Stephan Doering: Resonanz – Begegnung – Verstehen
Rezensiert von Dr. phil. Ulrich Kießling, 09.06.2023
Stephan Doering: Resonanz – Begegnung – Verstehen. Implizite Kommunikation in der therapeutischen Beziehung. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2022. 240 Seiten. ISBN 978-3-608-98513-9. D: 35,00 EUR, A: 36,00 EUR.
Autor
Stephan Doering, geb. 1966, Univ.-Prof., Dr. med., ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychoanalytiker (Wiener Psychoanalytische Vereinigung, Internationale Psychoanalytische Vereinigung), Lehrtherapeut für übertragungsfokussierte Psychotherapie (TFP). Er leitet die Klinik für Psychoanalyse und Psychotherapie an der Medizinischen Universität Wien, an der er den Lehrstuhl für Psychoanalyse und Psychotherapie innehat. Er ist Past President der European Society for the Study of Personality Disorders (ESSPD) und der International Society of Transference-Focused Psychotherapy (ISTFP). Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Diagnostik und Behandlung der Persönlichkeitsstörungen sowie in der Psychotherapieforschung.
Thema
Eines der beruflichen Hauptthemen Stephan Doerings hat ihren Niederschlag in diesem Buch gefunden: Die Methodologie und Technik der psychodynamischen Behandlung von psychosozial schwer beeinträchtigten Menschen.
Entstehungshintergrund
Wie sein wissenschaftliches Vorbild Otto F. Kernberg [1] ist Doering Vertreter einer nicht ekklektischen Integration verschiedener psychoanalytischer Kulturen; es gelingt ihm hier, mehr noch als Wolfgang Mertens, Aspekte sehr unterschiedlicher psychodynamischer Behandlungsverfahren so abzuhandeln, dass methodologische Probleme scheinbar mühelos überwunden werden und die Leserin den Eindruck einer großen Gesamtschau psychoanalytischer Techniken bekommt. Im klinischen Alltag stehen postkleinianische und intersubjektive Ansätze auch behandlungstechnisch oft auf Kriegsfuß, eine methodologische Integration lässt auf praktische Konsequenzen in der Zukunft hoffen.
Aufbau/​Inhalt
Das Buch umfasst drei Teile:
I Psychoanalytische Konzepte der therapeutischen Beziehung bietet vor allem einen historischen Exkurs um Freuds Auseinandersetzung mit der Telepathie und um die Beiträge wichtiger Vertreter:innen der psychoanalytischen Schulen:
- Epistemologische Vorbemerkung 2. Der Sensualismus 3. Telepathie 4. Theodor Reiks Beitrag 5. Die Übertragung 6. Die Gegenübertragung 7. Die projektive Identifikation 7.1. Melanie Klein 7.2. Wilfred Bion 8. Donald W. Winnicott 9. Das interpersonelle Feld 10. Resümee
Der II. Teil umfasst Empirische Befunde zur impliziten Interaktion:
- Die frühe Interaktion stellt auf 30 Seiten die Befunde der empirischen Säuglingsforschung dar.
- Embodied Communication: auf 41 Seiten die Bedeutung von größtenteils unbewussten körperlichen Abstimmungsprozessen vom Gesichtsausdruck über die Spiegelneuronen, verkörperte Erinnerungen bis hin zur Erörterung der Bedeutung von Geruch etwa als emotionales Signal oder auch im Rahmen der somatosensorischen Synchronisierung.
Der III. Teil beschreibt die implizite therapeutische Beziehung aus der Perspektive bedeutender Forschungsgruppen, in unterschiedlichen Settingvarianten sowie in unterschiedlichen Phasen des therapeutischen Prozesses.
Auf ein Schlusswort folgen Literatur und Bildverzeichnis sowie ein Portrait des Autors.
Diskussion
Bei diesem Text liegt Stephan Doerings Verdienst vor allem in der zugleich differenzierenden und integrierenden Zusammenschau von traditionellen psychoanalytischen und modernen psychodynamischen Erkenntnisperspektiven; mittels einer modernen erkenntniskritischen Metaperspektive gelingt ihm eine Neufassung Freudscher Methodologie:
Ausgehend von klassischen sensualistischen Erkenntnistheorien (Aristoteles, Thomas von Aquin, John Locke und Gottfried Wilhelm Leibniz) verweist der Autor auf das bis heute unausgeschöpfte Potenzial der klassischen Philosophie und zeigt auf, wie Sigmund Freuds Konzept des Unbewussten zunächst Ausdruck einer logischen Spekulation war und sich über dessen Auseinandersetzung mit parapsychologischen Phänomenen, Übertragung und Gegenübertragung immer mehr einem empirischem Befund nähert.
Über Theodor Reiks Metapher eines „Hörens mit dem dritten Ohr“ und Melanie Kleins Konzept der Projektiven Identifizierung und Winfred Bions Werk einer Theorie des Denkens (Learning from Experience, Elements of Psycho-Analysis, Transformations) nähert D. sich den Empirikern des Unbewussten bzw. der impliziten Kommunikation.
Die empirische Säuglingsforschung in einem strengen experimentalpsychologischen Korsett (z.B. das „Still-Face-Experiment“, von E. Tronick (1975 erstmals publiziert) oder das „Visual-Cliff-Experiment“ von Klinnert et al. (1983)) liefert bedeutungsvolle wissenschaftliche Einsichten zur Begründung des intersubjektiven Paradigmas der psychodynamischen Psychotherapie. Weitere Bereicherungen im Forschungssetting geben quasi experimentelle Untersuchungen des therapeutischen Prozesses etwa durch Daniel Stern und die Boston Change Process Study Group, durch Peter Fonagy (z.B. das Konzept des markierten Spiegelns) und in Nachfolge Paul Ekmans sowie Rainer Krause, der anhand synchronisierter Videoaufzeichnungen von Patient:in und Therapeut:in die Wahrscheinlichkeit eines Therapieerfolgs vom Gelingen der impliziten Affektkommunikation ableiten kann, selbst wenn das den Beteiligten zunächst verborgen bleibt.
Obwohl die unterschiedlichen wissenschaftlichen Projekte sehr komprimiert dargestellt werden, bekommt man einen guten Einblick in ihre Bedeutung für den Erkenntnisfortschritt und kann nachvollziehen, warum Doering das, was häufig als Schulenstreit wahrgenommen wird, stattdessen als sich vervollständigende integrierte Konzeptionen der emotionalen Veränderung beschreibt. Implizite und explizite Kommunikationsformen in der therapeutischen Beziehung müssen natürlich in Wechselwirkung und integrierend betrachtet werden: Die Vorstellung, eine korrekte Deutung löse einen neurotischen Konflikt war immer schon falsch, auch wenn die „Deutungskunst“ vor 50 Jahren als das Nonplusultra der Psychoanalyse gesehen wurde und selbst Otto Kernberg noch in den 90er Jahre die Auffassung vertrat, allein Übertragungsdeutungen hätten einen therapeutischen Effekt.
Fazit
Stephan Doering hat ein sehr gut lesbares Buch geschrieben, das mehr bietet als eine gelungene Beschreibung impliziter Kommunikation in der therapeutischen Beziehung: Doering erläutert schlüssig sowohl das Zusammenwirken mit klassischen psychoanalytischen Konzepten und Vorgehensweisen (Freud, Reik) als auch mit den Perspektiven der britischen Objektbeziehungstheorie (Klein, Bion, Winnicott). Das Werk eignet sich als einführende Lektüre für Mediziner und Pädagogen und in jedem Fall auch als Ermutigung für erfahrene Psychotherapeuten, die einen Blick über die Scheuklappen ihres jeweiligen Heimat-Instituts wagen wollen.
Literaturverzeichnis
Winfred Bion (1992): Lernen durch Erfahrung, Frankfurt am Main: Suhrkamp
Winfred Bion (1997):Transformationen, Frankfurt am Main: Suhrkamp
Winfred Bion (2006): Aufmerksamkeit und Deutung, Tübingen: Edition Diskord
Peter Fonagy, György Gergely, Elliot L. Jurist, Mary Target (2002): Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst, Stuttgart: Klett-Cotta
Otto F. Kernberg (1998): Neue Entwicklungen und Kontroversen in der Psychoanalytischen Behandlungstechnik in: Irmhild Kohte-Meyer: Über die Schwierigkeit, die eigene Geschichte zu schreiben, Tübingen: Edition diskord
Rainer Krause (1997, Band 1): Allgemeine Psychoanalytische Krankheitslehre. Grundlagen
Rainer Krause (1998, Band 2): Allgemeine Psychoanalytische Krankheitslehre. Modelle
Wolfgang Mertens (2010/2011/2012): Psychoanalytische Schulen im Gespräch. 3 Bände. Bern: Hans Huber,
Theodor Reik (1948/dt. 1976): Höhen mit den dritten Ohr. Die innere Erfahrung eines Psychoanalytikers, Hamburg: Hoffmann & Campe
Daniel Stern und die Boston Change Process Study Group (2012): Veränderungsprozesse. Ein integratives Paradigma, Frankfurt am Main: Brandes & Apsel
[1] Otto F. Kernberg hat mehrfach bedeutende Beiträge zur Integration höchst disparater psychodynamischer Theorien geleistet. Besonders beeindruckend für eine deutsche Leserschaft ist m.E. Kernberg: Neue Entwicklungen und Kontroversen in der psychoanalytischen Behandlungstechnik, in Kohte-Meyer 1998, S. 169-194
Rezension von
Dr. phil. Ulrich Kießling
Dipl.-Sozialarbeiter/Soziale Therapie, Analytischer Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche, Familientherapeut und Gruppenanalytiker, tätig als niedergelassener Psychotherapeut in Treuenbrietzen (Projekt Jona) und Berlin, Dozent, Supervisor und Selbsterfahrungsleiter bei SIMKI und an der Berliner Akademie für Psychotherapie (BAP) von 2004 bis heute. Psychotherapiegutachter der KVB
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Zitiervorschlag
Ulrich Kießling. Rezension vom 09.06.2023 zu:
Stephan Doering: Resonanz – Begegnung – Verstehen. Implizite Kommunikation in der therapeutischen Beziehung. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2022.
ISBN 978-3-608-98513-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30156.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.
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