Maria Jakob, Nadine Jukschat et al.: Radikalisierungsprävention im Gefängnis
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Klug, 09.06.2023
Maria Jakob, Nadine Jukschat, Maruta Herding: Radikalisierungsprävention im Gefängnis. (Sozial-) Pädagogisches Handeln unter erschwerten Bedingungen. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. 190 Seiten. ISBN 978-3-7799-7234-1. D: 38,00 EUR, A: 39,10 EUR.
Autorinnen
Dr. Maria Jakob hat in Leipzig und Warschau Kultur- und Politikwissenschaften sowie International Relations studiert. Sie promovierte in Leipzig als Kultursoziologin mit einer Arbeit zu Einbürgerungsfeiern in Deutschland. Seit 2017 ist sie als wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut eV, (DJI) in der wissenschaftlichen Begleitung von Modellprojekten zur Prävention und Deradikalisierung in Strafvollzug und Bewährungshilfe tätig.
Prof. Dr. Nadine Jukschat hat in Leipzig Kulturwissenschaften, Theaterwissenschaften und Journalistik studiert. Nach Stationen am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen e.V. und dem DJI ist sie seit 2021 Professorin für Angewandte Soziologie an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Hochschule Zittau/Görlitz.
Dr. Maruta Herding hat in Freiburg, Kairo und Paris Soziologie, Philosophie und Middle East Studies studiert und wurde in Cambridge mit einer Dissertation zu islamischer Jugendkultur in Westeuropa promoviert. Seit 2011 arbeitet sie am DJI, wo sie derzeit in der wissenschaftlichen Begleitung von Modellprojekten zur Prävention und Deradikalisierung in Strafvollzug und Bewährungshilfe tätig ist.
Zusammenfassung
Die Autorinnen beschreiben ihre Intention zum Buch wie folgt:
„In diesem Buch werden wir aufzeigen, unter welchen Umständen Präventions- und Deradikalisierungsarbeit im Gefängnis geleistet wird, in welcher Hinsicht sie schwierig ist, aber auch, dass die Möglichkeit ihrer Umsetzung doch nicht ganz so unwahrscheinlich ist, wie man es zunächst annehmen würde. Unser Ziel ist eine Bestandsaufnahme (sozial-)pädagogischer, zivilgesellschaftlicher Arbeit in der Radikalisierungsprävention und Deradikalisierung in Haft mit besonderem Fokus auf die Herausforderungen, mit denen diese Arbeit konfrontiert ist, und auf die Strategien des Umgangs mit diesen Herausforderungen. Diese Schwerpunktsetzung birgt – so die Hoffnung – einiges Erkenntnispotenzial im Hinblick auf Lerneffekte und Professionalisierung der Praxis. Entstanden ist dieses Buch im Rahmen unserer Tätigkeit in der Programmevaluation des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ am Deutschen Jugendinstitut, in deren Rahmen wir die Modellprojekte zur „Prävention und Deradikalisierung in Strafvollzug und Bewährungshilfe“ seit 2017 wissenschaftlich begleiten.“ (S. 10)
Inhalt
Zunächst wird das Feld der sozialpädagogischen Präventions- und Deradikalisierungsarbeit in deutschen Justizvollzugsanstalten beschrieben, indem deutsche und internationale Forschungen referiert werden. Anschließend wird die Lage der Radikalisierungsprävention im deutschen Strafvollzug dargestellt. Schließlich wird das Modellprojekt „Demokratie leben!“ zur Prävention und Deradikalisierung in Haft vorgestellt, das die Autorinnen seit dem Jahr 2017 wissenschaftlich begleitet haben. Im nächsten Kapitel geht es um den Hintergrund und die Methoden der Studie (Methodisches Vorgehen, Datenerhebung, Auswertungsmethodik). Die Wahl der Untersuchungsmethode (narrative Interviews) wird ebenso begründet, wie die daraus sich ergebenden Probleme (Universalisierbarkeit der Ergebnisse) und die gefundene Lösung in der objektiven Hermeneutik.
Einige Seiten werden nun der Thematik der „Rahmenbedingungen und Herausforderungen der pädagogischen Arbeit in Haft“ gewidmet. Im Wesentlichen geht es dabei um wahrgenommene „Paradoxien pädagogischen Handelns im Haftkontext“. Der Umgang mit folgenden Paradoxien wird im Lichte der Untersuchung diskutiert:
- Institutionell-professionelle Verhältnisbestimmungen: Sicherheit vs. Pädagogik
- Konzeptionell-inhaltliche Verhältnisbestimmungen: Prävention vs. Pädagogik
- Situativ-interaktive Verhältnisbestimmungen: Paradoxien und herausfordernde Dynamiken in der pädagogischen Interaktion.
Mit einem Kapitel über „Distanzierungs- und Deradikalisierungsarbeit im Einzelsetting“ wird die Bearbeitung fortgesetzt. Neben den Rahmenbedingungen von Einzelfallarbeit im Haftkontext (Strukturelle Bedingungen, Pädagogische Ansätze und fachliche Bezüge), wird der Umgang mit Herausforderungen und Paradoxien in der Einzelfallarbeit thematisiert (z.B. Phasen des Prozesses, Beziehungsarbeit). Das letzte Kapitel ist mit „Die Rolle der Justizbediensteten“ überschrieben. Es geht darin um die „Zusammenarbeit von Vollzug und Zivilgesellschaft“, gemeint sind hier Projekterfahrungen der sogenannten „zivilgesellschaftlichen Akteure“ mit den Gefängnisbediensteten. Des Weiteren werden die „spezifischen Herausforderungen durch Fachkräfte mit demokratiefernen Einstellungen“ und die Fortbildungen für Justizbedienstete reflektiert. Das Kapitel schließt mit einer Betrachtung zur „Arbeit am ‚System Haft‘“.
Die Darstellungen der Erfahrungen aus den Projekten werden thematisch zusammengefasst, dabei wird immer nach demselben Muster vorgegangen: Es werden passend zu den Überschriften bzw. Themenfeldern Zitate aus Interviews referiert, das Zitat wird jeweils meist dem Duktus des Zitierten folgend noch einmal paraphrasiert, bisweilen erfolgt eine kurze bewertende Stellungnahme zu den kontroversen Themen (z.B. Methode und/oder Beziehung?). Am Ende jedes Abschnittes werden die Äußerungen noch einmal verdichtet und ebenfalls sehr kurz bewertet.
Bemerkenswert ist eine Passage, die es verdient, herausgehoben zu werden. Die Autorinnen schreiben:
„[Es] scheinen aber auch mehr als reine „Einzelfälle“ unter Bediensteten zu sein, die eine problematische Einstellung zeigen. Darüber hinaus weisen unsere Untersuchungen darauf hin, dass solche Einstellungen (in wohl unterschiedlichen Intensitäten mit einem sich im Material andeutenden Schwerpunkt in einigen ostdeutschen Bundesländern) flächendeckend und bundesweit anzutreffen sind. Systematische wissenschaftliche Untersuchungen über demokratieferne bzw. rechtsextreme Einstellungen unter Justizbediensteten liegen bislang nicht vor. […].“ (S. 146 f.)
Im Folgenden wird über „menschenfeindliche“ Erfahrungen mit Bediensteten berichtet, die unter den Stichworten Rassismus, fremdenfeindliche Aussagen, Islamfeindlichkeit zusammengefasst werden. Doch es kommt, wenn das überhaupt möglich ist, noch schlimmer: Gefunden wurden ferner „völkische Vorstellungen“, antistaatliche und antidemokratische Einstellungen, rechte Popkultur, ja sogar eine „weit verbreitete Leugnung der Existenz von Rechtsextremismus oder von Problemen mit Rechtsradikalen in den Anstalten selbst bei Anstaltsleitungen“ (S. 149).
Über ihre Datengrundlage zu diesen doch sehr schwerwiegenden Vorwürfen schreiben die Autorinnen:
„Der vorliegende Abschnitt systematisiert unsere empirischen Erkenntnisse zu Fachkräften, die demokratieferne Einstellungen aufweisen. Unsere Datengrundlage hier ist allerdings äußerst schwierig. Wir verfügen nicht über einen ansatzweisen grundlegenden oder umfassenden Überblick über die Lage in sämtlichen deutschen Justizvollzugsanstalten. Die hier vorgenommene Problemdarstellung basiert vielmehr auf eigenen Eindrücken aus unseren teilnehmenden Beobachtungen, auf Berichten aus der Arbeit der untersuchten Modellprojekte sowie Justizministerien und von Anstaltsvertreterinnen und -vertretern.“ (S. 147 f.)
Diskussion
Wenn wir an der letzten Beobachtung der Autorinnen anknüpfen, erkennen wir, fast beiläufig, einen Skandal: Im staatlich finanzierten Justizvollzug, in dem eigentlich Deradikalisierungsprozesse stattfinden müssten, tummeln sich offensichtlich unter den Bediensteten und sogar unter Anstaltsleitern Rechtsradikale, Rassisten, Menschen mit antidemokratischen Einstellungen, ja sogar Beamte, die Gewalt legitimieren und damit das Gewaltmonopol des Staates unterminieren. Man hätte sich gewünscht, dass dieser Aspekt vertieft wird, jedenfalls bleibt die Rückmeldung an die Ministerien hoffentlich nicht ohne Folgen. Man darf den Autorinnen danken, dass sie diese Zustände öffentlich gemacht haben, selbst wenn es nur Einzelfälle wären.
Damit ist auch schon das „Highlight“ dieses Buches beschrieben, das −abgesehen von diesem und anderen interessanten Einblicken in die Lebenswelt der Gefängnisse − einige Schwächen aufweist: Da ist zunächst und zuallererst eine für eine akademische Veröffentlichung auffallende Theorieschwäche: Es finden sich keine klaren Begriffsdefinitionen (z.B. zum Präventions- oder zum Radikalisierungsbegriff), die an vielen Stellen angeschnittenen fachlichen Diskurse werden häufig ohne die einschlägige Literatur dargelegt: bspw., wenn es sich um das Resozialisierungsthema im Allgemeinen handelt (wo z.B. das Handbuch der Resozialisierung von Cornel et al. als für die Sozialpädagogik unverzichtbar gelten dürfte; vgl. Cornel et al. 2018), oder um das Thema der Organisationsentwicklung im Gefängnis, wo man ohne die Literaturbasis von Bernd Maelicke (2015) kaum auskommen kann. Es sind des Weiteren die Forschungen des Risk-Need-Responsivity-Ansatzes nach Bonta/​Andrews (2017), das Good-Lives-Model nach Ward/Willis (2013) oder die Desistance-Theorien nach Maruna (2001), um nur einige zu nennen, die trotz unbestreitbarer Relevanz für die Resozialisierung nicht rezipiert werden, von den einschlägigen sozialpädagogischen bzw. sozialarbeiterischen Lehrbüchern der Wissenschaft und Praxis angewandter Kriminologie (z.B. Kawamura-Reindl/​Schneider 2015; Klug/Niebauer 2022) oder den in bestimmten Diskursen unverzichtbaren Veröffentlichungen (Zobrist/Kähler 2017 zum Zwangskontext oder Gahleitner 2017 zum Beziehungsthema) ganz zu schweigen. Nicht einmal die Literatur zum Deradikalisierungsthema selbst ist abgebildet, so fehlt beispielsweise der Bezug zu dem Themenheft „Deradikalisierung“ der Zeitschrift Bewährungshilfe (2018) mit einigen, unmittelbar sehr einschlägigen Beiträgen. Diese Feststellung ist nicht trivial, denn liest man beispielsweise die Ausführungen der Autorinnen zu Fragen der Organisationsentwicklung in der JVA, möchte man fragen, warum die Autorinnen nicht wenigstens in der Reflexion auf in großer Breite bereits vorhandenes Wissen rekurrieren wollen, um auf gesicherter Literaturgrundlage Gründe für das Scheitern der entsprechenden Projekte im Lichte der Wissenschaft zu analysieren.
Vielleicht liegt der Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage in einem erkennbaren Misstrauen zur Handlungsrelevanz von Wissenschaft überhaupt, die sich beispielsweise in Begriffen wie „Modulbürokratie“ und „Verzettelung“ ausdrücken, wenn es um Manuale und strukturierte Lernarrangements geht. Hier sind die Autorinnen der Meinung, wichtiger sei (neben der pädagogischen Qualifikation) die Erfahrung (S. 94). Ohne auf die Probleme eines (rein) erfahrungsbasierten Praxisverständnisses eingehen zu können (vgl. z.B. Kahneman 2012), sei an dieser Stelle Tucholsky zitiert: „Laß dir von keinem Fachmann imponieren, der dir erzählt: 'Lieber Freund, das mache ich schon seit zwanzig Jahren so!' – Man kann eine Sache auch zwanzig Jahre lang falsch machen.“ (Tucholsky, zit. in Peter Panter 1932, 378) Es mag sein, dass die Darstellung der Projektergebnisse auch aus diesem Grund in der Hauptsache im deskriptiven Modus verbleibt; die bewertenden Anteile jedenfalls sind sehr knappgehalten und häufig ohne einschlägige Literatur.
Aus klassisch sozialpädagogischer Sicht nicht überraschend ist die Skepsis der Autorinnen gegenüber Standardisierung (die Autorinnen versteigen sich zu der Aussage, der Standard sei „sich am Einzelfall zu orientieren“ S. 113), Manualen (stattdessen werden „ergebnisoffene“ Prozesse präferiert, S, 59), und Anfragen nach der Wirksamkeit der Maßnahmen. Dass die Frage, die sich der Rezensent während seiner gesamten Lesetätigkeit in immer größerer Ungeduld gestellt hat − ob die verschiedenen Maßnahmen (z.B. ein Kochkurs, Kunst und Theater, offene Gesprächsgruppen) auch tatsächlich im Sinne der Deradikalisierung wirken − nicht völlig unter den Tisch gefallen ist, ist einer Justizangestellten zu verdanken, die sie in einer Fortbildung gestellt hat und die dankenswerterweise von den Autorinnen aufgenommen wurde, freilich ohne sie zu beantworten. Wenn diese Frage aber nicht beantwortet wird und zudem die wichtigsten konzeptionellen Grundlagen (vgl. Klug 2003) der Projekte nicht bekannt sind, ist leider eine methodische Beliebigkeit nach dem Motto „anything goes“ nicht auszuschließen. Man kann allen Akteuren/​-innen von Herzen glauben, dass sich ihre Deradikalisierungs-Projekte „state of the art“ begründen lassen, nachvollziehen kann man es nicht. Leider.
Noch eine letzte (eher humoristische) Anmerkung: Wer das Buch liest, wird viel über alle möglichen Formen von „Arbeit“ erfahren. So gibt es (ohne Gewähr auf Vollständigkeit): Beziehungs-, Biografie-, Beratungs-, Ausstiegs-, Unterstützungs-, Verunsicherungs-, Deradikalisierungs-, Distanzierungsarbeit, was offenbar alles irgendwie pädagogische Arbeit ist.
Fazit
Das vorliegende Buch hat den Charakter eines (für Insider geschriebenen) Projektberichtes nicht verloren und will es vielleicht auch gar nicht. Insofern ist es insbesondere für diejenigen interessant, die sich mit dem Projekt „Demokratie leben“ auseinandersetzen wollen.
Zitierte Literatur
Bewährungshilfe (2018), Zeitschrift für Soziales, Strafrecht, Kriminalpolitik: Themenheft Deradikalisierung, 65. Jg., Heft 4
Bonta J./Andrews D. (2017): The psychology of criminal conduct (Sixth Edition), London; New York: Anderson
Cornel H. et al (2018): Resozialisierung. Handbuch, Baden-Baden: Nomos
Gahleitner S. (2017): Soziale Arbeit als Beziehungsprofession: Bindung, Beziehung und Einbettung professionell ermöglichen, Weinheim; Basel: Beltz Juventa
Kahneman D. (2012): Schnelles Denken, langsames Denken (7. Auflage), München: Penguin
Kawamura-Reindl G./Schneider S. (2015): Lehrbuch Soziale Arbeit mit Straffälligen, Weinheim/​Basel: Beltz Verlag,
Klug W. (2003): Mit Konzept planen – effektiv handeln, Freiburg: Lambertus
Klug W./Niebauer D. (2022): Soziale Arbeit in der Justiz, Stuttgart: Kohlhammer
Maelicke B. (2015): Das Knast-Dilemma. Wegsperren oder resozialisieren? Eine Streitschrift. München: C. Bertelsmann
Maruna S. (2001): Making Good. How ExConvicts reform and rebuild their Lives. Washington: American Psychological Association.
Peter Panter (1932): „Schnipsel“, in: Die Weltbühne, XXVIII. Jahrgang, Nummer 10, 8. März 1932, S. 378
Ward T./Willis G. M. (2013): Die Rehabilitation von Straftätern: Das Good Lives Modell. Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie,7(2), 122–132
Zobrist P./Kähler H. D. (2017): Soziale Arbeit in Zwangskontexten, München: Ernst Reinhardt
Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Klug
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Fakultät Soziale Arbeit
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Zitiervorschlag
Wolfgang Klug. Rezension vom 09.06.2023 zu:
Maria Jakob, Nadine Jukschat, Maruta Herding: Radikalisierungsprävention im Gefängnis. (Sozial-) Pädagogisches Handeln unter erschwerten Bedingungen. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2022.
ISBN 978-3-7799-7234-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30160.php, Datum des Zugriffs 19.01.2025.
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