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Azita Renken: Neue Wege

Rezensiert von Dr. Olga Frik, 25.08.2023

Cover Azita Renken: Neue Wege ISBN 978-3-8382-1739-0

Azita Renken: Neue Wege. Biografische Erzählungen über das Erwachsenwerden in der Ankunftsgesellschaft. ibidem-Verlag (Hannover) 2022. 216 Seiten. ISBN 978-3-8382-1739-0. D: 29,90 EUR, A: 30,70 EUR, CH: 35,10 sFr.

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Allgemeine Charakterisierung des Buches

Wie erleben junge Menschen mit Migrationserfahrung die Phase des Erwachsenwerdens in der Aufnahmegesellschaft? In diesem Band kommen Frauen zu Wort, die in ihrer Kindheit bzw. frühen Jugend aus dem Iran nach Deutschland immigrierten. Auf der Basis biografischer Interviews begibt sich die Autorin auf die Spurensuche nach den Entwicklungsverläufen in der Phase der Identitätsfindung ihrer Gesprächspartnerinnen und stellt diese in ihrer einfühlsamen Studie aus soziologischer und psychoanalytischer Perspektive vor. Die Untersuchung zeigt entlang intergenerationaler Beziehungsdynamiken und zentraler Themen wie – Mädchenfreundschaften, – erste Partnerschaft, – kulturelle Zuschreibungen, – moralische Werte exemplarisch die Suche der Heranwachsenden nach Lösungsmöglichkeiten zur Verknüpfung und Vereinbarung unterschiedlicher soziokultureller Aspekte ihrer Lebenswelt. Es geht um kreative Potenziale, um Perspektivenwechsel und um die Entstehung neuer Lebensentwürfe, die zunehmend in unserer globalisierten Welt üblich werden.

Im Rahmen von biografischen Interviews erzählen junge Frauen iranischer Herkunft rückblickend über die Phase des Erwachsenwerdens zwischen den unterschiedlichen Anforderungen ihrer Lebenswelt. Im Mittelpunkt stehen die Analyse der Entwicklungsverläufe sowie die Herausarbeitung der Bewäligungsstrategien soziokultureller Aspekte entlang zentraler Themen aus den Erzählungen der Interviewpartnerinnen mit Fokus auf der lebensgeschichtlichen Phase der Adoleszenz. Es handelt sich um eine Neuauflage der im Jahr 2012 veröffentlichten Studie, die erstmals im Rahmen der Schriftenreihe der Oldenburger Beiträge zur Geschlechterforschung im BIS-Verlag der Universität Oldenburg unter dem Titel „Adoleszenz und Migration“ erschien. Die vorliegende Auflage enthält neben einem neuen Titel ein ebenfalls neues Vorwort sowie einige wenige orthografische, inhaltliche und formale Anpassungen.

Das zentrale Anliegen dieser empirischen Studie besteht darin, anhand der Rekonstruktion von erzählten Lebensgeschichten junger Frauen mit iranischer Migrationsgeschichte und der Analyse zentraler Lebensthemen die Bewältigungsstrategien heterogener sozio- kultureller Aspekte im Identitätsbildungsprozess der Adoleszenz herauszuarbeiten und sichtbar zu machen. Der Untersuchung liegen Interviews mit jungen Frauen iranischer Herkunft zugrunde, die auf der Basis der Grounded Theory geführt wurden. Sie sind zwischen zwanzig und dreiunddreißig Jahre alt und befinden sich damit in einem Alter, in dem sie rückblickend über ihr Leben erzählen und sich selbst und ihre Umwelt kritisch zueinander in Beziehung setzen sowie darüber reflektieren können.

Autorin

Azita Renken studierte an der Universität Oldenburg und der California State University Long Beach Philologie, Soziologie und Psychologie. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Biografieforschung und den Entwicklungsverläufen der Adoleszenz. Sie arbeitet im psychotherapeutischen Bereich mit Kindern und Jugendlichen.

Aufbau und Inhalte

Die vorliegende Studie greift zentrale Aspekte auf, die für eine qualifizierte Betrachtung der die Bewältigungsstrategien heterogener sozio- kultureller Aspekte im Identitätsbildungsprozess der Adoleszenz von Bedeutung sind. Das Buch gliedert sich in die folgenden Abschnitte:

  • Vorwort;
  • Einleitung;
  • Kapitel I („Stand der Forschung“);
  • Kapitel II („Methodologie und Methode“);
  • Kapitel III („Die empirische Untersuchung“);
  • Kapitel IV („Feinanalytische Interpretationen von zwei ausgewählten Biografien“);
  • Kapitel V („Ergebnisse der Feinanalysen“);
  • Kapitel VI („Themenspezifische Analyse“);
  • Kapitel VII („Die Entstehung des Neuen – Zusammenfassung und Perspektiven“)
  • Literatur

Im Kapitel I „Stand der Forschung“ gibt es eine Einführung in die Thematik und einen Ausblick auf Inhalte und Aufbau der Arbeit. In diesem Kapitel wird die Untersuchungsperspektive der Studie erläutert und in die Forschungslandschaft eingeordnet. Die Autorin gibt einen Überblick zum aktuellen Stand der Forschung über die Adoleszenz junger Frauen mit Migrationserfahrung und deren Identitätsbildungsprozesse sowie die Rolle intergenerationaler Beziehungen bei der Bewältigung adoleszenter Anforderungen.

Im Kapitel II „Methodologie und Methode“ wird die Rekonstruktion von Biografien als eine qualitative Methodologie der Sozialforschung, wie sie der vorliegenden Studie zugrunde liegt, erläutert. Zudem wird das biografisch-narrative Interview hinsichtlich seiner Bedeutung und Sinnhaftigkeit zur Erhebung identitätsbildender Prozesse und familialer Beziehungsgefüge in der Migration vorgestellt. Des Weiteren befasst sich Kapitel II mit der Methodentriangulation für die Auswertung der erhobenen Daten. Diese setzt sich zusammen aus dem narrationsanalytischen Ansatz nach Fritz Schütze (1983) sowie der psychoanalytisch orientierten Methode der Tiefenhermeneutik, wie sie von Alfred Lorenzer (1986) für die sozialwissenschaftliche Forschung entwickelt wurde. Die Entscheidung für die Zusammenführung dieser Analysemethoden erwies sich als ertragreich, um sowohl die unterschiedlichen Lebensstadien der jungen Frauen mit ihren unterschiedlichen Dimensionen der Erfahrungsaufschichtung narrationsanalytisch zu untersuchen als auch die tiefgreifenden und die nicht zur Sprache gekommenen latenten Wünsche und Ängste der Gesprächspartnerinnen zu erfassen, die sich häufig in den Leerstellen eines Textes, in abgebrochenen Worten und nicht zu Ende geführten Sätzen und in missverständlichen Kommunikationspassagen zwischen der Interviewerin und der Interviewten niederschlagen. Die in der Interviewsituation erzeugten spezifischen Spannungsverhältnisse werden hinterfragt und auf ihre Bedeutung hin für die Forschungsergebnisse überprüft und einbezogen. Die Forschungsgruppen, in denen die Interviews ausgewertet wurden, sind nicht nur für die psychoanalytisch orientierte Methode unentbehrlich gewesen, sondern erwiesen sich auch für die narrative Analyseform als sinnvoll und unersetzbar.

Kapitel III „Die empirische Untersuchung“ widmet sich der Differenzierung der empirischen Untersuchung. Dabei werden zum einen die spezifischen Forschungsfragen und Ziele der Studie ausformuliert und zum anderen die Interviewpartnerinnen als die Untersuchungsgruppe in ihrer Gesamtheit und ihrer Binnendifferenzierung präsentiert. Weitere Schwerpunkte bilden der Such- und Auswahlprozess der Interviewpartnerinnen sowie die Forschungssituation an sich.

Im empirischen Teil der Arbeit werden zunächst in Kapitel IV „Feinanalytische Interpretationen von zwei ausgewählten Biografien“ feinanalytische Interpretationen von zwei ausgewählten Biografien dargelegt. Dabei handelt es sich um die Lebensgeschichten von Shirin und Roxana, die jeweils detailliert mit dem Fokus auf der Phase der Adoleszenz aufgeschlüsselt werden, um daraus Schlussfolgerungen hinsichtlich der Verarbeitung adoleszenter Anforderungen zu ziehen. Eine solche detaillierte Analyse aus den Erzählungen aller Interviewpartnerinnen hätte den Rahmen der vorliegenden Arbeit gesprengt und die zur Verfügung gestandene Zeit weit überschritten. Daher fiel die Wahl der Autorin auf zwei Biografien, in denen eine möglichst große Vielfalt an zentralen identitätsbildenden Lebensthemen und ihre Verarbeitung zum Tragen kommen.

Die Ergebnisse der Feinanalysen werden in Kapitel V „Ergebnisse der Feinanalysen“ als eine Zwischenbilanz zu Umgehensweisen mit den adoleszenten Anforderungen präsentiert.

Kapitel VI „Themenspezifische Analyse“ widmet sich anschließend der themenspezifischen Analyse aus den gesamten der Arbeit zugrunde liegenden biografischen Erzählungen. Dabei werden nach zentralen thematischen Schwerpunkten einzelne Lebensbereiche unter Berücksichtigung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Umgangsweisen und Erfahrungen der jungen Frauen untersucht und erläutert.

Die Einbeziehung sowohl personenbezogener feinanalytischer Interpretationen als auch einer themenzentrierten Untersuchung zielt darauf ab, die Phase der Identitätsbildung mit all ihren besonderen Facetten und Schichten zu erfassen. Auf diese Weise soll eine größere Einsicht in die Entwicklungsverläufe gewonnen und folglich ein umfassenderes Verständnis für die Konflikte und die daraus resultierenden Handlungsstrategien der jungen Frauen erreicht werden, um der Bildung möglichst gegenstandsnaher Theoriekonzepte näherzukommen.

Den Abschluss bildet das Kapitel VII („Die Entstehung des Neuen – Zusammenfassung und Perspektiven“)mit der theoretischen Einbettung der empirischen Ergebnisse und der Diskussion der Entstehung neuer Identitäten als eine zentrale Schlussfolgerung dieser Arbeit.

Zielgruppen

Das Buch eignet sich für MitarbeiterInnen von den mit Bildungs- und Berufsberatung befassten Institutionen, sowie für Studierende und Lehrende der Studiengänge aus den Bereichen empirische Sozialforschung und Migrationsforschung. Es bietet ihnen neue, wertvolle Einblicke und Erkenntnisse.

Diskussion

Die Phase der Ablösung von der Welt der Kindheit und des Übergangs ins Erwachsenenleben stellt einen in vielen Hinsichten folgenreichen Lebensabschnitt dar: Der Begriff Adoleszenz steht für die psychischen Herausforderungen, die sich aus dem inneren Drang zur Veränderung einerseits und den kulturellen Angeboten andererseits ergeben. Jede Gesellschaft bringt Angebote für Jugendliche hervor, um die Brüche und Übergänge zu bewältigen, aber auch um die Gesellschaft vor zu viel Wandel zu schützen. Die Adoleszenz umfasst die ganzen Prozesse der Enkulturation also des Hineinwachsens in eine Gesellschaft. Die Adoleszenz unterscheidet sich im Kulturvergleich, weist ein großes Spektrum an Formen und Zeiträumen auf, von markanten Initiationsriten bis zu selbstinitiierten Jugendkulturen und kaum noch erkennbaren, kleinteiligen Übergängen.

Die Ergebnisse der Studie zeigen die Entstehung neuer Identitäten, die die Vereinbarkeit unterschiedlicher soziokultureller Aspekte aus der Lebenswelt der jungen Frauen in der Migration beinhalten.

Die Transformationsprozesse der Adoleszenz in der Aufnahmegesellschaft, basierend auf dem Prozess der Suche nach Bewältigungsstrategien und Lösungsmöglichkeiten zur Herstellung einer biografischen Kontinuität, bergen große kreative Potenziale, die die Entstehung von Neuem ermöglichen.

Diese Zukunft benötigt vor allem entsprechende soziale und bildungspolitische Rahmenbedingungen, die die Chancengleichheit fördern sowie unterstützend wirken können, wenn es gelingen soll, auf Bewährtem aufzubauen und gleichzeitig neue Wege des interkulturellen Zusammenlebens zu finden.

Fazit

Der Aufbau des Buches ist gut gegliedert und strukturiert, was einen angenehmen Eindruck beim Lesen vermittelt. Es lässt sich durch die verständliche Sprache leicht lesen. Ein gelungenes und sehr zu empfehlendes Buch, in dem junge Frauen iranischer Herkunft, die als Kinder oder Jugendliche während des ersten Golfkrieges nach Deutschland kamen, zu Wort kommen. Die gesammelten Erkenntnisse machen das Buch zu einer aufschlussreichen und lohnenswerten Lektüre.

Rezension von
Dr. Olga Frik
Finanzuniversität, Omsk, Russische Föderation. Ehemalige Lehrbeauftragte und Gastwissenschaftlerin an der Leibniz-Universität Hannover
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Es gibt 45 Rezensionen von Olga Frik.

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Zitiervorschlag
Olga Frik. Rezension vom 25.08.2023 zu: Azita Renken: Neue Wege. Biografische Erzählungen über das Erwachsenwerden in der Ankunftsgesellschaft. ibidem-Verlag (Hannover) 2022. ISBN 978-3-8382-1739-0. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30115.php, Datum des Zugriffs 30.09.2023.


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