Halle, Rostock, Zittau… liefern. Es lässt sich aufzeigen, dass in diesem Umfeld die Bildung von Neonazi-Gruppen zwar nicht zwangsläufig, jedoch befördernd erfolgen konnte. Waibel identifiziert die möglichen Ursachen und Gründe für rassistische und neonazistische Aktivitäten: „Fehlgeschlagene Entnazifizierung (Nazi-Faschisten als Teil der Führungselite)“ – „Gescheiteter Antifaschismus (Abwehr der Erkenntnis des Neofaschismus, Reduktion auf ökonomische Ursachen des Faschismus…)“ – „Autoritarismus (ML-Ideologie, Ultra-Nationalismus, Militarismus)“. Sie münden in rechtspopulistische Einstellungen, die z.B. rechtsnationalistischen Parteien (AfD) große Zuläufe bringen. Parolen wie „Deutschland schafft sich ab“ (Sarrazin), PEGIDA-Aufmärsche, „Freie Kameradschaften“, bis eben hin zu CDU/CSU-Mitgliedern bewirken, dass in Deutschland neonazistische, nationalistische, rassistische und populistische Ideen nicht mehr nur an den Rändern, sondern in der Mitte der Gesellschaft Aufnahme und Anerkennung finden.
Im dritten Kapitel „Deutschland ab 1990“ werden die in West- und Ostdeutschland differenziert herausgearbeiteten neofaschistischen Entwicklungen zusammengebracht. Es sind die Relativierungen des Menschenrechts auf Asyl. Es sind die zunehmenden, scheinbar notwendigen Veränderungen einer „globalen Ethik“, die zum Ausdruck bringt, dass „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“, wie es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechtevom 10. Dezember 1948 postuliert wird. Zwar verordnet sich der deutsche Staat als „wehrhafte Demokratie“, und von 1951 bis 2017 sind in der BRD und im vereinigten Deutschland mehr als 80 neonazistische und rassistische Organisationen und Parteien verboten worden; doch es gibt noch viel zu viele (zunehmende) demokratiefeindliche, faschistische Bestrebungen – „Die NPD ist noch immer da und ein Verbot ist in weite Ferne gerückt“ – die darauf aus sind, ihre menschenfeindlichen Ansichten unters Volk zu bringen.
Diskussion
Gewalt ist nur durch Gegenwehr zu begegnen? – Krieg nur durch Krieg zu beenden? Es darf keiner Illusion, sondern es muss eine Vision sein, die Menschen davon zu überzeugen, dass Ego- und Ethnozentrismus, Rassismus und Neonazismus Unmenschlichkeit ist. Gewalt, illegitime Machtausübung, Eroberungen, Kriege entstehen in den Köpfen der Menschen; diese Untugenden müssen auch aus deren Köpfen entfernt werden – durch Aufklärung, Bildung und Erziehung. Das Wiedererstarken von rechter Gewalt und die Zunahme von rassistisch- und nationalistisch motivierten Taten muss, als Gegenmittel, einen Perspektivenwechsel in der Gesellschaft bewirken; nicht hin zum Vergessen und Verdrängen von Menschheitsverbrechen (siehe: Achim Dörfer, Die Rache der Juden, das Versagen der deutschen Justiz nach 1945 und das Märchen deutsch-jüdischer Versöhnung, 2021,), sondern zur verantwortungsvollen Bewussthaltung.
Mit der „Chronologie der von Rechten getöteten Menschen von 1990 bis April 2022“ dokumentiert Waibel die juristisch geklärten und ungeklärten Verbrechen in Deutschland. Das 16seitige Literaturverzeichnis verdeutlicht die umfangreiche, intensive Forschungsarbeit. Das Register verweist auch darauf, die Studie auch als Nachschlagewerk benutzen zu können.
Fazit
Die vorgelegte Forschungsarbeit will auf die aktuellen Gefahren des Hervortretens von rassistischen und neonazistischen Aktivitäten aufmerksam machen und Kompetenzen aufzeigen, diesen intellektuell, rational, demokratisch, individuell und kollektiv, historisch und aktuell wirksam zu begegnen. Die Studie ist für Studien-, Seminar- und Forschungstätigkeit ein bedeutsames Handbuch.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 10.03.2023 zu:
Harry Waibel: Rechte Kontinuitäten. Rassismus und Neonazismus in Deutschland seit 1945. Eine Dokumentation. MARTA PRESS
(Hamburg) 2022.
ISBN 978-3-96837-005-7.
Reihe: Substanz.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30113.php, Datum des Zugriffs 24.03.2023.
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