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Francis Seeck: Zugang verwehrt

Rezensiert von Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf, 23.01.2023

Cover Francis Seeck: Zugang verwehrt ISBN 978-3-85535-128-2

Francis Seeck: Zugang verwehrt. Keine Chance in der Klassengesellschaft: wie Klassismus soziale Ungleichheit fördert. Atrium Verlag (Zürich) 2022. 124 Seiten. ISBN 978-3-85535-128-2. D: 9,00 EUR, A: 9,30 EUR.
Reihe: Zündstoff.

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Autor:in

Dr. Francis Seeck ist Sozialwissenschaftler:in, Antidiskriminierungstrainer:in und Autor:in. Seeck befasst sich mit Klassismus, Antidiskriminierung und geschlechtlicher Vielfalt, hatte eine Vertretungsprofessur für Soziologie und Sozialarbeitswissenschaften an der Hochschule Neubrandenburg inne und arbeitet momentan als Post-Doc am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität.

Thema

Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetzsetz soll vor Benachteiligungen aus Gründen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität schützen. Ein bedeutsamer Aspekt, vor dem es in jetziger Form nicht schützen kann, ist die Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft – wie auch viele weitere Diskriminierungen, die auf dem Papier zwar verboten sind, in der Praxis aber noch immer Alltag im Erleben vieler Menschen sind. Diese allerdings ist weit verbreitet, wie viele Menschen, die sozial exkludiert sind, tagtäglich erleben. Vor dem Gesetz sind die Menschen alle gleich. Faktisch aber ist das mitnichten so.

Finanziell Bessergestellte können bessere Anwält:innen finanzieren, leben in besseren Wohngegenden, finden politisch mehr Gehör, können Ihre Interessen effektiver durchsetzen und haben insgesamt ein besseres Leben als sozial schlechter gestellte Menschen. Diese Unterschiede werden vererbt, was den Klassismus stabilisiert, der vor der Geburt bis zum Tod und sogar darüber hinaus wirkt. Die soziale Ungleichheit wirkt sich langfristig nicht nur negativ auf die Chancengerechtigkeit nachwachsender Generationen aus, sondern auch auf den sozialen Zusammenhalt und die politische Stabilität im Land. Trotz dessen ist die Lobby, die arme Menschen haben, eher klein und wenig wirkmächtig. Welche Folgen das nach sich zieht, wird im Text beleuchtet.

Aufbau und Inhalt

Das Werk »Keine Chance in der Klassengesellschaft: wie Klassismus soziale Ungleichheit fördert« ist 2022 im Atrium Verlag erschienen und hat 128 Seiten. Vorurteile oder Diskriminierungen aufgrund der sozialen Herkunft und der sozialen Position, die oft stark von der sozialen Herkunft beeinflusst werde, die Menschen erfahren, sind ebenso Thema des Buches wie die gesamtgesellschaftlichen Folgen des Klassismus, also die Frage, was die Zuteilung von Menschen in Klassen und das Denken in Klassen-Kategorien mit unserer Gesellschaft macht. Das Buch ist in 11 Kapitel unterteilt, in denen Wesen und Wirkung des Klassismus aus unterschiedlichen Perspektiven, indes durchgängig kritisch, betrachtet werden. Insgesamt kann das Werk als Streitschrift verstanden werden, in der klar Stellung gegen Klassismus bezogen wird.

Seeck betont, dass in Folge der grassierenden Ungleichheit mitnichten von einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft die Rede sein könne, sondern dass wir es mit einer Klassengesellschaft zu tun hätten. Folglich müssten wir über Klassismus reden. Die Autor:in nimmt zum Anfang des Textes Bezug auf ihr eigenes Aufwachsen als Kind einer langzeitarbeitslosen alleinerziehenden Mutter, um exemplarisch darzulegen, wie prägend Armut sei, wie verbreitet sie in Deutschland und weltweit ist und wie unzureichend sie von denjenigen wahrgenommen werde, die von ihr nicht betroffen seien. Wir sehen eben nicht, was wir nicht sehen – und was wir nicht sehen, darüber machen wir uns oftmals weniger Gedanken. Die Kategorisierung zu erfahren, als armer Mensch einer „Klasse“ zugeteilt zu werden, was kaum je offiziell passiert, aber faktisch tagtäglich geschieht und auch institutionell reproduziert werde, gehe über die Kategorisierung als „arm“ hinaus, ist Seeck überzeugt.

Armut könne man mit Glück, durch Anstrengung, Arbeit und Unterstützung ggf. entkommen, die eigene „Klasse“ hinter sich zu lassen, sei indes bedeutend schwieriger und durch Entfremdung zu anderen Menschen, die in dieser verweilen, mitunter auch schmerzhaft. Der Begriff des „Klassismus“ sei fundamentaler und facettenreicher als das Reden von „Armut“ und „Reichtum“, meint die Autor:in. Dieses Phänomen schildert nicht nur Seeck, es wird zum Beispiel auch aufgegriffen von Didier Eribon in »Rückkehr nach Reims« (2016), Christian Baron in »Ein Mann seiner Klasse«, Jeremias Thiel in »Kein Pausenbrot, keine Kindheit, keine Chance« (2020) oder von Anna Meyr in »Die Elenden« (2020). Diese Werke, die in einer Mischung aus autobiographischem Text und soziologischer Analyse daherkommen, zeigen, dass es offenkundig ein Interesse an solchen Darlegungen gibt. Klassismus-Fragen erfahren Resonanz.

Was aber meint Klassismus konkret? Wo zeigt er sich, wo wird er tradiert und reproduziert? Wie wirkt er sie sich auf die Menschen aus und was macht es insgesamt mit uns, die wir in einer Gesellschaft leben, in der Politik und Wirtschaft vordergründig das Ideal der Meritokratie propagiert wird, dieses in der Realität aber ständig unterlaufen wird dadurch, dass Chancengerechtigkeit in Deutschland ebenso illusorisch ist wie Chancengleichheit? Diesen Fragen nimmt sich die Autor:in an. Das Extrem der sozialen Ungleichheit, die Klassismus mit sich bringt, verdeutlicht sie u.a. anhand der Darlegung, dass die acht reichsten Menschen weltweit so viel Vermögen besäßen wie die die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. In Deutschland läge die Armutsquote heute mit 15,9 Prozent so hoch wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr. Klassenunterschiede würden über die sehr unterschiedlich verteilten Vermögen deutlich. Die zehn reichsten Deutschen „verbuchten Ende des Jahres 2020 eine Steigerung ihres Vermögens um 35 Prozent gegenüber Februar 2019“, wohingegen die ärmsten Menschen im Land durch die Corona-Pandemie noch ärmer geworden seien (S. 16).

Es geht bei der Klassismus-Debatte aber mitnichten nur um Geld und um materielle Güter. Klassismus fände sich auch bezogen auf das kulturelle Kapital, den Habitus, der eine Rolle spiele. Diese Aspekte des Klassismus werden im Buch bezugnehmend auf bekannte Publikationen dazu von Pierre Bourdieu und Didier Eribon geschildert. So machten scheinbar unscheinbare Dinge wie das Wissen um den Nutzen verschiedener Bestecke oder das Beherrschen eines Musikinstrumentes im Hinblick auf Klasse-Wahrnehmung einen Unterschied ebenso wie Namen. Es sei ein vielfach belegten Befund, dass es in Bezug auf die Bewertung von Schulleistungen und sonstigen Assoziationen keineswegs unbedeutend ist, ob „man Kevin oder Maximilian, Chantal oder Katharina heißt“ (S. 21).

Nachteile in Wirtschaft und Bildungssystem hätten auch Menschen mit türkisch oder arabisch klingendem Namen. Klassismus beschreibe also „vor allem, dass und wie Menschen durch die Strukturen einer Gesellschaft abgeschnitten werden von diesen verschiedenen Formen des Kapitals, von diesen Ressourcen – und damit insbesondere von Macht und Anerkennung“ (S. 28). Seecks Anliegen ist nicht, sich nur definitorisch mit Klassismus zu befassen. Sie will kein soziologisches Fachbuch vorlegen, sondern legt dar, dass es ihr darum gehe, zu zeigen, wie Klassismus „unsere Gesellschaft prägt und soziale Ungleichheit fördert, damit wir uns dem entgegenstellen können“ (ebd.). Geld ist in Deutschland – und weltweit – ungleich verteilt. Das wissen so gut wie alle Menschen (wenngleich die wenigsten eine realistische Vorstellung davon haben, wie extrem die Unterschiede sind).

Einer gesellschaftlich als niedrig gewerteten Klasse anzugehören, gehe über das Erleben materieller Deprivation deutlich hinaus, schildert Seeck. In den Nachkriegsjahren, als die Wirtschaft boomte, prägte Helmut Schelsky den Ausdruck der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“. Und Wolfgang Clement behauptete noch im Jahr 2005, es gäbe in Deutschland keine Klassen mehr. Das Reden von der klassenlosen Gesellschaft entspreche aber nicht der von vielen Menschen erlebten Realität. Die Entwicklung, dass Unterschiede zwischen diversen Milieus seit Jahrzehnten wieder stark zunähmen und das Bedürfnis nach Abgrenzung wachse, bewirke, dass heute wieder von Klassen gesprochen werden müsse. Seeck erläutert, welche Institutionen an der – von offizieller politischer Seite kaum je zugegebenen – Konstruktion und Aufrechterhaltung dieses Klassismus beteiligt sind.

Klassismus bewirke eine lebenslangen Ungleichbehandlung der Menschen allein aufgrund des nicht durch eigene Leistung beeinflussbaren Zufalls, in welche Familien sie hineingeboren wurden. Zu beachten sei dabei, dass Klassismus selten allein vorkomme. Vielmehr komme es oft zu Mehrfachdiskriminierung. „Ostfeindlichkeit, Rassismus, Queerfeindlichkeit und andere Unterdrückungsverhältnisse verursachen Armut und soziale Ungleichheit. Sie beschränken den Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt und verweisen Menschen auf »ihren Platz« in der Klassengesellschaft“ (S. 81). Auf diesen bedeutenden Aspekt der Intersektionalität (das meint die Überschneidung und Gleichzeitigkeit verschiedener Diskriminierungskategorien gegenüber einer Person) geht Seeck ein.

Klassismus habe mit Macht zu tun. Der Begriff sei keiner, „der von weißen Männern am Schreibtisch erfunden wurde, auch wenn innerhalb der Debatte bisweilen dieser Eindruck entstehen kann“ (S. 17). Die Wurzeln der Klassismusdebatte lägen vielmehr in feministischen und lesbischen Bewegungen vergangener Jahrzehnte. Die Autor:in schreibt, uns werden bei der Geburt nicht nur einem Geschlecht zugewiesen, sondern wir würden auch „in eine soziale Klasse hineingeworfen, die unser Leben ganz maßgeblich bestimmen wird“ (S. 20). Wie genau sich Klassismus in der gesamten Lebensspanne von der Geburt bis zum Tod zeigt, wie vielschichtig und multifaktorisch er ist, wird im Buch beispielhaft wie auch theoretisch erläutert.

Es wird zwecks dessen u.a. Bezug genommen auf Klassismus in der Schule und in der Erziehung, im sozialen Umfeld, im Kulturbetrieb und im Gesundheitswesen. Rekurrierend auf Gentrifizierung etwa schreibt die Autor:in: „Wer verdrängt wird, muss eine neue Wohnung finden. Wie gut das gelingt und ob überhaupt, auch das ist eine Klassenfrage. Denn Klassismus, Rassismus und andere Diskriminierungsverhältnisse bestimmen den Wohnungsmarkt“ (S. 39). Im Bildungssystem spiele Klassismus eine Rolle, denn unser Bildungskanon sei weiß und bürgerlich geprägt. „Menschen mit vielen Ressourcen definieren, was Bildung ist und was auf der gymnasialen Oberstufe gelernt werden soll. Häufig wird der klassistische Begriff »bildungsfern« verwendet, um Menschen ohne akademische Abschlüsse zu beschreiben“, schildert Seeck (S. 41).

Wenn der Sprung an die Uni dann geschafft sei, was Menschen aus sozial besser gestellten Klassen selbst bei gleicher Intelligenz wie ärmere Menschen eher gelinge, lasse der Klassismus keineswegs nach. Eingehend auf Erfahrungen von fünfzehn Professor:innen, die selbst aus der Arbeiter:innen- oder Armutsklasse kommen, referiert die Autor:in „über ihren langen Weg zur Professur, der auch bei ihnen oft verbunden ist mit Schamgefühlen und dem nie vergehenden Eindruck, zwischen den Klassen zu sitzen“ (S. 45). Im kulturellen Metier führe Klassismus dazu, dass ärmere Menschen „systematisch abgeschnitten werden von Ressourcen, die für den Erwerb von kulturellem Kapital nötig sind, wie Geld, Vermögen, Eigentum, Bildung und Anerkennung“ (S. 51).

Zudem werde die populäre Kultur ärmerer Menschen im Gegensatz zur Hochkultur als Nicht-Kultur diskreditiert. Oper, Theater und Kunstausstellung gelten als Hochkultur, die Kultur der Arbeiter:innenklasse gelte hingegen „als vulgär, populär oder obszön, ihre Angehörigen als »bildungsfern« – man selbst hingegen habe »Geschmack«. Diese Form der Abgrenzung ist durchtränkt von klassistischen Klischees und Zuschreibungen“ (S. 51 f.). Das Problem des Klassismus sei auch der Familienpolitik inhärent, da die Politik Eltern aus der Mittelklasse durch Steuererleichterungen, Zuschüsse und Zuschläge deutlich mehr fördere als finanziell schlechter gestellte Eltern. Überdies gehe Diskriminierung nicht nur von Individuen aus, sondern sei in den „Strukturen der Gesellschaft und von Institutionen verankert“ (S. 24).

Besonders deutlich zeige sich der Klassismus, wenn der mediale Fokus auf Menschen ohne Erwerbsarbeit oder solche im Niedriglohnsektor gerichtet werde. Die Armutsklasse in Deutschland werde höchst klischeehaft repräsentiert, ist Seeck überzeugt. „Der in öffentlichen Debatten gängige Begriff »Hartz-IV-Familien« ist aufgeladen mit klassistischen Zuschreibungen. Unterstellt wird, dass erwerbslose Menschen schlechte Eltern seien, ungebildet und unfähig, ihre Kinder zu unterstützen. Weniger subtil transportiert die Bezeichnung »Sozialschmarotzer« Abwertung und Hass gegenüber Erwerbslosen. Erwerbslose“ (S. 56). Anders, als es uns das Klischee weismachen wolle, sehe die Realität so aus, dass die meisten Personen, die Sozialleistungen bezögen, durchaus einer Arbeit, Weiterbildung oder sonstiger Tätigkeit wie Erziehung, einem Ehrenamt oder der Pflege von Angehörigen nachgingen.

Einerseits arbeite der Klassismus gegen Erwerbslose stark mit Individualisierungen im Gusto dessen, dass ihnen unterstellt werden, sie seien selbst schuld an ihrer Situation, da eben jede:r des eigenen Glückes Schmied:in sei. Aufgrund der unterschiedlichen Chancen, die bereits ab der Geburt bestünden, sei eine solche Proklamation, der insbesondere konservative und neoliberal gesinnte Menschen anhängen, schlichtweg zynisch. Andererseits erfolge aber auch eine Ent-Individualisierung von ALG-II-Beziehenden, wenn sie als homogene, ungebildete Masse, inaktive Masse dargestellt wird. In Folge dessen, dass von Armut betroffene Menschen oftmals auch psychisch krank sind (was die Armut dann noch weiter verstärken und zementieren kann), lohnt es sich, den Blick auch auf den Klassismus im Gesundheitswesen zu richten.

Das tut Seeck, die schreibt, dass es zwar kaum Forschung zur klassenbedingten Diskriminierung im Gesundheitsbereich gäbe, es aber gut dokumentiert sei, dass und wie die soziale Ungleichheiten und der gesundheitliche Zustand zusammenhingen. „Zwischen der Lebenserwartung reicher und armer Menschen in Deutschland liegt ein Unterschied von zehn Jahren. Reiche Menschen leben also durchschnittlich zehn Jahre länger, materiell arme sterben früher, wohnungslose Menschen im Durchschnitt sogar mit 45 Jahren“ (S. 69). Menschen mit viel kulturellem, sozialem und ökonomischem Kapital hätten einen besseren Zugang zum Gesundheitssystem. Menschen, die einkommensarm sind, hätten oftmals keine direkten Kontakte ins Gesundheitssystem.

Hinzu kämen ggf. „klassistische Erfahrungen mit Ärzt:innen in der Vergangenheit. Die Betreffenden haben dann vielleicht gar keine Hausarztpraxis mehr, an die sie sich wenden können, und für den Griff zum Telefon oder den Gang in eine Arztpraxis müssen Unsicherheiten und Ängste überwunden werden“ (S. 71). Diese Probleme bestünden umso mehr, wenn Patient:innen „zusätzlich beispielsweise queerfeindliche oder rassistische Erfahrungen im Gesundheitssystem erleben mussten“, ist die Autor:in überzeugt (ebd.). Der Frage, wie Klassismus konstruktiv begegnet werden könne und was zu tun ist, um ihn zu lindern, nimmt sich die Autor:in im letzten Teil des Buches an. Dabei gehe es ihr „nicht darum, Leute individuell zu ermächtigen aufzusteigen, sondern um Empowerment und kollektive Selbstorganisierung mit dem Ziel grundlegender struktureller Veränderung“ (S. 96).

Das bedeute, politische Veränderungen anzustreben, die grundlegend institutionell nachhaltig wirken. Es sei nötig, strukturell verankerten Klassismus zu bekämpfen, der eingeschrieben sei in Gesetze, ins Gesundheitssystem, in die Familienpolitik, ins Bildungssystem und in die Wirtschaft. „Naheliegende Maßnahmen umfassen eine Vermögenssteuer, eine Erbschaftssteuer, die Erhöhung des Mindestlohns, die Abschaffung von Hartz IV, die Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems“ (S. 101). Ebenfalls sinnvoll sei „die Aufnahme von sozialer Herkunft und sozialem Status als Kategorien in das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG).

Langfristig gesehen sollten wir für ein Wirtschaftssystem kämpfen, das weder Menschen noch andere Lebewesen ausbeutet, das die Belastungsgrenzen der Erde achtet und in dem die Bedürfnisse aller im Mittelpunkt stehen – und nicht die Kapitalinteressen weniger“, mahnt Seeck, die zum Abschluss nochmals betont, ihr Ziel sei, „Menschen für Klassismus zu sensibilisieren, damit wir gemeinsam für eine sozial gerechtere Gesellschaft kämpfen“ (ebd.). Auf welchen Feldern und in welchen Bereichen dieser Kampf anzugehen ist, wird im Text deutlich.

Diskussion

Eltern wollen das Beste für ihre Kinder. Das ist verständlich – und tragisch. Letzteres insofern, als das in einer Klassengesellschaft dazu führt, dass finanziell und sozial bessergestellte Eltern ihren Kindern immer mehr Finanz- und Sozialkapital bieten können, was diesen einen Vorsprung von den ärmeren Kindern gibt, den die Ärmeren kaum je aufholen können. Das ist einer der Aspekte, die Klassismus am Leben halten. Wir leben in einem Land mit sehr verschiedenen Vermögensunterschieden und damit auch Lebensverwirklichungschancen, die keineswegs nur auf eigener Leistung basieren. Was folgt daraus und was macht das mit den Menschen, die nicht auf der Metaphorischen Sonnenseite des Lebens stehen, weil sie eben keine sozial höher gestellten Eltern haben? Das sind Themenkomplexe, die im Buch überzeugend beleuchtet werden.

Die Autor:in macht auf kompakte Weise deutlich, dass und warum Klassismus eine ernstzunehmende Gefahr für den Zusammenhalt der Gesellschaft darstellt und dass er auf verschiedenen Ebenen wirkt. Der Schreibstil ist flüssig, der Zeilenabstand ist hinreichend groß und auf Fußzeilen wird verzichtet. Das Werk ist auch für Nicht-Soziolog:innen gut verständlich. Es ist kein wissenschaftlicher Text, sondern eine Streitschrift, in der deutlich wird, dass die Autor:in Wut empfindet aufgrund der grassierenden Ungleichheit im Land wie auch bedingt durch die Tatsache, dass diese durchaus änderbar wäre, wenn denn der politische Wille gegeben wäre, etwas daran zu tun.

Dass es daran indes mangelt, hat auch mit klassistischen Denken zu tun. Das wird im Text kurzweilig und gut verständlich aufgezeigt. Das Werk lässt sich in 2 Stunden problemlos durchlesen und kann Menschen, die an Themen wie Diskriminierung, sozialer Ungleichheit, Macht und Intersektionalität interessiert sind, empfohlen werden. Die Autor:in beschreibt zwar nichts, was nicht in anderen Büchern, vor allem in sozialwissenschaftlichen Fachbüchern, schon irgendwo thematisiert wurde. Es gelingt ihr aber gut, die wesentlichen Aspekte dessen, was Klassismus auszeichnet und wie er wirkt, in jeweils nur wenigen Seiten langen Kapiteln prägnant auf den Punkt zu bringen. Das macht den Text, der durchweg interessant geschrieben ist, lesenswert.

Ein Kritikpunkt ist auch Sicht des Rezensenten lediglich, dass die Frage, was denn nun getan werden kann, um Klassismus zu bekämpfen, etwas ausführlicher hätte ausfallen können. Zu kritisieren ist ferner, dass die Wahl der Autor:in, ihr Buch als Streitschrift zu publizieren, dazu führt, dass manche Nuancierung in der Armuts- und Ungleichheitsdebatte zwecks Zuspitzung der Argumente unterbleiben. Es stimmt sicher, dass unsere Gesellschaft nicht gerecht ist. Es wäre aber doch angebracht, darauf hinzuweisen, dass im Rahmen der Sozialpolitik sehr wohl schon viel Richtiges passiert, was dazu führt, dass die Ungleichheit im Land schon massiv abgemildert wird.

Das zu sagen meint nicht, grassierende Ungleichheit als akzeptabel darzustellen. Am Ergebnis gemessen ist die Sozialpolitik in Deutschland suboptimal. Es ist aber ein Gebot der Redlichkeit, auch aufzuzeigen, dass Deutschland in Sachen Armuts- und Diskriminierungsbekämpfung im internationalen Vergleich nicht so schlecht dasteht, wie Georg Cremer in seinem Buch »Armut in Deutschland« (20106) deutlich macht. Gleichwohl gibt es noch einiges zu tun. Das wird im Buch von Seeck gut deutlich, manchmal nur eben (zu) sehr pointiert.

Fazit

Francis Seeck hat eine aktuelle, aufwühlende Streitschrift verfasst, die auf den Punkt bringt, dass unser moderner, demokratisch geprägter Sozialstaat keineswegs frei ist von Klassendenken und Klassismus. Dieser intersektional wirkende Klassismus nimmt Einfluss auf das Leben aller Menschen von der Geburt bis zum Tod. Das macht etwas mit den Menschen und der Gesellschaft, Was genau und was zu tun ist, wird im Text prägnant beleuchtet.

Rezension von
Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf
Sozialwissenschaftler, Diplom-Sozialarbeiter/-pädagoge (FH), Sozial- und Organisationspädagoge M. A., Case Management-Ausbilder (DGCC), Systemischer Berater (DGSF), zertifizierter Mediator, lehrt Soziale Arbeit und Integrationsmanagement an der Hochschule der Wirtschaft für Management (HdWM) in Mannheim.
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ISSN 2190-9245