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Thorsten Moos, Hanns-Stephan Haas et al. (Hrsg.): Diakonische Ethik

Rezensiert von Dr. Christian Geyer, 27.03.2023

Cover Thorsten Moos, Hanns-Stephan Haas et al. (Hrsg.): Diakonische Ethik ISBN 978-3-17-042492-0

Thorsten Moos, Hanns-Stephan Haas, Beate Hofmann, Christoph Sigrist (Hrsg.): Diakonische Ethik. Systematisch-theologische Beiträge. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2023. 300 Seiten. ISBN 978-3-17-042492-0. 59,00 EUR.
Reihe: DIAKONIE - 26.

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Thema

Der Sammelband widmet sich der theologisch-ethischen Reflexion von Diakonie und konzentriert sich dabei auf ihre wohlfahrtsstaatliche Erscheinungsform in Gestalt von Sozialunternehmen auf „Quasi-Märkten“ im Raum der Kirche. Die sogenannte unternehmerische Diakonie, so konstatiert Thorsten Moos in seiner Einleitung, habe aufgrund spezifischer Rahmenbedingungen „einen hohen Bedarf an ethischer Reflexion“, dem „mit den Mitteln Systematischer Theologie“ exemplarisch nachgegangen werde (S. 7).

Im Mittelpunkt der verschiedenen Überlegungen steht die Frage nach dem spezifischen Ethos der Diakonie in Gestalt sozialwirtschaftlicher Unternehmen in der Öffentlichkeit. Es ist das Anliegen des Autors, Diakonie einerseits als helfendes Handeln (ohne religiösen Mehrwert) dem Verstehen zu erschließen und zugleich eine religiöse und kirchliche Rationalität zur Geltung zu bringen, die die transzendente Dimension des Hilfehandelns sichtbar und sprachfähig macht. Insofern argumentiert Thorsten Moos zwischen den Positionen kirchlicher und säkularer Diakonie.

Die vermittelnde Argumentation wird an unterschiedlichen Orten diakonischer Praxis kontextualisiert. Der Autor reflektiert Grundlagen, Praxisfelder, die öffentliche Dimension und das Arbeitsrecht der Diakonie.

Autor

Thorsten Moos ist Professor für Systematische Theologie (Ethik) an der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg. Zuvor hatte der studierte Physiker und Theologe von 2017 – 2021 eine Professur für Diakoniewissenschaft und Systematische Theologie/​Ethik an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/​Bethel inne.

Aufbau

Der Sammelband umfasst 18 Einzelbeiträge aus den Jahren 2013 bis 2021, die um eine Einleitung mit der Überschrift „Herausforderungen diakonischer Ethik“ ergänzt wurden. Die Aufsatzsammlung ist in vier Teile gegliedert:

I. Grundlagen und analytische Perspektiven

II. Praxisfelder

III. Öffentliche Diakonie

IV. Arbeitsrecht

Ein Verzeichnis der Erstveröffentlichungen und ein Literaturverzeichnis runden den Band ab.

Inhalt

Thorsten Moos entfaltet sein „Modell einer konkreten und kontextuellen theologischen Ethik der Diakonie“ (S. 17) als eine „Ethik der Handlung“ und als eine „Ethik der Organisation“ (S. 12). Der Basso continuo dieser Beiträge ist die Frage nach dem spezifischen Ethos diakonischer Handlungen/​Praxis und Organisationen. Der erste Teil ist den Grundlagen und analytischen Perspektiven gewidmet. Insofern fragt der Autor im ersten Beitrag nach der religiösen Rationalität des Helfens, um den „inneren Zusammenhang von Religion und organisiertem Helfen in der Gegenwart“ (S. 22) aufzuzeigen. Die Religion, so Thorsten Moos, vermag es, die Dimension der Transzendenz, die dem Helfen eigen ist, zu reflektieren und zu artikulieren („Rationalität I“, S. 32), wodurch der Sinn und Zweck des Helfens und dessen Geltungsanspruch deutlich wird („Rationalität II“, S. 32) und zugleich auf praktischer Ebene eine Anleitung zum Umgang mit den immanenten „Erwartungsüberschüssen“ zu geben („Rationalität III“, S. 33). Dass die religiöse Rationalität kein Alleinstellungsmerkmal diakonischer Organisationen ist, sehr wohl aber eine Ressource zur Steuerung von sozialen personenbezogenen Dienstleistungsunternehmen, hält der Autor einerseits fest, um andererseits deutlich zu machen, dass er unter Religion den christlichen Glauben und die Religionsgemeinschaft namens Kirche meint. Die Kirche ermögliche einen Raum „kritisch-religiöser Kommunikation“, ohne den die Rationalität des Helfens zu einer „Arbeitgeberideologie“ degradierte (S. 35).

Der Nexus zwischen diakonischer Organisation und Kirche wird im zweiten Beitrag unter der Überschrift Kirche bei Bedarf untersucht und beschrieben. Thorsten Moos arbeitet hier eindrücklich heraus, dass das diakonische Handeln, also die intentionale Tätigkeit zu helfen, keinen religiösen Mehrwert hat, sondern ein allgemein humanes und wirksames Handeln ist. Das „Helfen [ist] kein Zeichen, kein Verkündigungs- oder Bezeugungsakt“ (S. 50). Das spezifische, christliche, Ethos wird stattdessen im Akt der religiösen Deutung sichtbar, die als hermeneutische und kommunikative Aufgabe bei der diakonischen Organisation adressiert wird. Thorsten Moos hält fest: Die religiöse Kommunikation über das Helfen ist „Glaubenskommunikation; dann und insofern ist Diakonie ‘Kirche‘“ (S. 61).

Inwiefern andersherum die Kirche als Unternehmen für Segensdienstleistungen verstanden werden kann, reflektiert der Autor im dritten Beitrag. Die Pointe der Überlegungen liegt in der „religiös-ökonomischen Doppelkodierung des Dienstleistungsbegriffs“ (S. 68), wohingegen der Unternehmensbegriff für Kirche abgelehnt wird, weil die „Organisationstranszendenz der Organisation Kirche“ (S. 69) dazu führe, dass sich Kirche nicht ökonomisch oder organisationstheoretisch verorten lasse. Aus der Perspektive einer theologischen Metaphysik mag diese Argumentationsfigur plausibel erscheinen, organisationstheoretisch leuchtet sie nicht ein. Demnach dürfte Kirche auch keine staatsanaloge Verwaltungsbehörde sein und organisiert sich dennoch wie eine solche. Ohnehin müsste zunächst präzise definiert werden, was unter einem „Unternehmen“ verstanden wird.

Der vierte und letzte Beitrag des Grundlagenkapitels wendet sich einem organisationswissenschaftlichen Theorieansatz, der von der Diakoniewissenschaft aufgegriffen wurde, zu: Die Multirationalität diakonischer Unternehmen. Thorsten Moos zeigt die Spannungsfelder dieses Theorieansatzes auf und plädiert für eine „Praxistheorie der (Multi-)Rationalität“ (S. 74), die plurale Rationalitäten und Rationalitätspraktiken kritisch, reflexiv und öffentlich (bezogen auf eine Sinngemeinschaft) diskutiert und anwendungsbezogen vermittelt.

Der zweite Teil ist Praxisfeldern der Diakonie gewidmet. Hier versammelt der Autor sieben Beiträge, die exemplarisch für das diakonische Handeln als organisiertes Hilfehandeln stehen. Es handelt sich um Beiträge zu einer Ethik der Organisation (Bahnhofsmission, Unternehmensführung und Diakonische Kultur) und zu einer Ethik der Handlung (Medical Care, Eingliederungshilfe, Assistenz und Pflege, Assistierter Suizid). Zwei Beiträge aus der Reihe Organisationsethik sollen im Folgenden näher betrachtet werden.

Im Hinblick auf die Rolle theologischer Vorstände (Unternehmensführung) spiegelt sich die Frage nach dem diakonischen Ethos bzw. der religiösen Rationalität in der diakonischen Organisation als „Frage nach der Rolle der Theologie in der Unternehmenssteuerung“ (S. 125). Der Beitrag ist eine Systematisierung autoethnografischer Reflexionen theologischer Vorstände in zwanzig Thesen. So arbeitet Thorsten Moos ein dreifaches „Relevanzproblem“ heraus. Die Relevanz der Theologie ist sowohl diskursiv als auch professionell und institutionell problematisch geworden (S. 125 f.). Daneben zeigt er auf, dass die zentrale Rolle der Theologie in der „Deutung“ der Unternehmenswirklichkeit gesehen wird, ohne dass explizit gemacht wird, „was sich denn genau durch jene Deutungen erschließt“ (S. 127). Als konsensfähig macht er aus, dass die „Theologie … die Selbstreflexivität der Unternehmensführung insbesondere mit Hinblick auf deren Grenzen“ erhöhe (S. 127). Ob damit das Relevanzproblem gelöst ist, lässt Moos offen. Schließlich fokussiert er als Ergebnis die „personale Repräsentanz des Diakonischen“ (S. 130) in der Funktion des theologischen Vorstands (Geschäftsführers), der damit zum Ort wird, an dem das Diakonische „sichtbar und kritisierbar“ wird (S. 130). Die vielfältigen Spannungsfelder, die mit einer hierarchischen Verortung des Diakonischen und der Aufgabe der Unternehmensführung verbunden sind, sofern der theologische Vorstand nicht bloß repräsentative Aufgaben wahrzunehmen hat, werden nicht thematisiert.

Wenn es um das Diakonische, die diakonische Identität oder das Proprium geht, wird in der Diakoniewissenschaft seit geraumer Zeit von der Diakonischen Kultur gesprochen. Dieser Begriff „soll gerade dasjenige Surplus bezeichnen, das das diakonische Helfen über die bloß warenförmige Dienstleistung hinaushebt“ (S. 149). Kultur, Organisationskulturen, werden so zum Differenzkriterium, das den religiösen Mehrwert zum Ausdruck bringt. Thorsten Moos grenzt sich von dieser Position ab und argumentiert, dass die diakonische Kultur weder ein „Gegengift“ für eine ökonomische Rationalisierung und Säkularisierung noch „ein selige[r] Garten“ einer „Dienst-, Glaubens- bzw. Menschheitsgemeinschaft“ ist (S. 160). Diakonische Kultur(en) stünden vielmehr in der Spannung, dass Anspruch („Erwartungsüberschuss“) und Wirklichkeit nicht deckungsgleich sind. Und zugleich ist der diakonischen Organisation eine „Organisationstranszendenz“ eigen, die es gilt in den Strukturen und Prozessen der diakonischen Organisation „glaubhaft präsent zu halten“ (S. 162). Es geht dann um nicht weniger als das Kirchesein der sozialen personenbezogenen Dienstleistungsorganisation („Kirche bei Bedarf“) unter den sozialstaatlichen Rahmenbedingungen.

Die Beiträge des dritten Teils verhandeln die Frage nach der Differenz unter dem Oberthema Öffentliche Diakonie. Hier schließt Thorsten Moos an die soziologische Theorie des „doing universality“ an, um zu zeigen, dass „Diakonie ein komplexes Bündel von Praktiken differenzbewusster Allgemeinheitsproduktion“ (S. 167), in verschiedenen Öffentlichkeiten ist. Darin spiegelt sich gleichsam die Universalität des Heilsversprechens Gottes, das die Diakonie als Organisationstranszendenz in die Öffentlichkeit trägt. Kirche ermögliche diese universale Perspektive und schütze die Diakonie so vor einer Partikularisierung des Religiösen als bloße „Unternehmenskultur“ (S. 180). Auf dieser Basis wird die „prophetische Diakonie“ als eine Position und Praktik des Diakonischen in der Öffentlichkeit auf unterschiedlichen Ebenen („convictions“, organizational“, „personal“, „religious symbols“, „analytically“) konzeptualisiert (S. 191 ff.). Am Beispiel der diakonischen Geschichtsschreibung und entsprechender Narrative verdeutlicht Moos beispielhaft sowohl die Produktion von Allgemeinheit bezogen auf spezifische Öffentlichkeiten als auch die Deutungsmachtkonflikte.

Im vierten und letzten Teil des Buches versammelt der Autor Beiträge zum kirchlichen Arbeitsrecht. Mit dem verfassungsmäßigen Selbstbestimmungsrecht der Kirchen, an dem die Diakonie im Hinblick auf das Arbeitsrecht partizipiert, kommt eine verfassungsrechtliche Sonderstellung der Kirchen in Deutschland in den Blick, die genutzt wird, um die eigene Identität zu normieren. Insofern überrascht es nicht, dass der erste Beitrag im vierten Teil nach der Diakonischen Identität und Pluralität im Umfeld des Arbeitsrechts sucht. Einerseits kritisiert Moos die Stilisierung des Arbeitsrechts zum Status confessionis, andererseits will er an diesem Privileg auch mit Blick auf die Diakonie festhalten, weil sie ja „Kirche bei Bedarf“ sei und das kirchliche Arbeitsrecht dazu beitragen könne, „die religiöse Ansprechbarkeit in diakonischen Organisationen zu gewährleisen“ (S. 232). Diese funktionale Rechtfertigung des kirchlichen Arbeitsrechts wird um rechtsethische Überlegungen zu einem „Objektivitätsanspruch gerichtlicher Prüfung“ (S. 233) und organisationsethische Skizzen zu einer diskursiven Verständigung über das Kirchesein der Diakonie (S. 225 ff.; 233) ergänzt.

Im Rahmen des kirchlichen Arbeitsrechts ist die juristische Figur der Dienstgemeinschaft konstitutiv für die Legitimation des Sonderweges. Obwohl dieser Begriff historisch, soziologisch und theologisch hinreichend problematisiert wurde, nutzt ihn Thorsten Moos im Sinne einer „Integrationssemantik“, um das Gegensätzliche zu würdigen und zu koppeln. Mit diesem Begriff soll ein „über-professioneller Sachbezug von Diakonie“ (S. 235) angesichts der Mulitrationalität zur Geltung gebracht werden. Denn es muss nach Moos darum gehen, kontinuierlich eine Öffentlichkeit herzustellen und zu pflegen (doing universality), der es um das Diakonische im Sinne eines Ethos, einer Kultur geht. Eine solche Dienstgemeinschaft ist als eine „Diskursgemeinschaft“ (S. 226) gedacht, die ein „selbständiges kirchliches Arbeitsrecht“ absichern soll. Allein die Frage, wozu ein solches Spezialrecht für die Diskursgemeinschaft notwendig ist, wird nicht erörtert.

Das kirchliche Arbeitsrecht verlangt von Arbeitnehmer:innen eine besondere Loyalität, die Thorsten Moos rechtlich, historisch und analytisch reflektiert. Das Selbstbestimmungsrecht der Kirche und die Tradition der inneren Bindung an den Dienst/die Aufgabe zeige sich als Erwartung wechselseitiger Treuepflichten. Unterdessen habe sich ein plurales Verständnis von Loyalität entwickelt, das einer „eher funktional … ausgerichteten Form der Verpflichtung“ folgt (S. 250). Infolgedessen steht weniger die formale Loyalität (z.B. Kirchenmitgliedschaft) als vielmehr eine „reflexive Loyalität“ (S. 253) (z.B. Haltung) im Fokus. Eine reflexive Loyalität ist auf kontinuierliche „Verpflichtungsdiskurse im Unternehmen“ (S. 254) angewiesen und entspricht dem Leitbild der diakonischen „Diskursgemeinschaft“ (S. 226). Eine solche Loyalität manifestiere sich, so Thorsten Moos, in der „Bereitschaft des Einzelnen, sich am Kommunikationsraum ‘Kirche‘ und insbesondere an der Suche danach zu beteiligen, wie das Helfen in einem christlichen Unternehmen angemessen zu gestalten sei“ (S. 253), ohne dass „der kirchlich-diakonische Sinnhorizont … als eine zusätzliche … Verpflichtungsdimension erscheint“ (S. 254). Diese paradoxale Argumentationsfigur ist aus Sicht der unternehmerischen Praxis eine äußerst anspruchsvolle bis unlösbare Aufgabe, die von Thorsten Moos nicht anwendungsbezogen reflektiert wird.

Im letzten Beitrag des Sammelbandes fragt der Autor Wie viel Religion verträgt die Arbeitswelt? Diese Fragestellung klingt allgemeiner als sie gemeint ist. Es geht konkret um die Plausibilität des kirchlichen Arbeitsrechts als verfassungsmäßiges Sonderrecht. Thorsten Moos argumentiert, trotz seiner Kritik an der Ausgestaltung, für eine rechtsethische und theologische Plausibilisierung des kirchlichen Arbeitsrechts. Und zwar deshalb, so lässt sich die Argumentation verstehen, damit die rechtliche Gewährleistung, der Schutz, die Ermöglichung „von Religion im organisierten Helfen im Raum der Kirchen“ gegeben ist und somit die „Diakonie nicht nur ‚weltlich‘, sondern auch ‚kirchlich‘“ bleibt (S. 258).

Diskussion

Der Sammelband ist insofern ein Geschenk, als hier nun die wichtigen Diskursbeiträge von Thorsten Moos zum diakonischen Ethos versammelt, gut aufzufinden und im Zusammenhang rezipierbar sind. Die Zusammenstellung der 18 Beiträge folgt inhaltlichen Kriterien und nicht der Chronologie der Erstpublikationen. Die eingefügten Querverweise zwischen den Beiträgen unterstützen eine vertiefte Rezeption insbesondere dann, wenn die Beiträge in Auswahl gelesen werden.

Der einleitende Beitrag Herausforderungen diakonischer Ethik bindet die Beiträge unter einer doppelten Fragestellung zusammen. Wenn Diakonie Hilfeleistungen im Auftrag des Sozialstaates, auf Quasimärkten und im Raum der Kirche erbringt, dann soll es nach Thorsten Moos die Aufgabe der Theologie, der theologische Ethik insbesondere, sein (a) „zur Erschließung des diakonischen Feldes und seiner Herausforderungen“ (S. 8) beizutragen und (b) die „normativen Spannungen und Aporien … innerhalb des Feldes“ sowie den Umgang damit zu reflektieren (S. 9). Insofern „verfolgt der Band das Ziel, den Beitrag Theologischer Ethik zur interdisziplinären Erschließung von Diakonie auszuloten“ (S. 9).

Damit ist ein weiter Bogen gespannt und eine Komplexität annonciert, die der Sammelband nicht einlösen kann. Die versammelten Beiträge fokussieren stattdessen die Frage, was Diakonie angesichts von Multirationalität und gesellschaftlicher Pluralität im Raum der Kirche ist oder sein kann. Mit der Formel Diakonie ist „Kirche bei Bedarf“ bringt Thorsten Moos seine These sehr gut auf den Punkt. Mithilfe eines weiten Kirchenbegriffs (Kirche als Orte religiöser Kommunikation) gelingt es ihm, eine institutionelle Koppelung herzustellen und die Phänomene der Säkularisierung und Ökonomisierung als Entkopplung zu beschreiben. Der Terminus der (Ent-)Kopplung kommt in den Beiträgen häufiger vor (vgl. S. 35, 160, 205, 224, 235–237) und ist dem soziologischen Neo-Institutionalismus entliehen (vgl. „decoupled“, Meyer/​Rowan 1977: 357), ohne dass Moos auf diese Theorie eingeht und den Begriff näher klärt. Die Problematik besteht darin, dass der Begriff der Entkopplung implizit Kopplungsprozesse vorsieht und davon ausgeht, dass eine rationale Einheit der Elemente gebildet werden kann. Insofern bildet der Begriff die Multirationalität sowie die zahlreichen Spannungsfelder nicht hinreichend ab. Karl E. Weick (1976) hat stattdessen den Begriff der „losen Kopplung“ eingeführt, um den Grad der Kopplung als Kontinuum zwischen sehr enger und sehr loser Kopplung beschreiben zu können. Eine graduelle Kopplung setzt aber voraus, dass die Elemente eigenständig sind und bleiben (vgl. Kirchner/​Meyer o.J.). Inwiefern die von Thorsten Moos entfaltete Kopplungsthese von Diakonie und Kirche an das Konzept der losen Kopplung (vgl. Wolff 2010) anschlussfähig ist, muss offenbleiben.

Auf jeden Fall positioniert sich Thorsten Moos zwischen den Polen (a) säkulare Profilierung (vgl. Rüegger/​Sigrist 2011 oder Hasslinger 2008) und (b) christlich/​kirchliche Profilierung von Diakonie (vgl. Turre 2004 oder Körtner 2010). Das beschriebene Kopplungsarrangement tendiert zur engeren Kopplung von Diakonie und Kirche. Infolgedessen hält er an der bisherigen Systemterminologie fest und führt sie einer Re-Interpretation zu: Diakonie ist Kirche „bei Bedarf“, Dienstgemeinschaft ist eine Diskursgemeinschaft über die religiöse Rationalität des Helfens, kirchliches Arbeitsrecht als Ermöglichungsbedingung religiöser Kommunikation in sozialwirtschaftlichen Organisationen. Dieses systemische Verständnis einer Organisationsidentität ist verbunden mit einer dezidierten Erwartung an die diversen Organisationsmitglieder (individuelle Verpflichtung/​Loyalität), dass sie einerseits auf den transzendenten Organisationszusammenhang, „den größeren Horizont“ (S. 228) des diakonischen Hilfehandelns, ansprechbar sind und sich andererseits „am Kommunikationsraum ‘Kirche‘ … insbesondere an der Suche danach … beteiligen, wie das Helfen in einem christlichen Unternehmen angemessen zu gestalten sei“ (S. 253). Insofern wird „erst durch“ die individuelle und organisationale „Teilhabe an Kirche … ein Sozialunternehmen zur Diakonie“ (S. 228).

Die Diakonizität der Diakonie wird metaphysisch in einer „Organisationstranszendenz“ sowie in einer Transzendenzdimension des Helfens verortet und soll sich in der Kommunikation über diese Transzendenzdimension manifestieren. Die religiöse Kommunikation wird sowohl der Organisation als auch den Organisationsmitgliedern zur Aufgabe gemacht. Damit widerspricht Thorsten Moos der eigenen These, dass die unternehmerische Diakonie organisiertes Hilfehandeln ist und als solches weder ein Differenzkriterium noch einen Status confessionis darstellt. Es leuchtet insofern nicht ein, wozu die theologische Deutung dieser wirksamen Praxis der Diakonie auf eine metaphysische Rechtfertigung angewiesen sein soll und wozu sich die Diakonizität in einem Sonderrecht (kirchliches Arbeitsrecht) materialisieren muss, das den kirchlichen Positionen und sozialethischen Reflexionen zur Sozialpartnerschaft, der Tarifpolitik sowie zum Tarifrecht widerspricht (vgl. Geyer 2017).

Eine Themen- und Perspektiverweiterung erfährt diese diakonische Ethik durch die Reflexionen auf der Handlungsebene, insbesondere im Hinblick auf die Themen Inklusion, Medical Care, Menschlichkeit und Assistierter Suizid. Auch der Beitrag zur Multirationalität ist ein Beispiel dafür, welchen interdisziplinären Beitrag die theologische Ethik für die Erschließung des Feldes leisten kann. Es wäre zu wünschen, dass diakonische/​theologische Wirtschafts-, Unternehmens- und Professionsethiken das Feld der Sozial- und Gesundheitswirtschaft erschließen und Themen wie z.B. die Digitalwirtschaft in der Wohlfahrtspflege, sozialpolitische Wohlfahrtsarrangements in Deutschland, postmoderne Organisations- und Führungsmodelle, Fragen der Teilhabe/​Assistenz, Sozialraumarbeit, Personenzentrierung etc. reflektieren statt schwerpunktmäßig um die religiöse Identität der Organisationen zu kreisen und in die „Propriumsfalle zu tappen“ (S. 233).

Mit Johannes Fischer will ich einer solchen diakonischen Wirtschafts-, Unternehmens- und Professionsethik mit auf den Weg geben, dass sie sich „von der Vorstellung freimachen [muss], dass [sich] christlich-ethisches Denken … immer in Urteilen mit christlichem Inhalt manifestiert … Das Christliche besteht in einem besonderen Blick auf die Dinge“ (Fischer 2010: 168).

Fazit

Der Sammelband „Diakonische Ethik“ versammelt 18 Beiträge aus den Jahren 2013–2021 zu Fragen einer Ethik der diakonisch-sozialwirtschaftlichen Organisation sowie einer Ethik der diakonischen Handlung/​Praxis aus theologischer Perspektive. Im Zentrum steht die Frage nach der diakonischen Identität bzw. dem diakonischen Ethos angesichts von Multirationalität und Pluralität.

Literatur

Fischer, Johannes (2010): Zum narrativen Fundament sittlicher Erkenntnis. Metaethische Überlegungen zur Eigenart theologischer Ethik. In: Ders., Sittlichkeit und Rationalität. Zur Kritik der desengagierten Vernunft, Forum Systematik, Band 38, Stuttgart: Kohlhammer, 146–171.

Geyer, Christian (2017): Arbeitsbeziehungen in der Diakonie. Demokratisches Bürgerethos als christliche Orientierung einer hybriden Sozialpartnerschaft, Baden-Baden: Nomos.

Haslinger, Herbert (2008): Die Frage nach dem Proprium kirchlicher Diakonie. In: Herrmann, Volker/​Horstmann, Martin (Hrsg.), Studienbuch Diakonik, Band 2, 2. Aufl., Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 160 – 174.

Kirchner, Stefan/​Meyer, Uli (o.J.): Entkopplung – ein folgenreicher Begriff des soziologischen Neoinstitutionalismus, Nano-Papers: Institution – Organisation – Gesellschaft, Paper No. 1, DOI: 10.14459/​2016md1335554 (letzter Zugriff: 02.03.2023).

Körtner, Ulrich H.J. (2010): Diakonie im Spannungsfeld zwischen Qualität, christlichem Selbstverständnis und Wirtschaftlichkeit. Theologisch-ethische Reflexionen. In: Wege zum Menschen, 62. Jg., H. 2, 155 – 167.

Meyer, John W./Rowan, Brian (1977): Institutionalized Organizations. Formal Structures as Myth and Ceremony. In: American Journal of Sociology 83, 340–363.

Rüegger, Heinz/​Sigrist, Christoph (2011): Diakonie – eine Einführung. Zur theologischen Begründung helfenden Handelns, Zürich: TVZ.

Turre, Reinhard (2004): Diakonie. Eine Ausprägung christlicher Religion. In: Schibilsky, Michael/Zitt, Renate (Hrsg.), Theologie und Diakonie, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 458 – 464.

Weick, Karl E. (1976): Educational Organizations as Loosely Coupled Systems. In: Administrative Science Quarterly 21, 1–19.

Wolff, Stephan (2010): Soziale personenbezogene Dienstleistungsorganisationen als lose gekoppelte Systeme und organisierte Anarchie. In: Klatetzki, Thomas (Hrsg.), Soziale personenbezogene Dienstleistungsorganisationen. Soziologische Perspektiven, Wiesbaden: VS Verlag, 285 – 335.

Rezension von
Dr. Christian Geyer
Fachlicher Vorstand Bathildisheim e.V., Bad Arolsen und Lehrbeauftragter der Hochschule Fulda
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ISSN 2190-9245