Karin Kiesele: Überraschend anders fragen
Rezensiert von Prof. Dr. rer. pol. habil. Andreas Bergknapp, 20.09.2023

Karin Kiesele: Überraschend anders fragen. Praxishandbuch für professionelle Kommunikation.
Junfermann Verlag GmbH
(Paderborn) 2022.
168 Seiten.
ISBN 978-3-7495-0357-5.
D: 28,00 EUR,
A: 28,80 EUR.
Reihe: Coaching & Beratung. Gesprächstechniken.
Thema
Der Inhalt des Buches erschließt sich durch den Untertitel: Es handelt sich um ein Praxishandbuch für professionelle Kommunikation mit dem Fokus auf das Stellen von Fragen. Die Kommunikationsform des Fragens wird anhand zahlreicher Modelle und Systematiken aus unterschiedlichen Perspektiven diskutiert. Anleitungen zur Selbstreflexion und Checklisten helfen den Leser:innen bei der Anwendung.
Autor:in oder Herausgeber:in
Die Autorin ist Kommunikationswissenschaftlerin und war über 25 Jahre als Redakteurin für TV-Produktionen und als Journalistin tätig. Seit knapp 10 Jahren arbeitet sie als Business Coach und Kommunikationstrainerin.
Aufbau und Inhalt
Das Buch besteht aus fünf Kapiteln.
Das erste Kapitel (Warum fragen wir?) beginnt mit Gründen, warum Fragen in der Interaktion sinnvoll sein können: Fragen lassen Verbindungen entstehen, fördern den Dialog, steuern das Gespräch, lösen Denkprozesse aus, erweitern Perspektiven, sorgen für Erkenntnisse, geben Einblick in die Innenwelt des Anderen und vermitteln Wertschätzung und Interesse am Anderen. Sie helfen aber auch Unsicherheiten zu beseitigen und Zeit zu gewinnen. Die weiteren Abschnitte des Kapitels beschäftigen sich mit der Vorbereitung auf Gespräche und der Bedeutung der Zielbestimmung. Reflexionsimpulse, Übungen und Checklisten stellen – wie in allen anderen Kapiteln auch – einen konkreten Anwendungsbezug her.
Im zweiten Kapitel (Wesentliches zu Weltbild, Motivation und Wesen der Fragenden) wird der zentrale Aspekt in den Mittelpunkt gerückt, dass die Wirkung von Fragen immer auch von der inneren Verfasstheit und der Haltung des Fragenden abhängt. In diesem Kapitel finden sich zahlreiche Kommunikationsmodelle und Motivationstheorien, aus denen sich Impulse für das Stellen von Fragen ableiten lassen: das Kommunikationsmodell von Schulz von Thun, die Axiome der Kommunikation von Watzlawick, die Modelle von Maslow und Herzberg und das Riemann-Thomann-Modell. Der Konstruktivismus und der systemische Ansatz werden kurz erwähnt und die Relevanz der Haltung in einem Abschnitt thematisiert. Die Hinweise zur Analyse der eigenen Rolle und zur Bedeutung von Status sensibilisieren für wichtige strukturelle Bedingungen von Gesprächen. Das Kapitel schließt mit Ausführungen zum richtigen Timing der Fragen und sensibilisiert für den wichtigen Umstand, dass es durchaus auch ungünstige Zeitpunkte für bestimmte Fragen geben kann.
Die Wirkung von Fragen steht im Mittelpunkt des dritten Kapitels (Fragen und ihre Wirkung). Die Wirkungen können danach unterschieden werden, welcher Zeithorizont relevant ist, ob es Fragen aus der Metaperspektive sind, ob die Fragen Denkprozesse initiieren, in die Tiefe gehen, einen Fokus setzen, das Problem erfassen oder eine Lösung anregen. Für jede Frageform finden sich je 20 Beispiele. Besonders wichtig für die Wirkung von Fragen sind Pausen nach dem Stellen einer Frage (Abschnitt 3.8: ‚Die Kunst der Fragepause‘). Eine Sensibilisierung für typische ‚Gesprächskiller‘, womit aber nicht nur Fragen gemeint sind, schließt das Kapitel ab.
Unterschiedliche Fragetypen werden im vierten Kapitel erläutert (Wie und was wir fragen können). Dieses Kapitel besteht aus zwei Abschnitten: Zunächst werden allgemeine Fragen typologisiert in geschlossene und offene Fragen, Alternativfragen, Kontrollfragen. Gegenfragen, Suggestivfragen, ressourcenorientierte Fragen und VAKOG-Fragen und die jeweilige Wirkungsweise erklärt. Im zweiten Teil des Kapitels (Abschnitt 4.8) werden die gängigen systemischen Frageformen vorgestellt: beispielsweise Skalierungsfragen, zirkuläre Fragen, Klassifikationsfragen, Prozentfragen, Übereinstimmungsfragen, hypothetische Fragen, Verschlimmerungsfragen oder paradoxe Fragen. 15 Tipps zum Einüben von Fragen und einer fragenden Haltung runden das Kapitel ab.
Im fünften Kapitel werden allgemeine und spezifische Gesprächstechniken skizziert. Nach einem Überblick über typische Phasen eines Gesprächs und die Technik des aktiven Zuhörens, werden mit dem Konzept der Utilisierung, der Wunderfrage, dem sokratischen Dialog und der Methode Ikigai konkrete Coachingmethoden vorgestellt. Tipps für gute Gespräche, die aus dem Improvisationstheater abgeleitet sind, bilden den Abschluss.
Diskussion
Positiv hervorzuheben ist der klare Anwendungsbezug des Buches mit zahlreichen Reflexionsimpulsen, Übungen, Checklisten und Fragesammlungen. Diese sind sinnvoll zur Verarbeitung der Theorie und stellen einen Bezug zum Leser, seiner Haltung und seiner Gesprächspraxis her. An wenigen Stellen wirken die Impulse allerdings eher trivial. Beispielsweise wird unter ‚Impulse für das Gelingen guter Gespräche‘ das Herstellen eines störungsfreien Rahmens und das Anbieten eines Getränks empfohlen.
Die Autorin verzichtet auf eine wissenschaftliche Zitation entsprechender Quellen im Text. Deshalb ist es überraschend, dass sich am Ende ein Literaturverzeichnis findet.
Der Fokus des zweiten Kapitels ist grundlegend und für ein derartiges Praxishandbuch für professionelle Kommunikation zentral: Die Bedeutung der Haltung des Fragenden. Während diese Bedeutung in Abschnitt 2.5 – insbesondere durch die Reflexionsübungen – überzeugend dargestellt wird, bleiben andere Abschnitte an der Oberfläche. So ließe sich aus konstruktivistischen und systemischen Ansätzen weit mehr für eine fragende Haltung ableiten als dies auf den zwei Seiten des Abschnitts 2.4 der Fall ist. Die kurze Abhandlung systemischer Grundlagen ist auch deshalb überraschend, weil im letzten Drittel überwiegend systemische Methoden vorgestellt werden. Deshalb wäre es naheliegend gewesen, die Methoden konsequenter an die theoretischen Grundlagen anzubinden. Insgesamt bleiben die Ausführungen in diesem Kapitel sehr allgemein und es entsteht der Eindruck, dass möglichst viele Kommunikationsmodelle und Motivationstheorien erwähnt werden sollen. Überraschend ist, dass die Autorin, die Ergebnisse der vielzitierten Studie von Mehrhabian unkritisch wiedergibt. Denn mittlerweile ist bekannt, dass die aus der Studie abgeleiteten Aussagen so nicht zutreffen, weil die Ergebnisse missinterpretiert wurden. Für Leser, die sich mit der Bedeutung der inneren Haltung für die Gesprächsführung schon intensiver auseinandergesetzt haben, bleibt dieses Kapitel hinter den Erwartungen zurück.
Der thematische Fokus des Buches ist zunächst sehr weit gefasst, woraus sich Anwendungsmöglichkeiten sowohl im privaten Bereich als auch im beruflichen Kontext ergeben. Im professionellen Bereich finden sich Anregungen für Führungskräfte, Mitarbeiter, Coaches und Journalisten. Dieses breite Spektrum kann in Abhängigkeit von den Erwartungen der Leser:innen Vor- oder Nachteil sein. Die Fokussierung ändert sich auf den letzten 30 Seiten ab Abschnitt 4.8: Die systemischen Fragen und Gesprächstechniken sind primär auf den Beratungs- und Coachingkontext bezogen und lesen sich wie ein typisches Kapitel eines einschlägigen Coachinglehrbuches. Kundige Coaches werden hier wenig Neues erfahren. Leser:innen, die sich noch nicht mit der systemischen Gesprächsführung beschäftigt haben, werden wertvolle Impulse und Ideen für neue Formen des Fragens bekommen. Dies gilt überwiegend auch für das fünfte Kapitel, in dem gängige Coachingtechniken vorgestellt werden. Hier ist anzumerken, dass die Beispiele für die Technik des Utilisierens sehr spezifisch gewählt sind, weil sie sich lediglich darauf beziehen, was im Moment des Gesprächs passiert. Erickson hat allerdings auch Kompetenzen des Klienten, die sich aus der Problemschilderung ergeben, einbezogen. Beim Beispiel für einen sokratischen Dialog fällt auf, dass dieses Vorgehen – im Gegensatz zu den meisten anderen Praxisbeispielen – sehr voraussetzungsvoll ist, weil es nicht nur um eine reine Fragetechnik, sondern im Ansatz um eine Disputation einer irrationalen Annahme geht.
Ein interessanter Umstand ist, dass am Ende Tipps aus dem Improvisationstheater für das Gelingen von Gesprächen angeführt werden. Denn der Aspekt, dass es sich bei Gesprächen um grundsätzlich nicht steuerbare soziale Prozesse handelt, kommt in den Ausführungen etwas zu kurz. Zuweilen entsteht der Eindruck, dass durch entsprechende Vorbereitung und durch das Stellen der ‚richtigen‘ Fragen, Gespräche zu steuern sind.
Fazit
Das Buch bietet einen breiten Überblick über die Kommunikationsform des Fragens mit vielen Anregungen für die Praxis. Wer sich bislang kaum mit diesem Thema auseinandergesetzt hat, wird hilfreiche Impulse für die Gesprächspraxis bekommen. Wer jedoch als (erfahrener) Coach gehofft hat, nach der Lektüre des Buches ‚überraschend anders fragen‘ zu können, wird wohl enttäuscht sein. Dennoch kann das Buch dazu beitragen, dass die Relevanz von passenden Fragen für das Gelingen von professionellen Gesprächen noch etwas mehr in das Bewusstsein rückt.
Rezension von
Prof. Dr. rer. pol. habil. Andreas Bergknapp
Professor für Sozialwissenschaften, insbesondere Organisationsentwicklung und Personalmanagement an der HS Nordhausen und Leiter den Masterstudiengangs Systemische Beratung. Senior Coach (DBVC), Supervisor (DGSv) und Leiter des Instituts für Coaching und Organisationsberatung (ICO) in Augsburg.
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Zitiervorschlag
Andreas Bergknapp. Rezension vom 20.09.2023 zu:
Karin Kiesele: Überraschend anders fragen. Praxishandbuch für professionelle Kommunikation. Junfermann Verlag GmbH
(Paderborn) 2022.
ISBN 978-3-7495-0357-5.
Reihe: Coaching & Beratung. Gesprächstechniken.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30197.php, Datum des Zugriffs 08.12.2023.
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