Matin Baraki: Afghanistan
Rezensiert von Johannes Schillo, 28.04.2023
Matin Baraki: Afghanistan. Revolution, Intervention, 40 Jahre Krieg.
PapyRossa Verlag
(Köln) 2023.
200 Seiten.
ISBN 978-3-89438-793-8.
D: 14,90 EUR,
A: 15,40 EUR.
Reihe: Neue Kleine Bibliothek - 318.
Thema
Das Buch thematisiert den 40 Jahre währenden Krieg in Afghanistan samt dem Vorlauf nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Abschluss im August 2021, als die USA das von ihnen eingesetzte Regime fallen und den Taliban freie Hand ließen. Der Schlussteil resümiert – konzentriert auf die Frauenfrage – die Auswirkungen dieses Regimewechsels, wobei die Nachrichtenlage bis in den Februar 2023 Berücksichtigung findet.
Autor
Dr. Matin Baraki ist ein deutsch-afghanischer Politologe, der seit 1974 in der Bundesrepublik lebt, wo er 1995 an der Philipps-Universität Marburg promoviert wurde und danach an verschiedenen Universitäten Lehraufträge für Internationale Politik wahrnahm. Er trat auch 2011 mit einem eigenen „18 Punkte-Vorschlag“ zu einem möglichen Friedensvertrag in Afghanistan hervor.
Aufbau und Inhalt
Nach einem Vorwort des Politik-Professors Werner Ruf, das die Rolle der USA als imperiale Aufsichtsmacht im Widerstreit mit antikolonialen Bewegungen ins Blickfeld rückt, folgt ein kurzer Prolog des Autors, der diese Perspektive am Fall Afghanistan bestätigt: In der humanitären Katastrophe größten Ausmaßes sei ein geopolitischer Konflikt ausgetragen worden, nachdem sich die Sowjetunion angesichts des NATO-Doppelbeschlusses vom 12.12.1979 und der Verschärfung der Blockkonfrontation zu einer Intervention entschlossen hatte und „die islamistischen Mudjaheddin, im Westen Freiheitskämpfer genannt, die Taliban und Al Quaida mit Hilfe der CIA und befreundeter Geheimdienste de facto erfunden, aufgebaut, ausgebildet und bewaffnet (wurden)“ (S. 13f).
Danach gliedert sich das Buch in zwei Teile. Im ersten Teil legt Baraki in 16 Kapiteln und einem Epilog seine Analyse vor, in einem zweiten Teil werden zahlreiche – teils erstmals übersetzte Dokumente – zugänglich gemacht, beginnend mit dem Grundsatzprogramm der moskautreuen „Demokratischen Volkspartei Afghanistans“ (DVPA), deren Antrag an die sowjetische Führung seinerzeit die Invasion der Roten Armee auslöste, und abschließend mit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA über den Abzug der US-Truppen, das 2020 in Katar unter der Präsidentschaft von Trump ausgehandelt und vom Nachfolger Biden im August 2021 umgesetzt wurde. Eine Zeittafel und eine knappe Literaturauswahl runden das Buch ab. Dabei sind die entscheidenden Punkte des Dokumententeils in den Gang der Analyse eingearbeitet, vor allem Belege aus den erstmals zur Verfügung gestellten russischen Akten (S. 233ff), die das lange Zögern Breschnews gegenüber dem Hilferuf der DVPA deutlich machen, sowie die Mitteilungen des Sicherheitsberaters Brzeziński, die das frühzeitige, bereits vor der Invasion erfolgte US-Engagement in Afghanistan bezeugen. Brzeziński im Rückblick: „Wir haben die Russen nicht gedrängt zu intervenieren, aber wir haben die Möglichkeit, dass sie es tun, wissentlich erhöht“ (S. 232).
Die Analyse beginnt mit theoretischen Erörterungen zur antikolonialen Strategie, wie sie im Marxismus-Leninismus und damit auch in der DVPA eine Rolle spielte und von der Partei dann in der April-Revolution 1978 zu Geltung gebracht wurde. Deren Programm – Alphabetisierung, Landreform, Gleichberechtigung der Frauen – bewegte sich im Rahmen anerkannter Entwicklungskonzepte und kooperierte auch mit der monarchistischen Herrschaft, stieß aber auf den Widerstand der feudalen Großgrundbesitzer und der hergebrachten Religiosität sowie auf die Passivität der Landbevölkerung. Baraki betont jedoch die Unfähigkeit und Zerstrittenheit der 1965 gegründeten Partei. „Unübersehbar“ sei das „Versagen der afghanischen Revolutionäre“ (S. 63) gewesen, die DPVA habe am Ende um nicht vielmehr als den Machterhalt gekämpft und sei eher als eine „nationalistische Partei“ (S. 69) einzustufen. Die Machtkämpfe und Spaltungen im Lande eröffneten dann, wie Baraki zeigt, den USA die Chance zum Eingreifen und machten ihnen auch die Dringlichkeit klar, ihre strategischen Interessen in der Region gegen den östlichen Systemrivalen militant zu verfolgen. Afghanistan, so Kissinger, „dürfe keine Schule machen“ (S. 13).
Mit dem NATO-Doppelbeschluss trat der Ost-West-Konflikt – nach der Entspannungsära mit ihren Rüstungskontroll- und Handelsverträgen – in seine neue Spannungsphase und die SU wurde in Afghanistan zur Kriegspartei, während die USA, wie auch in anderen Kriegen, Stellvertreter kämpfen ließen. Mit massiven Waffenlieferungen, dem in Pakistan hergerichteten Aufmarschgebiet und der Rekrutierung von islamistischen Kämpfern aus 50 Nationen wurde der Krieg für Moskau zu einem verlustreichen Unternehmen, sodass Gorbatschow 1988 in Absprache mit den USA den Rückzug beschloss. „Damit war die Geburtsstunde für die Taliban gekommen, deren Geburtshelfer wiederum die USA waren.“ (S. 75) Das neue Regime erbrachte jedoch nicht die von den USA erwarteten Stabilisierungsleistungen, sodass die westliche Protektion des Islamismus sukzessive zurückgezogen und nach den Anschlägen vom 11.9.2001 aufgekündigt wurde. Die USA begannen im Oktober des Jahres – ohne völkerrechtliche Legitimationen – ihren Krieg gegen die Taliban, an dem sich verbündete Nationen beteiligten, und erklärten den Feldzug zum Bestandteil ihres globalen „War on terror“.
Die folgenden Kapitel fokussieren auf das weitere Kriegsgeschehen, auf das unsägliche Leid der Zivilbevölkerung und auf die Installierung eines Marionettenregimes samt dem Aufbau afghanischer Streitkräfte. Diese seien aber eher als „Geisterarmee“ (S. 123) einzustufen. Faktisch wurden die ISAF-Besatzungstruppen und ihre Verbündeten, zu denen anders als im Irakkrieg auch die Deutschen gehörten, zum hilflosen, aber brutal um sich schlagenden Gegner eines breiten Volkswiderstands, in dem sich die islamistischen Fraktionen zusammenschlossen. In den Hochzeiten des Kriegs (2001-2014) hatten die USA und ihre Verbündeten „mehr als 230.000 Söldner und Soldaten“ im Einsatz (S. 95). Und seit Obama sei sich die US-Führung im Klaren gewesen, dass die Installierung eines stabilen prowestlichen Regimes gescheitert war. Präsident Trump verkündete zwar eine Neue Strategie der Verschärfung, auf diese „Totgeburt“ (S. 97) sei aber dann – ohne Absprache mit den Verbündeten oder der Kabuler Regierung – eine Kehrtwende bilateraler Verhandlungen mit den Taliban erfolgt, worauf Präsident Biden, ebenso unilateral wie sein Vorgänger, im August 2021 den Abzug befahl. Die letzten Kapitel widmen sich der Machtübergabe an die Taliban und den Konsequenzen für die Bevölkerung. Eindeutig sind Barakis Ausführungen in ihrer Kritik an der imperialen Selbstgerechtigkeit der USA – nach 250.000 Toten und zahlreichen Kriegsverbrechen gebe es keine Einsicht oder Wiedergutmachung des Westens, sondern ein erneutes Auftrumpfen (Beschlagnahme afghanischer Zentralbankgelder, Abwerbung der einheimischen Intelligenz…) –, etwas unentschieden fällt dagegen die Bewertung der neuen Taliban-Herrschaft aus. Diese sei im Grunde die alte, „Neo-Taliban“ (S. 128) gebe es nicht. Baraki entwirft dann aber – vor allem mit Blick auf die Stellung der Frauen – ein differenziertes Gemälde der derzeitigen Herrschaft, in der sich Fundis und Realos, rivalisierende Volks- und Klientelgruppen, mittlerweile auch ein neuer islamistischer Terror in Gestalt des „Islamischen Staates – Khorasan“ bemerkbar machten. Nur heißt auch hier der Schluss, dass die Forderung des Westens nach Liberalisierung und einer „inklusiven Regierung“ (S. 168f) auf absehbare Zeit mit dem Faktum konfrontiert sei, dass in Afghanistan der Fundamentalismus herrscht.
Diskussion
Die weltpolitischen Rahmenbedingungen sind bei Baraki im Blick und für ihn auch der Schlüssel zur Erklärung des afghanischen Desasters. In der Durchführung fokussiert er aber – beginnend mit dem antikolonialen Konzept der DVPA – auf die innerafghanische Entwicklung. Die Debatten in Deutschland etwa, das zehn Jahre lang nicht von einem Krieg sprechen wollte, oder die politisch-militärische Konfliktlage im Greater Middle East samt den strategischen Planungen der USA werden nur gestreift. Doch gelingt es dem Autor an dem 40-jährigen Kriegsgeschehen die Bezüge zum amerikanischen Ringen um globale Suprematie deutlich zu machen, bei dem das kleine Land am Hindukusch das Unglück hatte, ins Fadenkreuz zu geraten. Im Blick auf Deutschland kommt vor allem der Streit um die Evakuierung der afghanischen „Ortskräfte“ nach dem überstürzten Abzug der westlichen Truppen zur Sprache. Dass dies eine gezielte „Menschenraubaktion“ (S. 142) des Westens gewesen sei, ist auch angesichts Barakis eigener Feststellungen zum Thema Kollaboration nicht einsichtig. Doch können seine Überlegungen auf jeden Fall einen Anstoß für die Diskussion in Deutschland geben, um die – versprochene, aber wegen des Ukraine-Engagements aufgeschobene – Aufarbeitung des afghanischen Desasters in Angriff zu nehmen.
Fazit
Das Buch liefert – angereichert mit einem ausführlichen Materialteil – eine konzise, auf die wichtigsten Akteure konzentrierte Analyse des 40 Jahre währenden militärischen Konflikts in Afghanistan. Auch die Vorgeschichte und die aktuellen Auswirkungen des im August 2021 abrupt beendeten westlichen Besatzungsregimes sind im Blick, wobei der Autor die Triebkräfte der alten und neuen Großmachtkonkurrenz zwischen West und Ost präzise herausarbeitet.
Rezension von
Johannes Schillo
Sozialwissenschaftler und Autor
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Zitiervorschlag
Johannes Schillo. Rezension vom 28.04.2023 zu:
Matin Baraki: Afghanistan. Revolution, Intervention, 40 Jahre Krieg. PapyRossa Verlag
(Köln) 2023.
ISBN 978-3-89438-793-8.
Reihe: Neue Kleine Bibliothek - 318.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30200.php, Datum des Zugriffs 07.11.2024.
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