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Jennifer Eckhardt: Spannungsfeld Nichtinanspruchnahme

Rezensiert von Prof. Dr. Ernst-Ulrich Huster, 28.09.2023

Cover Jennifer Eckhardt: Spannungsfeld Nichtinanspruchnahme ISBN 978-3-7799-7208-2

Jennifer Eckhardt: Spannungsfeld Nichtinanspruchnahme. Wenn Bedürftige auf den Sozialstaat verzichten. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. 333 Seiten. ISBN 978-3-7799-7208-2. D: 38,00 EUR, A: 39,10 EUR.
Reihe: Wissenskulturen.

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Thema

Über den sog. Missbrauch von Sozialleistungen wird politisch viel gestritten, obwohl es dazu so gut wie keine empirischen Untersuchungen gibt. Über den ‚freiwilligen‘ Verzicht auf die Inanspruchnahme von Leistungen des Sozialstaates, auf die ein Rechtsanspruch – dem Grunde nach – besteht hingegen wird politisch nur selten und auch wissenschaftlich eher randständig diskutiert. Dabei ist seit der Studie von Helmut Hartmann zur „Dunkelziffer“ [1] der Nichtinanspruchnahme von Leistungen damals des BSHG und den Nachfolgeuntersuchungen von Irene Becker und Richard Hauser [2] bekannt, dass je nach Förderbereich bis zu 50 Prozent der Hilfeberechtigten Leistungen der Mindestsicherung nicht in Anspruch nehmen. Es werden pauschale Erklärungen angeführt: Unwissenheit, Schamgefühle, Überforderung der Betroffenen. Doch was führt letztendlich zu der Entscheidung, sei es sich erst gar nicht um derartige Hilfen zu bemühen oder irgendwann zu sagen: „Ich brauche euch nicht!“? (S. 130)

Die vorgelegte Studie geht über die allgemein bekannten Statistiken hinaus und befragt 11 Betroffene in biografischen Interviews nach Verlauf und Gründen für die Nichtinanspruchnahme von Leistungen der Mindestsicherung. Es geht um die Frage, welche Anforderungen der Sozialstaat an Menschen stellt, die hilfsbedürftig sind (Mitwirkungspflicht), um das Wechselspiel von „rechtlicher Einschließung“ und „soziale Ausgrenzung“ (Kronauer [3]). In welcher Weise werden „Eigenverantwortung“, „Bedürftigkeit“ und „Solidarität“ miteinander verknüpft? Der Blick in die Verarbeitungsmechanismen konkreter Personen, die auf die Realisierung ihres Rechtsanspruchs auf soziale Unterstützung bewusst verzichten, führt zu wichtigen Anfragen an den Sozialstaat, seine rechtlichen Grundlagen, seine finanzielle Ausstattung, auf die Interaktion zwischen staatlichem Handeln und Leistungsangeboten, letztlich auch zwischen persönlichem Verhalten von Inhabern öffentlicher Ämter und Funktionen wie von Leistungsberechtigten. Die vorgelegte Studie erschließt ein wichtiges Forschungsfeld, daneben eine öffentliche Diskussion, wie denn die „Maxime der Menschenwürde“ (S. 15), auch im konkreten sozialstaatlichen Handeln gesichert werden kann.

Autorin

Dr. Jennifer Eckhardt ist Sozialwissenschaftlerin an der Sozialforschungsstelle der TU Dortmund, Fakultät Sozialwissenschaften. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Ungleichheitsforschung, gesellschaftliche Teilhabe, das Spannungsverhältnis Inklusion/​Exklusion sowie Subjektivierungsforschung. Dem dient die intensive Beschäftigung mit sozialpolitischen Interventionen und mit Fragen des Diversity Mainstreamings. Sie hat an der Entwicklung des Themenfeldes „Digitale Teilhabe/​Inklusion“ mitgewirkt.

Aufbau

Der Band gliedert sich in neun Kapitel. Das einleitende 1. Kapitel entfaltet Fragestellung und Ziel der Untersuchung. Kapitel 2 und 3 analysieren die theoretischen Grundlagen der Untersuchung. Kapitel 2 fragt nach Genese und Wandel der Kategorie „Bedürftigkeit“ und die sich daraus ergebenden Folgen für den sozialen Ausschluss von Personen(-gruppen) aus dem „absichernden Sozialstaat“ (S. 41). Kapitel 3 entfaltet luzide die sozialstaatlichen Subjektivierungsweisen, mittels deren der Sozialstaat individuelles Handeln formiert und zugleich den Verzicht Bedürftiger mit induziert.

Kapitel 4 präzisiert unter Einbeziehung der Forschungslandschaft die Fragestellung der empirischen Untersuchung: „Welche sozialstaatlichen Formierungsversuche nehmen die Verzichtenden auf welcher Wissensgrundlage wahr? Wie bearbeiten sie diese wahrgenommenen Formierungsversuche vor dem Hintergrund biografischer bzw. sozialisationsspezifischer Dispositionen und lebensweltlichen Eigenheiten? Welche tatsächlichen Subjektivierungsweisen zeigen sich? Welche Dispositive bringen die Verzichtenden auf dieser Grundlage in Anschlag und wie lässt sich dies kulturwirksam verorten?“ (S. 94). Dieser Fragestellung folgend zeichnet Kapitel 5 systematisch nach, wie es denn, ausgehend von der Biografie, letztlich zur sozialstaatlichen Subjektivierung und zur Umsetzung von Dispositiven kommt. Kapitel 6 legt die wissenschaftstheoretischen und praktischen Grundlagen der empirischen Analyse und des Forschungsdesign dar.

Kapitel 7 bildet das Kernstück der empirischen Untersuchung: Ausführlich werden die 11 interviewten Personen vorgestellt, ihre Biografien entfaltet und schließlich herausgearbeitet, welche Formierungsversuche die einzelnen erfahren und wie sie diese in ihr Handeln des Verzichts transformiert haben.

Kapitel 8 wertet diese Interviews systematisch auf der Grundlage der in Kapitel 2 und 3 entfalteten theoretischen Fragestellungen aus. Es werden Muster des Verzichts herausgearbeitet, zugleich die negativen Folgen des Bedürftigkeitsdispositivs herausgestellt. In Kapitel 9 schließlich formuliert die Autorin ihr Fazit.

Inhalte

Empirische Untersuchungen verweisen auf eine hohe Dunkelziffer bei der Nichtinanspruchnahme von Leistungen der Mindestsicherung, teils bewusst, teils als Folge von Nichtwissen, Ängsten und bürokratischen Hürden. Dabei ist die Inanspruchnahme von Leistungen des Sozialstaates insgesamt an ein wechselseitiges Beziehungsgefüge zwischen Kommodifizierung (Akzeptanz der Eingliederung in die erwerbsförmige Lebensform) und De-Kommodifizierung (temporäre Suspendierung daraus) und Re-Kommodifizierung (Wiedereingliederung in das Tauschverhältnis von Arbeitskraft und Lohn) gekoppelt (S. 17). Die Studie will den Verzicht Bedürftiger „relational begreifen“ (S. 21), um die realen „Handlungsbedarfe im Feld der Armutsbekämpfung zu ermitteln“ (S. 20). Dieses führt zur Frage, wodurch sich der Bedarf an einer Inanspruchnahme von Mindestsicherungsleistungen legitimiert – durch die zentrale, geschichtlich gewandelte Kategorie der „Bedürftigkeit“, die heute unterstellt, dass der bzw. die Hilfesuchende unfähig ist, „sich selbst im Sinne der aktivierungspolitischen Imperative ‚selbstverantwortlich‘ zu verhalten.“ (S. 40)

Im Handeln des bzw. der Verzichtenden kommen Normen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zum Tragen, die sich das Individuum als Subjekt aneignet, umdeutet oder auch zurückweist. In diesem Prozess der Subjektivierung sucht der bzw. die Einzelne nach Antworten darauf, wie mit der hegemonialen Wissensordnung umzugehen ist. Dispositive, das unsichtbare Netz handlungspraktischer Wirksamkeiten (S. 60), beeinflussen das Denken und Handeln des bzw. der Einzelnen – nicht deterministisch, aber doch in hohem Maße bestimmend. Sie erfahren Formierung und suchen nach ihrer Position in asymmetrischen Machtbeziehungen, wie sie „sich angesichts unterdrückender Verhältnisse als handlungsfähig“ erleben können (S. 83). Der Sozialstaat verlagert Verantwortung, da das Individuum eigenverantwortlich die Maxime des Gemeinwohls übernehmen soll. Es kommt zum Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Widerstand gegen Machtwirkungen (Foucault). Dieses führt zur Kritik an „neosozialer Staatlichkeit“ (S. 105), durch die die Adressat*innen ihrer alltäglichen Routinen und ihrer Alltagskompetenz „nachhaltig enteignet“ werden. [4]

Kapitel 7 widmet sich ausführlich der Wiedergabe der biografischen Interviews mit 11 Verzichtleistenden (in einem Falle ‚unfreiwillig‘ als Folge einer Fehlentscheidung des Jobcenters, die im Nachhinein juristisch aufgehoben wurde). Die jeweilige Darstellung unterrichtet zunächst über Kindheit, Jugend und Schulzeit, sodann über Berufsausbildung und Berufstätigkeit, die Erfahrung bei Nichtinanspruchnahme von Leistungen der Mindestsicherung. Analytisch werden dann die wahrgenommenen Formierungsversuche sowie die Subjektivierungsweisen beim Umgang mit dieser Situation zusammengefasst. In den elf Interviews kommen sehr unterschiedliche Facetten zum Tragen, die zur Nichtinanspruchnahme führen: Es wird deutlich, dass sozialisationsbedingt die Normen der Gesellschaft im Sinne von autonomer Verantwortlichkeit für das eigene Leben geteilt werden, dass es aber beim Umgang im Beruf und mit Behörden zu Brüchen kommt, indem eben diese Eigenverantwortlichkeit in Fremdbestimmung umgeformt zu sein scheint bzw. tatsächlich wird. Teils gibt es neue Kollektive, denen sich die Betroffenen anschließen, teils werden individuelle Auswege gesucht, z.T. auch im Bereich illegaler Betätigung. Alle 11 Interviewten hatten keine unterhaltsbedürftigen Kinder, mussten also nur für sich selbst Entscheidungen treffen bzw. waren nur selbst davon betroffen.

Zusammenfassend ordnet die Autorin diese Verhaltensformen in vier Raster ein: 1. Wille als „Verwalter*in“ des eigenen Lebens in Erscheinung zu treten; 2. Freiheit und Askese gegen produktive Konsumperson; 3. Selbstversicherung der eigenen Identität als Macher; 4. Selbstermächtigung und Ent-Unterwerfung, Wille sich aus der selbstverschuldeten Lage selbst zu befreien (S. 274 f). Mit Foucault gesprochen geht es in unterschiedlicher Weise zwar, letztlich aber um die Herstellung „einer Reihe von Selbstverhältnissen“, die eine kämpferische und eine therapeutische Funktion haben (S. 306). [5] Dabei überwiegt die Kritik an untragbaren Umgangsweisen der Mitarbeitenden in Jobcentern. Der Sozialstaat wird zwar nicht gänzlich abgelehnt, aber er wird als reformbedürftig angesehen. Kernpunkt der Kritik ist der „Gegensatz aus Aktivitätsforderungen bei gleichzeitiger Voraussetzung von Passivität“ (S. 299). Dem bzw. der Einzelnen wird letztlich über den Appell zur Eigenverantwortung Sozialverantwortung für die Gesellschaft übertragen, da sozialstaatliche Hilfen letztlich zu Lasten aller anderen gingen (S. 305). Das Paradox allerdings ist, dass der bzw. die Verzichtende letztlich das tut, „was der neosoziale Staat verlangt: sich zum Wohle aller um sich selbst zu kümmern.“ (S. 308). Dem Bedürftigkeitsdispositiv komme insofern ebenfalls eine sytemstabilisierende Funktion zu, als es eine „Normalitätsgrenze“ markiert – für die oberhalb, nicht runter zu rutschen, für die unteren, sich anzustrengen, dass sie hoch kommen (S. 309). Diese gouvernementale Regierungstechnik schließt Formen der Armutsbewältigung aus, die aus dem Kreis der Betroffenen selbst kommen (S. 312).

Die Autorin schließt auf Grundlage ihrer empirischen Befunden mit der Forderung: „Nicht die ‚bedürftigen‘ Akteure müssen somit ihre Ansprüche nachweisen, sondern vom Grundsatz muss Politikgebung so ausgestaltet sein, dass Teilhabe prinzipiell für jeden möglich sein sollte. Dies bedingt eine Konzeption des Menschen als Träger von unveräußerlichen Menschenrechten, die aber dann ihrerseits nicht als feststehende Konstante begriffen, sondern potenziell veränderlich entworfen werden müssen. Mit einer inklusiven Teilhabepolitik könne auch eine gegenseitige Verantwortung re-naturalisiert werden und die Legitimationsgrundlagen des Sozialstaats“ gestärkt werden (S. 316 f).

Diskussion

Die Nichtinanspruchnahme von Leistungen der sozialen Mindestsicherung führt im Regelfall zu einem Lebensstandard, der unterhalb dessen liegt, was die Gesellschaft als ein Niveau festgelegt hat, das der „Würde des Menschen“ entspricht, wie etwa im SGB XII formuliert ist. Dabei zeigen die Interviews zum einen erhebliche Strukturmängel bei der Verwaltung dieser Mindestsicherungsleisten. Diese sind nicht hinnehmbar und stehen im Gegensatz zur Verknüpfung von Sozial- und Rechtsstaatlichkeit im Begriff des „sozialen Rechtsstaates“ gemäß Artikel 20 GG: Der Sozialstaat ist Rechtsstaat, er besteht auf festen Regelungen. Das SGB I schreibt eine Beratungspflicht der Behörden vor, Entscheidungen unterliegen der verwaltungsrechtlichen und schließlich der gerichtlichen Überprüfung durch eine in dem Nachkriegsdeutschland eigens geschaffenen Sozialgerichtsbarkeit. Nur: „Die Verhältnisse, sie sind nicht so!“ [6] Im Rahmen des 3. Hessischen Sozialberichts geführte Interviews mit Alleinerziehenden und mit Mitgliedern der Freien Wohlfahrtspflege haben gezeigt: 30 – 40 Prozent der vorgelegten Bescheide der Sozialbehörden waren fehlerhaft, konnten nur mit externer Hilfe korrigiert werden; die Alleinerziehenden selbst waren oftmals dazu nicht in der Lage und nahmen dies schweigend – Verzicht leistend – hin, weil sie dafür keine Energie hätten und weil diese Zeit bei der Sorgearbeit fehle. In einer bundesdeutschen Großstadt hatte eine kirchliche Initiative vor einem Jobcenter einen Stand mit professionellen Kräften eingerichtet, sodass ‚Kunden‘ der Agentur für Arbeit vor und nach dem Gang zur Behörde sich beraten lassen und ggf. sogleich sei es eine korrekte Entscheidung erreichen bzw. gegen eine falsche Widerspruch einlegen konnten. Als sich der Behördenchef beim zuständigen Landesbischof über diese Aktion beschwerte, soll dieser geantwortet haben, jeder möge seine Arbeit korrekt machen, dann gäbe es keine Konflikte! Ein Letztes: Behördenintern gibt es Rankings darüber, wer besonders erfolgreich ist, den finanziellen Aufwand der Behörde zu verringern – die dabei angewendeten ‚Methoden‘ werden dabei nicht erfasst!

Der Sozialstaat ist Rechtsstaat – dieser Tatsache ist Rechnung zu tragen: Die Interviews im Rahmen des 3. Hessischen Sozialberichts haben die Schwierigkeiten bei den wechselseitigen Anrechnungsmodalitäten, beim Dschungel um die Nachrangigkeit einzelner Leistungen, bei Regelungen zur Nachweispflicht (etwa: Alleinerziehende müssen den Nachweis erbringen, dass sie keinen Unterhalt bekommen, nicht etwa der Unterhaltsverpflichtete, dass er gezahlt hat) und bei anderem mehr verdeutlicht. Ansprüche durchzusetzen erfordert mitunter hohe Kenntnisse und einen langen Atem. Ein Interview mit einem alleinerziehenden Vater machte deutlich, dass er mehrfach Widerspruch einlegen musste, bis er endlich eine gesetzlich ihm zustehende Leistung bekommen hat. [7] Die vorgelegte Studie greift dieses zu Recht und gut belegt auf. Es stellt sich nur die Frage, ob diese inakzeptablen Unzulänglichkeiten konstitutiver Bestand von Sozialstaatlichkeit sind, bzw. diesen zu einem „neosozialen“ machen. Das diesem zugeschrieben Aktivierungsdispositiv ist nicht neu – es gehörte zwar schon immer zu sozialem Handeln sei es privater Kreise oder kommunaler bzw. staatlicher Armutspolitik, aber es wird jeweils unterschiedlich gehandhabt.

Die in den 1990er Jahren, vor allem dann nach der Jahrhundertwende erfolgte Forcierung des Forderns ggb. dem Fördern war Politik: Die Gesetzesentwürfe wurden im Gesetzgebungsverfahren etwa von der Opposition im Bundesrat verschärft, erst später wurde ein Teil dieser Verschärfungen zurückgenommen. Dasselbe ereignete sich im Rahmen der Gesetzgebung um das sog. Bürgergeld, wo eine breite Front politischer Kräfte Teile der angestrebten Erleichterungen etwa im ersten Jahr der Arbeitssuche wieder kassieren wollten. Der „neosozial“ apostrophierte Sozialstaat ist das Ergebnis von Politik, darüber findet die politische Auseinandersetzung statt, er ist reformbedürftig, auch reformfähig, aber nicht er, sondern die ihn jeweils konkret ausgestaltenden politischen Akteure sind verantwortlich für dessen Stärken und Schwächen.

Zu Recht beruft sich die Autorin auf die Gültigkeit der Grund- und Menschenrechte, zugleich darauf verweisend, dass diese keine feststehende Konstante sind. Erinnert sei daran, dass schon die Menschenrechtserklärung der franz. Nationalversammlung von 1789 neben allen anderen Grundrechten in Artikel 17 das Eigentum als „heilig“ bezeichnet; es wird auch in Artikel 14 des GG. geschützt: Nicht erst der Raub an jüdischem Eigentum und dem Eigentum von anderen „Feinden“ im In- und Ausland während des sog. Dritten Reiches haben gezeigt, dass Eigentum in der Tat geschützt gehört. Aber schon Adam Smith hat die Eigentümer darauf verpflichtet, je nach Höhe des Eigentums einen Anteil am staatlichen Aufkommen zu leisten. Doch die Rechtsordnung schützt Eigentum auch vor Überforderung durch die Höhe der Besteuerung. Es bleibt das Spannungsverhältnis zwischen Eigentumsrechten und der Verpflichtung, zur Daseinsvorsorge der Bürgerinnen und Bürger einen Beitrag zu leisten. Gesetzgebung und verwaltungsmäßige Handhabung bei der Ausgestaltung von Leistungen der Mindestsicherung sind diesem Spannungsverhältnis zuzuordnen.

Die Feststellung der Bedürftigkeit bzw. die Aufforderung zur Mitwirkung sind staatliche Instrumente. Vieles läuft dabei auch gut, zumindest zufriedenstellend. Aber auch das ist wahr: Hier wird seitens mancher staatlicher Stellen (wenn dieser globale Ausdruck erlaubt ist) sehr oft ‚geholzt‘. Das ist nicht hinnehmbar, nicht hinnehmbar ist auch, dass die Fallzahlen pro Mitarbeiter*in meistens so hoch sind, dass inakzeptable Beratungssituationen entstehen. Auch müssen Beratende supervisorisch betreut werden. Denn die Hinnahme des Verzichts auf Mindestsicherungsleistungen dient nur vordergründig der Wiederherstellung der Würde des bzw. der Hilfeberechtigten durch diesen bzw. diese selbst: Er bzw. sie lebt keineswegs in selbstgesuchter Askese, sondern letztlich behördlich gezwungen auf einem Niveau, das das vom Bundesverfassungsgericht festgelegte soziokulturelle Existenzminimum unterschreitet bzw. das nur außerhalb der bestehenden Rechtsordnung im Einzelfall illegal ‚aufgestockt‘ wird. Artikel 1 des GG verpflichtet alle staatliche Gewalt auf den Schutz der „Würde des Menschen“! Schritte müssen dabei sein, die Gesetze vom Dschungel der Nachrangigkeiten und Anrechenbarkeiten zu entschlacken, die punitive Bearbeitungsformen in Behörden abzustellen und insgesamt die ungeprüfte sowie nicht belegte Behauptung massenhafter missbräuchlicher Nutzung von Sozialleistungen zu unterlassen. Denn zur Würde des Menschen gehört die selbstverständliche Inanspruchnahme dieser Leistungen – und sei es mit Mitteln des Rechtsstaates. Letzteres dann aber gründlich und sei es mit sozialanwaltlicher Hilfe.

Die vorgelegte Studie leistet einen sehr wichtigen Beitrag zur Binnenjustierung sozialstaatlichen Handelns. Es bleibt leider unklar, was „neosozial“ meint, Sozialstaat würde reichen. Dieser ist Rechtsstaat. Und die Studie zeigt auf, wie dieser mitunter malträtiert wird, sich dabei darauf zurückziehend, dass der bzw. die ‚Bedürftige‘ letztlich Verantwortung für die Staatsfinanzen insgesamt trage. Wie aber hat der große Sozialethiker Oswald von Nell-Breunig schon vor Jahrzehnten gesagt: Der Staat hat eine Vorleistungspflicht, damit der Einzelne selbstverantwortlich handeln kann! [8] Die Studie knüpft genau da an und unterfüttert diesen Anspruch luzide.

Fazit

Spannend wäre nun der Vergleich: Wo handeln Sozialbehörden korrekt und im Sinne Artikel 1 GG. Deutlich würde, wo hier objektive und wo subjektive Problemlagen vorliegen – in der Interaktion von Institution und Anspruchsberechtigten. Eine Vermutung: Letztlich würde der Sozialstaat ‚billiger‘, wenn korrekt gearbeitet werden würde, weil dann viele wiederholende Verwaltungsakte hinfällig würden!

Quellen

[1] Helmut Hartmann: Sozialhilfebedürftigkeit und „Dunkelziffer der Armut“. Forschungsbericht des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik. Köln 1981

[2] Irene Becker und Richard Hauser: Dunkelziffer der Armut. Berlin 2005.

[3] Martin Kronauer: Die neue soziale Frage: Armut und Ausgrenzung in der Großstadt heute. In: Walther, U.J. (Hrsg.): Soziale Stadt – Zwischenbilanzen. Ein Programm auf dem Weg zur Sozialen Stadt? Wiesbaden 2022, S. 46

[4] Ellen Bareis und Helga Cremer-Schäfer: Episoden sozialer Ausschließung. Definitionskämpfe und widerständige Praktiken. Festschrift zum 65. Geburtstag von Helga Cremer-Schäfer. Münster 2013, S. 152

[5] Michel Foucault: Schriften in vier Bände. Dits et Ecrits. Band IV 1980 – 1988, Frankfurt am Main 2005, S. 427 f.

[6] Bertolt Brecht: Dreigroschenoper. In: Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Band 1, S. 225, Frankfurt am Main 1997

[7] Hessisches Ministerium für Soziales und Integration: 3. Hessischer Sozialbericht, Wiesbaden 2021, S. 255 ff, besonders S. 267 ff und S. 282

[8] Oswald von Nell-Breuning

Rezension von
Prof. Dr. Ernst-Ulrich Huster
Evangelische Hochschule RWL Bochum und Justus Liebig-Universität Gießen
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Es gibt 7 Rezensionen von Ernst-Ulrich Huster.

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Zitiervorschlag
Ernst-Ulrich Huster. Rezension vom 28.09.2023 zu: Jennifer Eckhardt: Spannungsfeld Nichtinanspruchnahme. Wenn Bedürftige auf den Sozialstaat verzichten. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. ISBN 978-3-7799-7208-2. Reihe: Wissenskulturen. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30163.php, Datum des Zugriffs 11.11.2024.


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