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Matthias Lammel, Steffen Lau et al. (Hrsg.): Forensische Psychiatrie - Erfahrungswissenschaft und Menschenkunde

Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 22.12.2023

Cover Matthias Lammel, Steffen Lau et al. (Hrsg.): Forensische Psychiatrie - Erfahrungswissenschaft und Menschenkunde ISBN 978-3-95466-728-4

Matthias Lammel, Steffen Lau, Sabine Rückert, Tatjana Voß, Frank Wendt et al. (Hrsg.): Forensische Psychiatrie - Erfahrungswissenschaft und Menschenkunde. Festschrift für Hans-Ludwig Kröber. MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft (Berlin) 2022. 434 Seiten. ISBN 978-3-95466-728-4.

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Thema

Der Sammelband beinhaltet als Festschrift zum 70. Geburtstag für Prof. Dr. Hans-Ludwig Kröber Texte zur Geschichte, der Theorie, unterschiedlichen Spezialfragen der Forensischen Psychiatrie, ihrem Verhältnis zur Gesellschaft, zu Kriminalprognostik und Behandlungsfragen, sowie feuilletonistische und persönliche Texte, letztere mit individuellem Bezug zum Geehrten. Kröber ist einer der Leuchttürme im forensischen Feld, leitete über 20 Jahre als Direktor das Institut für Forensische Psychiatrie an der Charité in Berlin und verantwortet neben anderen u.a. das fünfbändige Handbuch der forensischen Psychiatrie (https://www.socialnet.de/rezensionen/5141.php), zahlreiche Fachartikel und die Herausgabe der seit 2006 erscheinenden Zeitschrift „Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie“.

Herausgeber*innen und Autor*innen

Die Herausgeber*innen arbeiten bzw. arbeiteten als forensische Psychiater*innen in den Bereichen Begutachtung und Behandlung. Sabine Rückert ist stellvertretende Chefredakteurin der Wochenzeitung „Die ZEIT“. Mitherausgeber Dr. med. Steffen Lau ist im März 2023 verstorben. Die Autor*innen der Einzelbeiträge waren mit dem Jubilar Kröber mehr oder weniger eng privat, vor allem aber beruflich verbunden und sind größtenteils bekannte und namhafte Autor*innen im Feld der Forensischen Psychiatrie.

Aufbau und Inhalt

Die Aufsatzsammlung ist neben einer Einführung in die Kapitel „Persönliches“, „Psychiatrie und Gesellschaft“, „Psychopathologie und forensische Psychiatrie“, „Fähigkeitsgebrauch und Fähigkeitsverlust“, „Prognose und Behandlung“, sowie „Literarisches“ gegliedert. Am Ende des Bandes findet sich ein Schriftenverzeichnis des Werks von Hans-Ludwig Kröber.

Einführung und Geleit

Der Sammelband wird durch eine Beschäftigung mit der fachlichen Verortung des Jubilars eröffnet. Kröber wird dabei als Vertreter der Heidelberger Schule der forensischen Psychopathologie beschrieben, der selbst in der Heidelberger Klinik als Assistenzarzt gearbeitet hat und sich intensiv und kritisch mit den Ansätzen Kurt Schneiders (zum Psychopathiebegriff und zur Psychopathologie) auseinandergesetzt hat, deren Ideengeschichte vorgestellt werden. Der Beitrag Kröbers an der Weiterentwicklung der Forensischen Psychiatrie wird in der kritischen Auseinandersetzung mit „der“ Heidelberger Psychiatrie und die Verknüpfung forensisch-psychiatrischer mit soziologischen, kriminologischen und psychologischen Perspektiven gesehen.

Persönliches

Abschnitt zwei beinhaltet sechs Beiträge, welche die Person Kröber, sein Wirken als Institutsleiter, als Gutachter, als Professor und Ausbilder erfassen, durchgehend aus einer jeweils persönlichen Perspektive der jeweiligen Autor*innen. So finden sich in einem Beitrag (von Hans Amlacher) Kröber-Zitate, die der Autor im Rahmen von Ausbildungsveranstaltungen protokolliert hat, z.B. „Die Dummheit von Richtern oder Gutachtern ist ja keine neue Tatsache“, oder „Das ganze Leben ist eine einzige Anpassungsstörung“, wodurch einerseits die fachliche Person Kröber, anderseits seine Persönlichkeit als streitbarer Diskutant nachvollzogen werden. Für Interessierte an der Person Hans-Ludwig Kröber ergeben sich an der einen oder anderen Stelle der Beiträge spannende Einblicke.

Psychiatrie und Gesellschaft

Ebenfalls sechs Beiträge beinhaltet der folgende Abschnitt zum Verhältnis von Psychiatrie und Gesellschaft. Die einzelnen Texte thematisieren die Rolle des Psychiaters Gustav Aschaffenburgs (ein Pionier der Forensischen Psychiatrie), des Mediziners und Sexualforschers Albert Eulenburg, das Phänomen der Hochstapelei (mit einigen historischen Bezügen), Studienbefunde zum sexuellen Missbrauch an Minderjährigen in katholischen und nicht-kirchlichen Institutionen (eine Art Metaanalyse), eine Auseinandersetzung mit dem englischen Psychiater Lionel Penrose (und dessen frühe Arbeiten zum Ausgrenzungsphänomen störender Gesellschaftsgruppen durch Psychiatrie und Strafvollzug) und Anmerkungen zum Zusammenhang von Schizophrenie, Größenwahn und Gewaltstraftaten (mit drei Fallgeschichten).

Psychopathologie und forensische Psychiatrie

In Abschnitt vier finden sich weitere sechs Beiträge mit ganz unterschiedlicher Zielrichtung: eine Zusammenfassung der Kolumne „Blitzlicht“ Hans-Ludwig Kröbers aus der von ihm mit gegründeten Fachzeitschrift „Forensische Psychiatrie, Psychologie und Kriminologie“, eine kritische Beschäftigung mit Fehldiagnosen in der Psychiatrie, die operationalisierte psychiatrische Diagnostik, eine Beschäftigung mit der Typologie des (misslungenen) erweiterten Suizids, die Fallvignette des „Kannibalen von Rotenburg“ (ein in vieler Hinsicht herausragender Kriminalfall der deutschen Rechtsgeschichte, an dem der Geehrte auch als Gutachter beteiligt war), und eine Auseinandersetzung der besonderen Tätergruppe intelligenzgeminderter straffälliger Menschen.

Fähigkeitsgebrauch und Fähigkeitsverlust

Die Rollen von Gutachter*innen im Strafprozess, die Beurteilung der Schuldfähigkeit bei Methamphetamin-Konsum, die Definition der Aussagetüchtigkeit und strafrechtlichen, sowie zivilrechtlichen Aspekten der Geschäfts- und Testierfähigkeit – mit weiteren sechs Beiträgen folgt in diesem Abschnitt die Umgrenzung ganz unterschiedlicher Fähigkeitsbereiche im forensischen Feld, wobei die Schwerpunkte auf die Rolle von Fachleuten, Gutachtensfragestellungen und Patienten gelegt werden.

Prognose und Behandlung

Der letzte Fachabschnitt fokussiert auf die forensischen Kernfelder Kriminalprognose und Kriminaltherapie. Fragen der Verantwortung bzw. des Risikos forensischer Sachverständiger, Kriminalprognostische Strategien, den Schweregrad von Betäubungsmittelstraftaten, die Besonderheiten im Umgang mit behandlungsunwilligen Gefangenen (in Strafvollzug und Sicherungsverwahrung), medikamentösen Behandlungsstrategien v.a. zur Modulation von Nebenwirkungen und die Situation des Jugendmaßregelvollzugs in Deutschlands werden hier in ebenfalls sechs Beiträgen erschlossen und diskutiert.

Literarisches

Die Festschrift endet mit zwei literarisch-feuilletonistisch gehaltenen Beiträgen zu Person, Werk und Krankheit des Schriftstellers Alfred Henschke (Klabund) und einer „ideengeschichtlichen Spurenlese“, die sich als literarische Spurensuche in New York nach Hannah Arendt und vor allem dem amerikanischen Autor und Literaturkritiker Alfred Kazin entpuppt.

Diskussion

Festschriften für Jubilar*innen im akademischen Umfeld laufen mitunter Gefahr, dass bekanntes und anekdotenhaftes, mitunter wenig Aktuelles oder Relevantes zusammengestellt wird, um einen Band zu füllen, Material vorweisen zu können, Nettigkeiten zu formulieren, also Überflüssiges zu publizieren. Nicht so bei der Festschrift für Hans-Ludwig Kröber. Ein Blick auf die Autor*innenliste zeigt, dass die Beiträge von Menschen verfasst wurden, die über viele Jahre eng im Austausch mit dem Jubilar standen (und noch stehen) und die -der fachlichen und privaten Persönlichkeit Kröbers geschuldeten breiten Themenvielfalt entsprechend- vielgestaltige Themen und Aspekte aufgreifen, die das Fach Forensische Psychiatrie ausmachen. Dabei finden sich auch Beiträge, die bislang andernorts noch nicht veröffentlicht wurden. Insgesamt entsteht mit dem Sammelband ein Überblick über den Zustand der Forensischen Psychiatrie, orientiert am „Leuchtturm Kröber“, wobei neben forensischen Kernthemen (Begutachtung, Behandlungsfragen, spezielle Zielgruppen) auch Randthemen (z.B. im Abschnitt „Literarisches“) Platz finden. Die Festschrift ist damit auch ein Reader zu aktuellen Fragestellungen der Forensischen Psychiatrie und spricht so auch eine Zielgruppe an, die nicht unmittelbar vom Interesse an der Person des Jubilars getrieben einen Einblick in das theoretische und praktische Feld der Forensischen Psychiatrie gewinnen wollen. Gut nachvollziehbar wird die Einordnung des Fachs als Erfahrungswissenschaft (so der Untertitel), wobei gilt, dass Wissenschaft prinzipiell auf Wahrnehmung und Beobachtung gründen, das so gewonnene Wissen empirisch überprüfbar ist. Forensische Psychiatrie als Menschenkunde (so ebenfalls im Untertitel) findet sich im gesamten Werk Kröbers und damit auch in der vorliegenden Festschrift: Denken, Fühlen, Handeln als Ausdruck eines „psychischen Ganzen“ [X] sollen erschlossen und damit erfahrbar gemacht werden, besonders, wenn die beobachtbaren psychischen Äußerungen als Delinquenz stark vom Durchschnitt abweichen und in ihrer Dynamik verstanden sein wollen, ganz im Sinne Paracelsus: „Der ist ein Arzt, der das Unsichtbare weiß, das keinen Namen hat und doch seine Wirkung“.

Fazit

Ein gelungener Reader der als Festschrift nicht nur den Geehrten erfreuen wird, sondern der auch einen aktuellen Streifzug durch den aktuellen Zustand der Forensischen Psychiatrie in Deutschland ermöglicht.

Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Es gibt 177 Rezensionen von Gernot Hahn.

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Zitiervorschlag
Gernot Hahn. Rezension vom 22.12.2023 zu: Matthias Lammel, Steffen Lau, Sabine Rückert, Tatjana Voß, Frank Wendt et al. (Hrsg.): Forensische Psychiatrie - Erfahrungswissenschaft und Menschenkunde. Festschrift für Hans-Ludwig Kröber. MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft (Berlin) 2022. ISBN 978-3-95466-728-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30150.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.


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