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Glenn R. Schiraldi: Belastende Kindheitserlebnisse hinter sich lassen

Rezensiert von Mag.a Barbara Neudecker, 24.04.2024

Cover Glenn R. Schiraldi: Belastende Kindheitserlebnisse hinter sich lassen ISBN 978-3-7495-0320-9

Glenn R. Schiraldi: Belastende Kindheitserlebnisse hinter sich lassen. Ein Arbeitsbuch. Junfermann Verlag GmbH (Paderborn) 2022. 257 Seiten. ISBN 978-3-7495-0320-9.
Reihe: aktive Lebensgestaltung. Kindheitserlebnisse/ACE.

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Thema

Das Arbeitsbuch richtet sich an Menschen, die in der Vergangenheit belastende Kindheitserfahrungen (Adverse Childhood Experiences) erlebt haben. Diese haben tiefgreifende Auswirkungen auf die körperliche und psychische Gesundheit der Betroffenen. Ziel des Buches ist, die Auswirkungen von toxischem Stress in der Kindheit verständlich zu machen und durch praktische Übungen Fertigkeiten zu vermitteln, die zur Heilung beitragen.

Autor

Glenn R. Schiraldi ist Autor zahlreicher Publikationen über psychische und körperliche Gesundheit und Gründer von Resilience Training International. Er berät u.a. staatliche Organisationen in den USA wie das Pentagon zu den Themen Stress, Trauma und Resilienz.

Aufbau und Inhalt

Das Buch besteht aus zwei Teilen: Im ersten Teil wird (auch für Laien) in verständlicher Weise ein Überblick über die Folgen belastender Kindheitserfahrungen gegeben. Es wird dargestellt, welche Auswirkungen toxischer Stress auf den Körper und die Psyche hat. Nach jedem Abschnitt finden sich Fragebögen oder Anleitungen, mit denen die Leserin/der Leser unterstützt werden soll, in ein Nachdenken über belastende Erfahrungen in der eigenen Kindheit zu kommen, beispielsweise mit einer Übung zu impliziten Erinnerungen. Auf deren lebenslange Wirkmächtigkeit aufgrund des mit impliziten Erinnerungen verbundenen „Felt Sense“ (gespürte Bedeutung) wird in späteren Übungen immer wieder eingegangen.

Der zweite Teil mit der Überschrift „Lösungen“ ist der umfangreichere Teil des Bandes, er enthält Übungen und Techniken, die Betroffene selbst anwenden können. Alle Übungen zielen – so wie Psychotherapie letztendlich auch – darauf ab, durch (imaginierte) Erfahrungen neue Verschaltungen im Gehirn aufzubauen. Die Fragebögen und Übungen des Arbeitsbuchs dienen dazu, dass Betroffene sich der verschiedenen Aspekte belastender Erfahrungen gewahr werden, und dieser Prozess der Bewusstmachung ist Voraussetzung dafür, dass Erinnerungen veränderbar werden (Rekonsolidierung). Im einleitenden Abschnitt „Über das Heilen“ finden sich einführende Überlegungen über die „Genesungsreise“ (S. 66) und die Möglichkeit der Unterstützung dieses Prozesses durch Psycho- bzw. Traumatherapie. Am Beginn des praktischen Teils stehen Übungen zur Selbstfürsorge wie etwa Techniken zum Stressabbau oder zur Regulation starker Emotionen. Die Übungen arbeiten mit Elementen aus der Meditation, imaginativen Anteilen oder der dem EMDR ähnlichen Klopftechnik Tapping. Zur Förderung von Selbstfürsorge finden sich aber auch Ausführungen zu Schlafgewohnheiten, gesunder Ernährung und körperlicher Bewegung.

Im nächsten Abschnitt geht es um die Stärkung des Nervensystems durch Imaginationen. Die Übungen zur Imagination guter Bindungserfahrungen in der frühen Kindheit können auch durchgeführt werden, wenn es keine Erinnerungen an reale verlässliche und liebevolle Bindungspersonen gibt. Immer wieder werden Übungen und ihre Wirkung durch Fallbeispiele illustriert.

Anschließend wird die Floatback-Technik vorgestellt, mit der aktuelle Ereignisse, die als aufwühlend erlebt werden und die oft emotionale Überreaktionen auslösen, „entschärft“ werden können, indem ihre Verbindung zu früheren belastenden Kernerinnerungen erkannt wird. Die auslösende Kernerinnerung wird entschärft, indem Körperregionen lokalisiert werden, in denen die Kernerinnerung gespürt wird und die wahrgenommenen Empfindungen gezielt mit (Selbst-)Mitgefühl behandelt werden. Floatback kann auch zur Veränderung sogenannter Kernüberzeugungen eingesetzt werden, also bei tief verwurzelten negativen Überzeugungen über das eigene Selbst, die in der Kindheit verinnerlicht wurden. Auch hier ist das Ziel, durch eine Wiederholung dieser Übungen neue „Gedankenmuster“ zu vernetzen. Weitere Übungen behandeln die Bereiche Scham und Selbstwert oder leiten dazu an, sich vom „Sog“ (S. 173) negativer Erinnerungen, etwa mithilfe der sogenannten Defusions-Technik, zu befreien.

Stand im vorhergehenden Abschnitt die Heilung schmerzhafter Empfindungen im Zentrum, so ist der Gegenstand des abschließenden Abschnitts „Die nächste Etappe“, die neuen Erfahrungen zu integrieren sowie inneren Frieden und inneres Wachstum zu finden. Dabei geht es beispielsweise darum, Selbstachtung zu kultivieren und Muster zu durchbrechen, mit denen man sich selbst oder andere verletzt. Auch das Thema Vergebung wird diskutiert – sich selbst oder den eigenen Eltern/​Bezugspersonen zu vergeben, aber auch, andere um Vergebung zu bitten. Zuletzt werden Imaginationsübungen zu spiritueller Heilung (die Seele nähren), der Erfahrung von Freude und dem Aufbau neuer Zukunftsperspektiven angeboten. Schiraldi weist darauf hin, dass Betroffene die Macht haben, bei transgenerationalen Traumata die Übergangsperson zu sein, die generationsübergreifende schädliche Muster durchbrechen und verändern zu kann.

Ein umfangreicher Anhang mit weiteren Informationsquellen ergänzt den Band. Mit dem Kauf des gedruckten Buches ist auch der Zugang zum E-Book verknüpft. Auf diese Weise können die Anleitungen zu zahlreichen Übungen auch als Audio-File angehört werden.

Diskussion

„Jeder Mensch kann von toxischem Stress überwältigt oder verwundet werden, besonders in der frühen Kindheit (…). Doch es gibt allen Grund zur Hoffnung. Jedes von toxischem Stress verursachte Leid lässt sich erheblich lindern, selbst Jahrzehnte später noch“ (S. 56). Dieses Zitat charakterisiert die Grundbotschaft, die mit dem Buch vermittelt werden soll. Diese Botschaft ist für Betroffene oder „Überlebende“, wie sie im Buch auch genannt werden, von unermesslicher Bedeutung, leben sie doch oft schon jahrzehntelang mit der Last ihrer Erinnerungen und den Auswirkungen belastender Erfahrungen in der Kindheit. Diese können auch im Erwachsenenalter noch übermächtig sein. Viele Betroffene ziehen Hilfe durch Psychotherapie gar nicht in Erwägung, weil sie denken, es sei zu spät dafür oder es sei aussichtslos, auf Veränderung zu hoffen. Schiraldi zeigt auf eine für Betroffene verständliche Weise auf, dass dem nicht so ist. Damit füllt das Buch eine Lücke, denn die meisten Bücher zum Thema richten sich an Fachkräfte und nicht direkt an die betroffenen Menschen.

Das Buch baut auf Erkenntnissen der Gehirnforschung auf, die belegen, dass durch Interventionen wie Psychotherapie, Meditation oder Imaginationsübungen neue neuronale Pfade gebildet werden können, die in der Lage sind, dysfunktionale neuronale Muster im Gehirn sowie epigenetische Programmierungen zu verändern. Die im Buch vorgestellten Übungen folgen einerseits lerntheoretischen Überlegungen und beziehen andererseits achtsamkeitsbasierte Interventionen (Stichworte: Mitgefühl, Güte, reife Liebe, …) mit ein.

Die Darstellungen im Buch helfen, den Zusammenhang zwischen vergangenen Erfahrungen und gegenwärtigem Erleben im Erwachsenenalter wie emotionale Überreaktionen in bestimmten Situationen oder konflikthafte Beziehungsmuster besser zu verstehen, sich der Verbindung zwischen aktuellen Gefühlen und Überzeugungen und belastenden Erfahrungen in der Kindheit bewusst zu werden und besser spüren zu können, wie sich diese Erfahrungen auch im Körper niederschlagen. Sich dieser Dimensionen gewahr zu werden, kann ein erster Schritt zur Veränderung sein.

Der Autor unterscheidet nicht näher zwischen dem weiten Feld der Adverse Childhood Experiences und traumatischen Erfahrungen im engeren Sinn. Dies ist auf der einen Seite nachvollziehbar, da die Unterscheidung für viele Betroffene nur schwer möglich und vielleicht auch gar nicht relevant ist. Auf der anderen Seite wirft dies auch Fragen auf: In der klinischen Arbeit mit Betroffenen würde man Interventionen und Technik darauf abstimmen, wie stabil die psychische Verfassung ist, welche inneren Ressourcen der Person zur Verfügung stehen, ob über Kindheitserinnerungen kontrolliert gesprochen werden kann oder ob sie – wie es für Traumata typisch ist – intrusiv und überwältigend „hochkommen“. Das Ausmaß der Konfrontation zu „dosieren“ und die Klientin/den Klienten zu beruhigen und zu stabilisieren, wenn die Erinnerung unerträglich wird, liegt in der Verantwortung der Psychotherapeutin/des Psychotherapeuten. Kann man denn davon ausgehen, dass Betroffene, die sich alleine mit den Übungen des Arbeitsbuchs auseinandersetzen, stets ihre persönlichen Grenzen wahren und sich vor überflutenden Erinnerungen und Gefühlen schützen können?

Zudem fehlt dem Arbeitsbuch etwas, das jeder therapeutischen Behandlung inhärent ist und das mittlerweile als der zentrale Wirkfaktor in der Psychotherapie gilt: die (haltende) Beziehung. Sowohl in der Psychotherapie im Allgemeinen als auch in spezifischen traumatherapeutischen Ansätzen kommt dem Beziehungsaufbau zwischen Klientin/​Klient und Therapeutin/​Therapeuten eine besondere Rolle zu. Erst, wenn eine tragfähige Beziehung etabliert werden konnte und die Therapeutin/der Therapeut als hilfreiches Gegenüber erlebt wird, das Sicherheit und Beruhigung vermitteln kann, ist eine Auseinandersetzung mit traumaassoziierten Inhalten, Ängsten usw. möglich. Die Übungen im Arbeitsbuch thematisieren zwar Beziehungen und unterstützende Bindungserfahrungen, doch die Leserin/der Leser muss sich dies alleine und ohne Unterstützung erarbeiten.

Dies führt zum vielleicht diskussionswürdigen Aspekt: Vielversprechende Aussagen wie: „Mit den Fertigkeiten, die Ihnen dieses Arbeitsbuch vermittelt, können Sie nicht nur verborgene Wunden aus der frühen Kindheit heilen, sondern auch Ihre allgemeine geistige und körperliche Gesundheit verbessern (…). Wenn Sie Ihr ganzes (geheiltes) Selbst in die Gegenwart bringen, können Sie endlich das Leben voll genießen und ganz für sich selbst und die Menschen, die Ihnen am Herzen liegen, da sein.“ (S. 12) werden verständlicher, wenn man berücksichtigt, dass sie ursprünglich für den amerikanischen Markt geschrieben wurden. Zweifellos spricht das Buch mit seinem zuversichtlichen, affirmativen Tonfall viele Betroffene an, und für viele wird das Buch auch tatsächlich hilfreich sein. Doch das optimistische „Auch du kannst es schaffen!“ hat seine Grenzen, und über diese werden die Leserinnen und Leser nur bedingt aufgeklärt. Psychotherapie als professionelle Unterstützung kommt zwar vor, aber in eher randständiger Bedeutung (und mit einer sehr selektiven Auswahl an Therapiemethoden). Es wird kaum darauf eingegangen, dass das Durchführen der Übungen bereits einiges an inneren Ressourcen und Fähigkeiten voraussetzt: Man muss über die Fähigkeit zu imaginieren verfügen, man muss sich vor und während der Durchführung der Übungen selbst beruhigen und regulieren können, man braucht ein gewisses Maß an innerer Strukturiertheit, um das Buch durchzuarbeiten (so wie bei allen Selbsthilfebüchern). All dies spricht nicht gegen das Buch an sich, aber wenn diese Voraussetzungen nicht explizit thematisiert werden, könnten sich Betroffene erst recht wieder als unzulänglich und beschämt fühlen, wenn sie es nicht schaffen, mithilfe des Buches ihr Selbst zu heilen. Ähnlich ist es bei der Erklärung der Floatback-Technik: Bei den Lesenden könnte der Eindruck entstehen, dass es immer einfach ist, den Zusammenhang zwischen aktuellen aufwühlenden Ereignissen und früheren Kindheitserfahrungen herzustellen. In der Praxis ist es das oft nicht, und es ist ein mitunter beschwerlicher Bestandteil des therapeutischen Prozesses, diese Verbindungen zu verstehen und zu rekonstruieren.

Eine abschließende Anmerkung: Ein Kapitel des Buches widmet sich dem Thema „Vergebung“. In einem kurzen Abschnitt wird auf den Aspekt eingegangen, Eltern bzw. früheren Betreuungspersonen zu vergeben. Die Frage der Vergebung beschäftigt viele Betroffene intensiv, und viele – vor allem Überlebende von körperlicher und sexualisierter Gewalt – ringen in einem schmerzhaften Prozess jahrelang damit, ob sie ihren Eltern vergeben können oder müssen oder ob sie die Entscheidung treffen, nicht zu vergeben. Dies auf weniger als zwei Seiten abzuhandeln, wird der Komplexität und Ambivalenz des Themas nicht gerecht.

Fazit

Ein interessantes Buch, das Menschen, die belastende Kindheitserfahrungen bis ins Erwachsenenalter mit sich tragen, viele konstruktive Ansätze vermittelt, wie ein anderer Umgang mit den belastenden Erinnerungen und mit dem eigenen Selbst aussehen kann. Es macht Mut, dass dysfunktionale Muster auch nach vielen Jahren noch verändert werden können. Eine psychotherapeutische Behandlung wird das Buch aber nur in wenigen Fällen ersetzen können.

Rezension von
Mag.a Barbara Neudecker
MA, Psychotherapeutin (IP) und psychoanalytisch-pädagogische Erziehungsberaterin, Leiterin der Fachstelle für Prozessbegleitung für Kinder und Jugendliche in Wien, Lehrbeauftragte an den Universitäten Wien und Innsbruck, eigene Praxis
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Es gibt 20 Rezensionen von Barbara Neudecker.

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Zitiervorschlag
Barbara Neudecker. Rezension vom 24.04.2024 zu: Glenn R. Schiraldi: Belastende Kindheitserlebnisse hinter sich lassen. Ein Arbeitsbuch. Junfermann Verlag GmbH (Paderborn) 2022. ISBN 978-3-7495-0320-9. Reihe: aktive Lebensgestaltung. Kindheitserlebnisse/ACE. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30186.php, Datum des Zugriffs 14.01.2025.


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