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Max Fuchs: Umwelt - Bildung - Lebensführung

Rezensiert von Prof. Dr. Klaus Hansen, 10.08.2023

Cover Max Fuchs: Umwelt - Bildung - Lebensführung ISBN 978-3-7799-7110-8

Max Fuchs: Umwelt - Bildung - Lebensführung. Zum Zusammenhang von individuellem und gesellschaftlichem Wandel. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. 181 Seiten. ISBN 978-3-7799-7110-8. D: 26,00 EUR, A: 26,90 EUR.

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Thema

Besteht ein Buchtitel aus drei durch Gedankenstriche verbundenen Nomen, drängt sich der Verdacht einer Verlegenheitslösung auf: „Umwelt – Bildung – Lebensführung“. Im Untertitel wird es geringfügig deutlicher: „Zum Zusammenhang von gesellschaftlichem und individuellem Wandel“. Der heute so dringend gebotene „Umweltschutz“ bedarf eines bestimmten Wissens, Könnens und Wagemuts, also „Bildung“, und er bedarf einer bestimmten Motivation und Moral, bei sich zu Hause damit anzufangen, also einer reformierten „Lebensführung“. Folgerichtig ist die Einleitung des Buches mit der Aufforderung von Rainer Maria Rilke und Peter Sloterdijk überschrieben: „Du musst dein Leben ändern!“

Autor

Max Fuchs, geboren 1948, ist gelernter Fernmeldetechniker der Deutschen Bundespost. Er hat sich erst zum Gymnasiallehrer, dann zum Direktor der Akademie der Kulturellen Bildung (Remscheid) und Honorarprofessor für Kulturarbeit und Kulturpädagogik an der Universität Duisburg-Essen emporgebildet und -gearbeitet. Ehrenamtlich war er viele Jahre Vorsitzender des Deutschen Kulturrates. Max Fuchs ist ein Protagonist der westdeutschen Soziokultur-Bewegung, die sich im letzten Viertel des letzten Jahrhunderts unter Hilmar Hoffmanns Fahnenparole „Kultur für alle“ zusammengefunden hat.

Inhalt

Anthropozän

In allen fünf Kapiteln des Buches ist der Zugriff auf die Natur als Ausdruck menschlicher Kultur das Thema. Dabei holt der Autor weit aus, sehr weit. Im Indizienprozess um die Herkunft von Erde und Mensch referiert das Buch die HM, also die herrschende Meinung, auch „state of the arts“ genannt. Demnach ist die Erde circa viereinhalb Milliarden Jahre alt. Seit etwa dreieinhalb Milliarden Jahren gibt es Leben auf Erden. Die Menschwerdung begann, zieht man den ganz großen Bogen, vor sechs Millionen Jahren. Die Entwicklung vom Trockennasenaffen zum Homo sapiens fing vor 300 Tausend Jahren an. Vor etwa zwölf Tausend Jahren ging Homo sapiens vom Nomadentum zur Sesshaftigkeit über und machte sich die Erde durch Ackerbau und Viehzucht untertan. Seither leben wir im Anthropozän, auch wenn manche glauben, das sei erst seit dem Beginn der „Industrialisierung“ vor 250 Jahren der Fall. – Es wimmelt von einschüchternden Großquanten, Milliarden, Abermillionen, Hunderttausenden und Zehntausenden. Aber mehr als ein paar Jahrzehnte wird Homo sapiens als Einzelexemplar bis heute nicht alt. Als Leser ist man geneigt, auf diese riesige Asymmetrie mit der dadaistischen Skandalisierung des Todes zu reagieren!

Was ist der Mensch?

Ein Affe, der sich selbst reflektiert und interpretiert und sich dadurch das Leben schwer macht. Seit der Erfindung der Schrift vor etwa 9 TSD Jahren sorgt er dafür, dass auch neue Generationen nicht unbeschwert, sondern schrift- und interpretationsbelastet ins Leben treten. Mit dem Ergebnis, dass heute in entwickelten Gesellschaften Menschen die ersten 30 Jahre ihres Lebens zur Schule gehen, um in den darauffolgenden 50 Jahren zu verlernen, was sie gelernt haben. – So schreibt es der Autor nicht. So schreibt es der von der Lektüre gestiftete Sarkasmus des Rezensenten.

Anthrozoologie

Stürme, Überschwemmungen, Feuersbrünste, Hitzeperioden, Kältewellen, Dürren, Vulkanausbrüche, Meteoriteneinschläge hat es immer gegeben. Obwohl der Mensch noch nicht vorhanden war und somit auch nicht in die Natur eindringen konnte. Heute gibt es viele dieser „Katastrophen“, weil der Mensch, auf 8 Milliarden Exemplare angewachsen, radikal wie nie die untergegangenen Wälder verbrennt und überrascht von den Folgen ist. Mit der Fähigkeit, sich die Welt untertan zu machen, kann es also nicht weit her sein. Homo sapiens ist diesbezüglich ein Trial-and-error-Dilettant und sollte sich statt an der Ausbeutung an der Verschonung der Welt versuchen. Aber dazu müsste er sein Selbst-, Natur- und Weltverständnis ändern. Fuchs schlägt vor, statt der Anthropologie eine posthumanistische „Anthrozoologie“ zu lehren, nach der der Mensch sich als Tier unter anderen Tieren versteht. Der Mensch steht nicht der Natur gegenüber, sondern ist Teil von ihr und keineswegs Herr im eigenen Haus. Jeder Eingriff in die Natur ist ein Eingriff in die eigene Existenz mit nur begrenzt absehbaren Folgen. Das dämmert inzwischen vielen. Und man fragt sich immer lauter: Warum zerstören wir wider besseres Wissen unsere bio-, atmo- und hydrosphärischen Grundlagen? – Wissen ist Macht? Wissen ist machtlos! Für Pädagogen ein deprimierender Verdacht. Früher glaubte man, was man nicht wissen konnte. Heute wollen wir nicht glauben, was wir sicher wissen können.

Was zu tun ist

Um die „Große Transformation“ zu einer „Gesellschaft der Nachhaltigkeit“ zu bewirken, sind „Wenden“ notwendig, beschleunigte Radikalkuren also, deren Anzahl im Buch mit der Seitenzahl zunimmt. Das wirkt nicht sehr seriös. Vorne sind es zwei, drei, weiter hinten, S. 95, schon sieben. Adressat der „Wenden“ ist der einzelne Bürger. Er soll sein Leben ändern und damit die Umwelt retten. Die an das Wirtschaftssystem adressierte Wende fällt ziemlich dürftig aus. Das Buch bleibt die Skizze einer solidarischen Kreislaufwirtschaft schuldig, die der Gemeinwohlökonomie verpflichtet ist und an die Stelle der konkurrenzgetriebenen Zwangswachstums- und Profitwirtschaft tritt.

Mantra

Der am häufigsten wiederholte Satz auf den 181 Seiten des Buches lautet: „Wir haben kein Erkenntnisproblem, wir haben ein Umsetzungsproblem.“ Die Probleme sind erkannt (sie werden in wechselnder Reihung wiederholt: „Globale Erwärmung, Anstieg der Meeresspiegel, Artensterben, Abholzung der Tropenwälder, Überdüngung der Böden, Überfischung der Meere…“), die Wissenschaften wissen, was zu tun ist, doch man tut es nicht oder zu halbherzig und zu langsam. Wenn an „Umsetzung“ gedacht wird, wird zuerst an den Einzelnen gedacht, der in seinem Lebensbereich und mit „gewendeter“ Lebensführung vorangehen möge: „Ernährungswende“, „Mobilitätswende“, „Energiewende“, anders essen und trinken, sich anders bewegen, sich anders wärmen. Damit spricht das Buch dem Neoliberalismus das Wort, der die individuelle Selbstverantwortung über die gesellschaftliche Solidarität stellt. Es ist Sache des zum „autonomen Subjekt“ hochgejubelten Einzelnen geworden, den Ökozid abzuwenden, obwohl seine Ressourcen dafür völlig unzureichend sind. Fehlen vom Staat gesetzte und mit Sanktionen bewehrte gesellschaftliche Rahmenbedingungen, wird die „Energiewende“ scheitern, denn von Otto Normalverbrauchers Heizungsknopf geht sie nicht aus.

Diskussion

Bleiben wir beim nur sehr begrenzt mächtigen Einzelnen. Welche Rolle spielt seine „Bildung“ auf dem Weg in eine „Gesellschaft der Nachhaltigkeit“? Von dem Päda- und Andragogen Max Fuchs sollte man darauf erhellende ökopädagogische Ideen erwarten. Aber der Autor referiert diverse „Theorien der Bildung“ und gibt sich mit hübschen Aphorismen zufrieden: „Gebildet sein heißt, neugierig auf sich selbst zu sein.“ Wie überhaupt der Gebildete sich dadurch auszeichnet, dass er in gesteigerter „Sorge um sich selbst“ lebt. – Nabelschau statt Glyphosat-Screening? Natürlich ist das ein dummes Entweder-Oder; natürlich bedarf es beides, Selbstachtung und Umweltbewusstsein, aber in welcher Mischung und Gewichtung, welcher Interpunktion und Taktung? Das Buch sagt es uns nicht.

„Es fehlt nicht an Problemerkenntnis, es fehlt an der Umsetzung erkannter und machbarer Alternativen.“ Trifft das wiederholte Mantra überhaupt zu? Die Scientific Community und die wissenschaftlich gebildete Öffentlichkeit mag „kein Erkenntnisproblem“ haben; aber in der Allgemeinbildung der Bevölkerung sind die oft sehr komplexen Erkenntnisse der Ökokrise noch nicht angekommen, wohl auch deshalb, weil es an Verständlichkeit und Anschaulichkeit fehlt, wofür die päda- und andragogischen Institutionen und Berufe allerdings zu sorgen hätten. „Verständliche Nachhaltigkeitspädagogik“ wäre ein schöner Lehrbuchtitel!

Der Autor hat sein berufliches Leben hauptsächlich mit Päda- und Andragogik zugebracht. Jetzt ist er 75 und man möchte ihm einen Wissens- und Weisheitsvorprung unterstellen und als Leser daran teilhaben. Doch Max Fuchs liefert Belesenheitsnachweise. Und zitiert kapitellang aus eigenen Schriften. Das stößt unangenehm auf.

Dabei gibt es interessante Stichworte im Buch, die leider nicht entfaltet werden, Stichworte, mit denen sich das ach so große „Umsetzungsproblem“ pädagogisch angehen ließe:

Nudging – nicht zwingen, sondern „anstupsen“, um Menschen auf den rechten Pfad zu führen. Also: Den überzeugten Fleischesser zum Veggieburger „verführen“, statt ihn moralisch dazu zu verdammen. „Das ist doch Manipulation“, hört man die Wohlmeinenden rufen. Ja, aber welche Erziehung ist nicht Manipulation? Man muss nur aufpassen, in welche Hände (manus) man sich begibt.

Positive Verstärkung – Bürger, die sich umweltschonend verhalten, werden immateriell und materiell belohnt, die anderen aber nicht bestraft.

Transformative Bildung – weniger abstraktes, mehr brauchbares Wissen verbreiten: zum klimaverträglichen Mobilitätverhalten, zu nachhaltiger Ernährung etc., denn: „The proof of the pudding is the eating.“

Great Mindshift – eine Gehirnwäsche in bester Absicht. Ein neues Selbstbild entsteht („Mensch als Tier unter Tieren“ und nicht als exzentrisch positionierte und arrogante „Krone der Schöpfung“); ein neues Verhältnis zur Natur wird gestiftet (Nutzung ohne Pflege ist Raub); eine konkrete Utopie (energetischer Pazifismus) wird entworfen, sodass, alles in allem, die Lust auf Veränderung die Angst vor Veränderung verdrängt.

Eines ist allen Stichworten gemein: Der Weg in eine nachhaltige Gesellschaft in Allianz mit der Natur soll als „lustvolles und subjektiv gewinnbringendes Projekt“ (Harald Welzer) erscheinen. Von „Zwang“, „Entbehrung“ und „Verzicht“ ist nirgends die Rede. Weil den Menschen nicht zumutbar? Anderswo werden ganz andere Töne angeschlagen. Peter Sloterdijk sagt in seiner ebenfalls 2023 erschienenen Schrift „Die Reue des Prometheus“ eine „Ökodiktatur“ voraus, ohne die eine „Klimawende“ nicht zu schaffen sei. Daran wagt Max Fuchs nicht einmal zu denken.

Fazit

Ein Buch, das vor allem dem Ehrgeiz des Verfassers entsprungen zu sein scheint, sich up to date zu zeigen. Der schon älteren Debatte um „Umweltschutz“ und der aktuellen Debatte um die „Klimawende“ fügt es kaum etwas Neues hinzu, aber einige Anstöße enthält es schon. Als Erziehungswissenschaftler bleibt Max Fuchs der Vertreter einer Wünsch-dir-was-Disziplin, ein Ewigmorgiger und kein Ewiggestriger. Das tut gut, hilft aber wenig.

Rezension von
Prof. Dr. Klaus Hansen
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Es gibt 102 Rezensionen von Klaus Hansen.

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ISSN 2190-9245