Georg Theunissen: Autismus und herausforderndes Verhalten
Rezensiert von Ortrud Aden, 01.09.2023

Georg Theunissen: Autismus und herausforderndes Verhalten. Praxisleitfaden Positive Verhaltensunterstützung. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2022. 5 . aktualisierte Auflage. 312 Seiten. ISBN 978-3-7841-3508-3. D: 26,00 EUR, A: 26,80 EUR.
Thema
Der Autor stellt sein Konzept der „positiven Verhaltensunterstützung“ als Praxisleitfaden vor.
Autor
Prof. Dr. Georg Theunissen hatte in Freiburg einen Lehrstuhl für Heilpädagogik inne, später für Geistigbehindertenpädagogik in Halle-Wittenberg. 2012 bis 2019 hatte er eine weitere Professur in Halle-Wittenberg für Pädagogik bei Autismus inne. Damit hatte er im deutschsprachigem Raum die erste Professur in diesem Bereich. Seit 2019 ist er im Ruhestand.
Aufbau
Im Vorwort beschreibt der Autor seine Intentionen für dieses Buch: Es soll einen Praxisleitfaden für das Konzept der „positiven Verhaltensunterstützung“ darstellen. Wesentlich ist für den Autor die wertschätzende Haltung gegenüber Menschen im Autismusspektrum, aber auch gegenüber den Bezugspersonen.
Im ersten Kapitel beschreibt der Autor verschiedene Sichtweisen auf Autismus, angefangen von den Erstbeschreibungen früher Autoren, es folgen eine klinische Sichtweise, die Sicht autistischer Menschen und schließlich eine kurzen Beschreibung der aktuellen neurowissenschaftlichen Erkenntnisse. Diese Grundlagen sind ihm wichtig für einen verstehenden, ressourcen- und stärkenorientierten Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen.
Im zweiten Kapitel geht es zunächst um Abgrenzung zu verschiedenen psychischen Störungen, die explizit nicht Thema dieses Buches sein sollen. Der Autor definiert und reflektiert danach den Begriff des herausfordernden Verhaltens unter verschiedenen Gesichtspunkten.
Im dritten Kapitel beschreibt der Autor die „positive Verhaltensunterstützung“. Wichtig ist ihm die Abgrenzung zu „ABA“: Zwar arbeitet die positive Verhaltensunterstützung auch mit Tokensystemen und Verstärkern. Diese sind aber im Gegensatz zu ABA eingebettet in ein Gesamtkonzept, bei dem der Schwerpunkt auf den Stärken und Ressourcen des Menschen im Autismusspektrum liegt.
An erster Stelle stehen für den Autor die Alltagsarbeit und die Ebene der Institutionen, vor allem der Schule. Er schlägt die Bildung eines „Unterstützerteams“ vor, bei dem alle Beteiligten mitwirken. Es sollen in diesem Team regelmäßige, ausführliche Besprechungen stattfinden, bei denen die gemeinsame Vorgehensweise immer wieder reflektiert und angepasst wird.
An zweiter Stelle stehen gruppenspezifische Angebote. Diese beiden Stufen sieht er als die entscheidenden an, die bei den meisten Problemen deutliche Verbesserungen erreichen.
Erst an dritter Stelle steht die Einzelhilfe in verschiedenen Formen. Diese Stufen werden ausführlich und genau beschrieben. In das Konzept lassen sich zahlreiche weitere Ansätze problemlos integrieren.
Praxisbeispiele und Empfehlungen für Eltern und Familien folgen, Kriterien für einen personenbezogenen Unterstützungsplan schließen das Buch ab.
Inhalt
Im Folgenden möchte ich das erste Kapitel näher beschreiben:
Es geht um Autismus aus verschiedenen Perspektiven. Zunächst beschreibt der Autor vier frühe Sichtweisen auf autistische Symptome: Grunja Evimovna Ssucharewa, Georg Frankl, Hans Asperger und Leo Kanner. Der Autor stellt dabei einen Bezug zur modernen Sicht auf Autismus und der Sichtweise der Selbstvertretungsorganisation Autistic Self Advocacy Network (ASAN). Anschließend setzt er sich mit Autismus aus klinischer Sicht (DSM-5; und ICD 11) auseinander, heute werde nicht mehr zwischen verschiedenen Formen des Autismus differenziert, man spreche von einer „Autismusspektrumsstörung“. Der Autor kritisiert das Fehlen der „Wahrnehmungsbesonderheiten“ beim ICD 11.
Im nächsten Abschnitt Autismus aus Betroffenensichtbeschreibt der Autor die Herangehensweise von verschiedenen Selbstvertretungsorganisationen. Einige lehnen Begriffe wie „Störung“, „Behinderung“ und „Beeinträchtigung“ konsequent ab. Sie sehen Autismus als „neurologische Variation in Form eines menschlichen Seins“ und verwenden ausschließlich Begriffe wie „Mensch im Autismusspektrum“, „Autist:in“ oder „autistischer Mensch“. Andere, hiesige Organisationen setzen sich im Gegensatz dazu dafür ein, dass Autismus als eine eigenständige Behinderungsform anerkannt wird. Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen biete sinnvolle Orientierung: Behinderung entstehe aus der „Wechselwirkung zwischen behinderten Menschen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren“. Dieses Behindertenverständnis liegt auch dem Bundesteilhabegesetz zugrunde.
Anschließend listet der Autor ohne Anspruch auf Vollständigkeit in Anlehnung an ASEAN verschiedene Bereiche auf, die typischerweise Menschen im Autismusspektrum gemeinsam haben. Er fügt den aus seiner Sicht wesentlichen Bereich „emotionale Besonderheiten“ hinzu. Diese Ausführungen sollen aber keineswegs als „Defizitkatalog“ missverstanden werden. Der Autor geht dann explizit auf „Autistische Fähigkeiten“ ein.
Es folgt ein Abschnitt über Erkenntnisse und Annahmen aus der Autismusforschung, die er als Grundlage für einen verstehenden Umgang sieht. Bei seiner Beurteilung legt der Autor auch hier Wert auf eine ausgeglichene, nicht ausschließlich defizitorientierte Sichtweise.
In den folgenden Abschnitten über Autismus und Intelligenz und Autismus als primäre Behinderung geht es um Abgrenzung zu verschiedenen anderen Diagnosen bzw. um mögliche Doppel- und Mehrfachdiagnosen, insbesondere im Zusammenhang mit der Diagnose „Lernschwierigkeiten“.
Im Abschnitt Autismus unter Aspekten der Sozialisation und des Lebenslaufsbeschreibt der Autor die Wechselwirkungen zwischen möglichen überempfindlichen Stressreaktionen und irritierendem autistischem Verhalten einerseits und der Umgebung andererseits. Der Autor beschreibt die vielfältigen Probleme, die häufig daraus entstehen und für autistische Menschen oft über die gesamte Lebenszeit eine hohe Belastung darstellen. Diese Wechselwirkungen verändern sich im Lauf des Lebens, die Entwicklung hänge stark von dem sozialen Umfeld ab.
Insbesondere bei „hochfunktionalem Autismus“ komme es gleichwohl in einigen Fällen dazu, dass Bewältigungsstrategien erlernt und autistische Symptome im Jugend- und Erwachsenenalter kaum mehr sichtbar werden. Möglicherweise nehme die ursprünglich hohe wahrnehmungsspezifische Vulnerabilität ab, ohne jedoch jemals ganz zu verschwinden.
Diskussion
Der Ansatz der „positiven Verhaltensunterstützung“ wird schlüssig begründet und dargestellt. Die vorgeschlagene Bildung eines engagierten „Unterstützerteams“ wäre sinnvoll und wünschenswert, bis dahin ist es aber in den Institutionen leider oft noch ein weiter Weg. Man findet viele Anregungen und Aufzählungen, die sich gut zum Nachschlagen in besonderen Situationen eignen.
In der ICD 11 gibt es mittlerweile auch die Diagnose „Mediensucht“. Zunehmend erlebt man, dass autistische Kinder und Jugendliche regelrecht in diesen Medien versinken und den Realitätsbezug (Schule, Berufsausbildung) völlig verlieren. Im Zusammenhang mit der Abgrenzung zu anderen Diagnosen oder eventuellen mehrfachen Diagnosen hätte ich mir auch über dieses Thema eine Darstellung gewünscht.
Fazit
Das Buch bietet eine Vielzahl von sinnvollen Denkanstößen und Praxisvorschlägen für die Arbeit mit Autist:innen.
Rezension von
Ortrud Aden
M. A. Sonderpädagogik und Rehabilitationswissenschaften, zur Zeit tätig in einer Autismusambulanz
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Es gibt 18 Rezensionen von Ortrud Aden.
Zitiervorschlag
Ortrud Aden. Rezension vom 01.09.2023 zu:
Georg Theunissen: Autismus und herausforderndes Verhalten. Praxisleitfaden Positive Verhaltensunterstützung. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb
(Freiburg) 2022. 5 . aktualisierte Auflage.
ISBN 978-3-7841-3508-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30124.php, Datum des Zugriffs 05.10.2023.
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