Heidi Fischer, Michael Renner et al.: Heilpädagogik
Rezensiert von Prof. Dr. Carsten Rensinghoff, 14.08.2024
Heidi Fischer, Michael Renner, Sascha Schmid: Heilpädagogik. Heilpädagogische Handlungskonzepte in der Praxis. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2024. 3., aktualisierte Auflage. 350 Seiten. ISBN 978-3-7841-3285-3. 27,00 EUR.
Thema
Die Publikation befasst sich mit heilpädagogischen Handlungskonzepten, die auf einer menschenrechts- und sozialraumbezogenen Teilhabepädagogik basieren. Behinderung ist seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention durch die Bundesrepublik Deutschland das Resultat „zwischen einer langfristigen Beeinträchtigung und den Barrieren im gesellschaftlichen Umfeld“ (S. 9). Herausgestellt wird der handlungswissenschaftliche Aspekt der Heilpädagogik, der auf einem humanistischen Menschenbild basiert und die Menschenrechte und -pflichten im Auge hat.
Die AutorInnen stellen „die Potenziale der Heilpädagogik in Theorie und Praxis vor, wobei die Stärkung eines positiven Selbstbildes, Empowerment und die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Strukturen und Prozessen im Vordergrund stehen“ (S. 13).
Autor:innen
Heidi Fischer ist Diplom-Sozialpädagogin und Heilpädagogin, M.A. Seit 1992 arbeitet sie als Dozentin am Institut für Soziale Berufe in der Fachschule für Heilpädagogik in Ravensburg.
Michael Renner ist Sozialarbeiter, Heilpädagoge und Diplompädagoge. Er lehrt seit 1978 am Institut für Soziale Berufe in Ravensburg, u.a. zur Heilpädagogik.
Sascha Schmid ist Psychologe und seit 2011 Dozent und Praxisberater im Fachbereich Heilerziehungspflege und Heilpädagogik am Institut für Soziale Berufe in Ravensburg.
Aufbau
- Konzeptionelle Grundausrichtung heilpädagogischen Handelns
- Heilpädagogische Handlungskonzepte – Verbindung von Theorie und heilpädagogischer Praxis
- Der Einsatz von Medien und deren Wirkungen in heilpädagogischen Handlungssituationen
- Bildungsprozesse im Kontext heilpädagogischer Elternarbeit
Inhalt
Zum Terminus Heilpädagogik wird ausgeführt, dass sie zwischen Medizin und Pädagogik zu verorten ist. Die Leitwissenschaft der Heilpädagogik ist die Medizin, besonders die Psychiatrie. Heilpädagogik ist „eine vertiefte, intensivere oder verfeinerte Allgemeine Pädagogik“ (S. 18), deren Präfix Heil-, etymologisch aus dem Griechischen entspringend, ganz bedeutet. Es geht der Heilpädagogik in diesem Sinne, auf Otto Speck Bezug nehmend, um ein Ganz-Werden, „soweit es dazu spezieller Hilfe bedarf‘“ (ebd.).
Für den Schwerpunkt Heilpädagogik und Inklusion wird Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 GG bemüht, nach dem niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf. Bei der Inklusion liegt der Fokus auf Bürger- und Menschenrechten, wie sie beispielsweise in der UN-Behindertenrechtskonvention und im SGB IX dokumentiert sind. Es geht vor allem darum, eine inklusive Gesellschaft zu gestalten, die Inklusion, Integration und Teilhabe vereint.
Den Schnittpunkt zwischen Individuum und Gesellschaft bildet in der heilpädagogischen Arbeit die Lebenswelt, die Welt also, in der wir leben. Gewidmet wird sich der historischen Entwicklung des wissenschaftlichen Lebensweltbegriffs nach:
- Edmund Husserl
- Alfred Schütz
- Jürgen Habermas
- Otto Speck
- Emil E. Kobi
Heilpädagogische Handlungskonzepte stellen eine Verbindung zwischen Theorie und Praxis her. Der Praxis ist sich immer theoretisch anzunähern.
Heilpädagogische Praxis ist kein Reparaturbetrieb, der Fehler beschreibt und wieder instand setzt, Heilpädagogisches Handeln ist in der Regel wirkungsunsicher.
Für die heilpädagogische Praxis ist stets ein Menschenbild notwendig. „Der Mensch muss immer in seiner Vorläufigkeit und Ergänzungsbedürftigkeit verstanden werden“ (S. 71). Für die Heilpädagogik ist die Frage nach dem Sinn des Leidens zentral.
Die Resilienzforschung stellt für die Heilpädagogik eine besondere Herausforderung dar. Menschliches Leben verläuft immer zwischen den Polen Risiko und Resilienz. Die Beschäftigung mit der Resilienz führt unweigerlich zur Salutogenese nach Antonovsky.
Das Kind darf und soll für seine Entwicklung selbst zuständig sein. Eine heilpädagogische Aufgabe liegt darin, diese Zuständigkeit zu erhalten. Hierfür ist die erforderliche Assistenz zu gewähren, die über ein Medium realisiert wird. Bei diesen Medien handelt es sich um Ausdrucksmittel, mit denen sich der Mensch verständlich macht. „Medien erleichtern das Einfühlen und das Verstehen in die Lebenswelt der Menschen“ (S. 130). In vielen Fällen ist es das Medium Spiel. Über das Spiel kann sich das Kind ein Bild von der aktuellen Situation machen.
Wie das Spiel hat auch das Medium Bewegung eine herausragende heilpädagogische Bedeutung. Für die Selbst- und Welterfahrung und die Daseinsgestaltung ist das Medium Bewegung herausragend.
Die Autorin und die Autoren heben die Bedeutung des Mediums Werken hervor. Das heilpädagogische Werken orientiert sich „an den Entwicklungsaufgaben von Kindern und Jugendlichen, die in ihrer Entwicklung verzögert sind, gestört, behindert oder beeinträchtigt werden“ (S. 211).
Ein Schwerpunkt im heilpädagogischen Bemühen liegt auf der Elternarbeit. Der heilpädagogischen Elternarbeit ist es ein Anliegen, Erziehungs- und Sinnkrisen zu überwinden. Hierfür sind heilpädagogische Fachkompetenz und eine Grundhaltung notwendig, die u.a. auf einer voraussetzungslosen Wertschätzung der Eltern und Kinder, einem Verzicht auf Schuldzuweisung und Offen- und Zugewandtheit basiert.
Heilpädagogische Elternarbeit ist ein Bildungsangebot und „Bildung ist ein Weg zu mehr Empowerment von Einzelnen und von Gruppen. Sie ist Voraussetzung, dass Menschen ihre Ohnmacht überwinden, sich ihrer Stärke bewusst zu werden und sich zutrauen mit Herausforderungen umzugehen“ (S. 273).
Diskussion
Das zu Empowerment führende Bildungsangebot in der heilpädagogischen Elternarbeit und – allgemein – auf dem gesamten heilpädagogischen Feld und damit auch die Verbindung von Allgemeiner Pädagogik und Medizin wird beispielsweise in den Erfahrungen der Eltern von Kindern mit Behinderung deutlich. Oft werden die Eltern mit Vorwürfen aus der Ärztinnen- und Ärzteschaft überschüttet, weil sie ihr Kind überfordern oder zu spät den ärztlichen Rat einfordern (wären Sie früher gekommen, hätten wir dem Kind helfen können!). In der normalen Welt haben diese Eltern wohl alles falsch gemacht. Hier kann heilpädagogische Elternarbeit als Bildungsangebot wertvoll sein. Hier ist die Heilpädagogik die pädagogische Disziplin, die die Allgemeine Pädagogik und die Medizin vereint.
Fazit
Die besprochene Publikation ist in der – mittlerweile – dritten Auflage als ein Standardwerk aufzufassen. Wie Heinrich Greving 2011, in seinem Vorwort für die erste Auflage schreibt, entwickeln die Autorin und Autoren die Heilpädagogik durch den lebensweltlichen Bezug weiter. Somit ist die Heilpädagogik als Handlungswissenschaft aufzufassen.
Rezension von
Prof. Dr. Carsten Rensinghoff
Hochschullehrer für Heilpädagogik und Inklusive Pädagogik an der DIPLOMA Hochschule
Website
Mailformular
Es gibt 181 Rezensionen von Carsten Rensinghoff.
Zitiervorschlag
Carsten Rensinghoff. Rezension vom 14.08.2024 zu:
Heidi Fischer, Michael Renner, Sascha Schmid: Heilpädagogik. Heilpädagogische Handlungskonzepte in der Praxis. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb
(Freiburg) 2024. 3., aktualisierte Auflage.
ISBN 978-3-7841-3285-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30180.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.