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Li Wei: Kampf der Systeme

Rezensiert von Prof. Dr. Georg Auernheimer, 09.02.2023

Cover Li Wei: Kampf der Systeme ISBN 978-3-8382-1672-0

Li Wei: Kampf der Systeme. Die amerikanisch-chinesischen Beziehungen im Zeitalter des strategischen Wettbewerbs. ibidem-Verlag (Hannover) 2022. 293 Seiten. ISBN 978-3-8382-1672-0. D: 39,90 EUR, A: 41,00 EUR, CH: 46,90 sFr.
Reihe: Chinesische Perspektiven / Politik - Band 3.

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Thema

Im Fokus der Studie stehen die wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Beziehungen zwischen den USA und der VR China. Der Autor will das Verständnis der strategischen Beziehung zwischen China als aufstrebendem Land und den Vereinigten Staaten als Hegemonialmacht vertiefen. Es handelt sich für ihn um „eine neue Art von Beziehung zwischen Großmächten“ (55), für deren Verständnis er als Wissenschaftler den „Kompromiss“ zwischen zwei theoretischen Paradigmen sucht (82), nämlich zwischen dem Liberalismus und der realistischen Schule der Politikwissenschaft. Denn: „Die Ausgangssituation der Beziehungen zwischen China und den USA ist die des strategischen Wettbewerbs, aber diese Wettbewerbsbeziehung ist weder ein Konflikt wie der Kalte Krieg noch eine völlig konfrontationsfreie Beziehung“ (23). Den neuen theoretischen Zugang nennt Li Wei „realistischen Institutionalismus“.

Autor

Li Wei hat eine Professur an der School of International Studies der Renmin-Universität in Peking. Er hat in den USA am East Asian Studies Program der Cornell University teilgenommen, wo er teilweise die vorliegende Studie erarbeitet hat.

Hintergrund

China macht als inzwischen größte Handelsmacht mit den dritthöchsten Auslandsinvestitionen den USA Konkurrenz. Seit 2001 ist China Mitglied der Welthandelsorganisation. Inzwischen hat es eigene neue internationale Institutionen wie die Asiatische Infrastruktur- und Investmentbank (AIIB) gegründet. Im Zuge der Öffnung der Volksrepublik und ihrer Integration in das Weltwirtschaftssystem wuchs das Interesse der chinesischen Sozialwissenschaftler:innen an westlichen Theorieansätzen. Man begann „mit einer groß angelegten Übersetzung westlicher, insbesondere US-amerikanischer Werke zu klassischen Theorien der internationalen Beziehungen“ (41). Wer bei Li Wei eine Anknüpfung an marxistische Theorie erwartet, wird feststellen müssen, dass sich nicht einmal eine Spur davon in der Publikation findet.

Die Studie wurde 2016 abgeschlossen. Li Wei war damals überzeugt, dass „offene Militäraktionen und die Androhung von Gewalt“ internationale Beziehungen nicht mehr bestimmen (24). Insoweit, aber nur insoweit ist sein Ansatz des „realistischen Institutionalismus“ inzwischen politisch überholt.

Aufbau und Inhalt

In der ungewöhnlich umfangreichen Einführung verdeutlicht der Autor vor dem Hintergrund exemplarischer historischer Großmachtbeziehungen (z.B. zwischen Sowjetunion und USA) und im Rückblick auf Chinas Aufstieg zur Weltmacht „Schlüsselmomente in der Theorie des internationalen Systemwettbewerbs“. Die Beziehung zwischen den Rivalen China und USA stellt nach Li Wei eine neue „hochkomplexe“ Beziehungsform dar, die wissenschaftliche Fragen aufwirft und nach einer neuen theoretischen Fassung verlangt. Einerseits stellt der Wettbewerb zwischen China und den USA „kein feindliches Kriegsverhältnis“ dar (55). Andererseits sind strukturelle und ideologische Differenzen ebenso wenig zu übersehen wie das Bemühen der USA, den neuen Rivalen in die Schranken zu weisen (56 f.). Schon vorher hatte Li Wei beide Länder als Partner und Konkurrenten charakterisiert, die den Wettbewerb ohne Androhung von Gewalt austragen (24). Wichtig ist ihm, dass wirtschaftliches Eigeninteresse und öffentlicher Nutzen für die internationale Gemeinschaft miteinander verträglich sind. Auf der Tagesordnung steht heutzutage ein „Wettbewerb um die Formulierung von Regeln“ und „das Ringen um Partner“ (67).

Im 2. Kapitel werden die Thesen des realistischen Institutionalismus entwickelt und vorgestellt. Am Anfang wird der Ansatz in Kurzform umrissen: Der realistische Institutionalismus „formuliert die Ansicht, dass das internationale System wichtige gemeinschaftliche Funktionen für alle Mitgliedsstaaten des Systems hat. Das internationale System ist ein sehr wichtiges öffentliches Gut in der internationalen Gemeinschaft, das den Erfordernissen des gemeinsamen Regierens dient; gleichzeitig kann das internationale System von den führenden Ländern selbst als Instrument ihrer eigenen Machtausübung genutzt werden, den speziellen Zielen dieser Länder dienen und damit zu einer Quelle für ihre institutionalisierte Macht werden“ (75). Das System – gemeint sind das Finanzsystem und die internationalen Handelsbeziehungen – ist also durchgehend ambivalent. Mit der „Verlagerung der Machtverhältnisse zwischen den Großmächten“ (ebd.) sei das bisherige System mit Internationalem Währungsfonds, Weltbank, WTO etc. reformbedürftig geworden.

In 2.2 wird ausgeführt, inwiefern das internationale System ein „öffentliches Gut“ darstellt, das heißt für die internationale Gemeinschaft von Nutzen ist, weil es zum Beispiel Sicherheit und Vereinbarkeit der Interessen im Handel gewährleistet. In 2.3 wird unter der Überschrift „Internationale Systeme als private Werkzeuge“ die Nutzung der supranationalen Institutionen wie IWF und Weltbank für nationalen Machterhalt und generell für partikulare Interessen erläutert.

Die Kapitel 3 und 4 dienen der Bestätigung der Doppelfunktion der Institutionen im internationalen Finanzsystem und im Handelssystem.

Das 3. Kapitel ist überschrieben „Der Krieg des internationalen Systems im Finanzsektor“. Eingangs hebt der Verfasser Chinas „proaktive internationale Systemdiplomatie“ hervor. Die Volksrepublik habe zum einen zur Reform der bestehenden Institutionen beigetragen und treibe zum anderen „den Aufbau neuer Institutionen im regionalen und internationalen Finanzwesen“ voran (127). Dass beides nicht reibungslos und konfliktfrei geschieht, wird in dem Kapitel belegt.

Zuerst führt der Autor in 3.1 die Ambitionen und Strategien Chinas auf: die Initiative zur Bildung der G20 und zur Reform von IWF und Weltbank (Gewichtung der Anteile u. Stimmrechte), die Gründung der BRICS-Entwicklungsbank und der AIIB und anderes mehr. In 3.2 wird gegenüber gestellt, wie die USA seit 1944 ihre Finanzkraft und die Kontrolle der Finanzinstitutionen zur zweiten Säule ihrer Hegemonie neben der militärischen Dominanz gemacht haben. Li Wei verweist auf das prozentual hohe Stimmrecht und das Vetorecht, das sich die USA beim IWF gesichert haben, auf die Gewohnheitsrechte in der Personalpolitik und die „währungsbezogenen Privilegien“ des Dollar (154). Anschließend führt er aus, wie die USA ihre in der Finanzkrise gemachten Konzessionen wieder zurückgenommen haben (158 f.). In 3.3 werden Mängel des internationalen Finanzsystems aufgezeigt, das nach Ansicht des Autors unter anderem der Wirtschaftskraft der Schwellenländer nicht gerecht wird.

Thema des 4. Kapitels ist der Kampf um das internationale Handelssystem. Ausgehend vom Aufstieg Chinas zur größten Handelsnation und der gewandelten Wirtschaftsstruktur der USA (Dienstleistungen und Finanzen als neue Kernbranchen) will Li Wei nachweisen, dass die Strategie der USA seit Anfang der 1990er Jahre darauf abzielt, mit bilateralen und vor allem regionalen Freihandelsabkommen wie NAFTA ein für sie günstiges System neben der WTO zu schaffen. Hervorgehoben wird auch das Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (TiSA). Er zeigt aber dann auch, dass China mit eigenen Abkommen auf die Freihandelsstrategie zu antworten versteht (4.2.). Im Abschnitt 4.3 werden Grundlagen des Wettbewerbs im internationalen Handel diskutiert. Maßgeblich für die Legitimität eines Handelssystems ist nach Li Wei seine Rationalität, die sich nach der Gleichheit der Beteiligungsrechte und der Befugnisse der Handelspartner bemisst (226). Die Inklusivität vieler Freihandelsabkommen lässt nach ihm zu wünschen (226 f.).

Im 5. Kapitel wird ein normativer Tenor angeschlagen, weil im Zentrum Global Governance steht, für die China und USA „die beiden wichtigsten Akteure“ seien (229). Der Autor warnt vor „einem feindseligen internationalen Systemwettbewerb“, der Governance zum Scheitern verurteilen würde (238) und hebt die Bedeutung von Vertrauen hervor, was auch den Militär- und Sicherheitsbereich tangiert (243). Abschließend werden Forderungen zur Reform der UNO, zur Energie-, Umwelt- und Klimapolitik formuliert.

Gegenstand von 6. Schlussbemerkungen ist nochmal sein theoretischer Ansatz, den Li Wei in den chinesisch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen bestätigt sieht, die er als „weichen Wettbewerb“ kennzeichnet (273), was mit den Ausführungen in Kapitel 3 und 4 nicht ganz in Einklang zu bringen ist.

Diskussion

Der von Li Wei vorgeschlagene Ansatz des realistischen Institutionalismus kann nach wie vor mit dem Interesse von Sozialwissenschaftlern und Globalisierungsexperten rechnen. Er trifft die Struktur der Beziehungen im Bereich des Handels, wo allgemeiner Nutzen und Eigeninteresse prinzipiell kompatibel sind. Handelssubjekte, ob Unternehmen oder Nationen, müssen an gemeinsamen Regulatoren interessiert sein. Diesen Aspekt hat die politikwissenschaftliche Schule des Realismus, die einseitig das Machtstreben im internationalen Wettkampf zur Grundlage der Politik macht, vernachlässigt. Li Wei bezieht sich kritisch auf diesen Ansatz, womit nebenbei deutlich wird, wie chinesische Sozialwissenschaftler Anschluss an den internationalen Diskurs suchen und bestrebt sind, sich mit eigenen Konzepten dort zu profilieren.

Darüber hinaus gibt die Publikation einen Eindruck von der Art, wie in der chinesischen Gesellschaft der Systemwettbewerb mit den USA wahrgenommen wird oder zumindest bis Mitte der zehner Jahre wahrgenommen wurde, nämlich vertrauensvoll, um nicht zu sagen vertrauensselig.

Aber die Ausführungen des Autors machen auch deutlich, über welch überwältigende Macht die USA nicht nur militärisch, sondern auch wirtschaftlich verfügen, indem sie das Währungssystem und die supranationalen Institutionen kontrollieren.

Fazit

Der Band verdient die Aufmerksamkeit von Sozial- und speziell Wirtschaftswissenschaftler:innen. So überholt er angesichts der aktuellen Eskalation des Konflikts zwischen den USA und der VR China erscheint, so zeigt er zugleich alternative Perspektiven in dieser Beziehung.

Rezension von
Prof. Dr. Georg Auernheimer
Lehrte Erziehungswissenschaft, Schwerpunkt Interkulturelle Pädagogik, in Marburg und Köln.
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Es gibt 92 Rezensionen von Georg Auernheimer.

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ISSN 2190-9245