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Bettina Amrhein (Hrsg.): (Un-) mögliche Perspektiven auf herausforderndes Verhalten in der Schule

Rezensiert von Dipl.Päd. Werner Glanzer, 19.06.2023

Cover Bettina Amrhein (Hrsg.): (Un-) mögliche Perspektiven auf herausforderndes Verhalten in der Schule ISBN 978-3-7799-6401-8

Bettina Amrhein (Hrsg.): (Un-) mögliche Perspektiven auf herausforderndes Verhalten in der Schule. Theoretische, empirische und praktische Beiträge zur De- und Rekonstruktion des Förderschwerpunkts Emotionale und Soziale Entwicklung. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. 428 Seiten. ISBN 978-3-7799-6401-8. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR.

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Thema

Die gegenwärtige Bildungsdiskussion ist dominiert von Begriffen wie z.B. (Bildungs-) Notstand, Überforderung, große Klassen, Personalmangel. Hinter diesen Schlagworten verbergen sich komplexe Zusammenhänge und Wechselwirkungen, deren Blick sich meist einseitig auf die Schüler*innen richtet und die Frage aufwirft, wie diese dazu gebracht werden können, bessere Erfolge zu erzielen. Zu einer radikalen Veränderung dieser einseitigen Fixierung nur auf das (defizitäre) Verhalten dieser Schüler*innen trägt dieser Sammelband bei.

Für den Förderschwerpunkt Emotionale und Soziale Entwicklung erweitert er den Blick auf eine bisher vernachlässigte Perspektive, nämlich die Frage, WIE entstehen die Zuschreibungen an sogenannte herausfordernde Schüler*innen und deren Verhalten und welchen Anteil haben die Pädagog*innen und die Wissenschaft durch einseitige Sichtweisen an der Produktion und Aufrechterhaltung dieser Zuschreibungen? Inwiefern wird das eigene emotionale Erleben der Schüler*innen, wie ihre selbstbestimmte Handlungspraxis wahrgenommen und berücksichtigt? Für den Bereich „emotional-soziale Behinderung“ untersuchen und beschreiben 33 Autor*innen, alle ausgewiesene Expert*innen, diese Frage facettenreich und ausführlich und leiten, wie es die Herausgeber*innen formulieren, einen Kurswechsel ein.

Diese intensive und gründlich belegte Auseinandersetzung erfolgt sowohl theoretisch, empirisch und praktisch. Die radikale Änderung und Erweiterung des Blick- und Verstehenswinkels lässt störendes oder herausforderndes Verhalten nicht einseitig bei den diagnostizierten Individuen und ihrer objekthaften Betrachtung verortet. Sie erweitert den Blick um das Selbsterleben der Schüler*innen und auf die Möglichkeiten eines veränderten Umgangs in der pädagogischen Praxis, der möglich wird durch eine (selbst)reflektive Auseinandersetzung der Pädagog*innen mit Zuschreibungs- und Etikettierungsprozessen und ihren anteiligen Mit-Produktionen daran. Öffnen sie sich dafür, verändern sie die Praxis.

HerausgeberIn

Die beiden Herausgeber*innen Benjamin Badstieber und Bettina Amrhein forschen und lehren u.a. zu den Themenbereichen Inklusion, inklusive Bildung, Professionalisierung und haben dazu als Autor*in und/oder Herausgeber*in seit vielen Jahren zahlreiche Veröffentlichungen aufzuweisen. Die weiteren Autor*innen sind Expert*innen ebenfalls aus den Bereichen Erziehungswissenschaft, Forschung und Anwendungen in der schulischen Praxis.

Aufbau

Der Sammelband hat 428 Seiten und gliedert sich in drei Hauptteile: Theoretisch Verstehen (neun Beiträge), empirisch beobachten (fünf Beiträge), praktisch handeln (acht Beiträge). Fundiert und gut belegt wird in den Beiträgen zu den jeweiligen Kapitelüberschriften eine neue Sicht und damit ein neuer Umgang mit den bisherigen Erklärungen und Umgangsweisen im Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung begründet und theoriebasiert hergeleitet. Im Anschluss an die jeweiligen Beiträge finden sich ausführliche Literaturnachweise. Die thematische Bandbreite soll in jeweiligen Beispielen aufgezeigt werden.

Inhalt

I Theoretisch Verstehen

In diesem Kapitel werden die Grundlagen des Verstehens jeweils thematisch schwerpunktmäßig erörtert. So sind z.B. Ökonomisierungsstress und Unterrichtsstörungen Gegenstand des Beitrags von Birgit Herz (S. 58–70). Sie beschreibt in einem Abriss die Inklusionsgeschichte an den Schulen und die festzustellende Standardabsenkung in der pädagogischen Qualität mithilfe „inklusiver Schulentwicklungsprozesse“, in denen bildungsökonomische Steuerung dominiert. Für die unter dem Begriff der „Unterrichtsstörungen“ subsumierten Verhaltenssequenzen wird die Verantwortung jeweils ausschließlich im Kind oder Jugendlichen verortet. Durch Selbstoptimierungsprogramme, Selbststeuerung und Ressourcenorientierung werden die Kinder und Jugendlichen zum alleinigen „Beheber“ der diagnostizierten Störungen gemacht (S. 64). Mit der Verdrängung genuin pädagogischer Handlungsformate im Umgang mit Unterrichtsstörungen einher gehen „Programmpädagogiken“, meist auf der Grundlage verhaltenstherapeutischer Codierungen, die mit der Transformation der Schulen in Dienstleistungzentren korrespondieren. Schulen werden zu marktorientierten Service Centern, Klassenzimmer zu Lernbüros, Hausaufgaben zu ‚Lernvereinbarungen‘ (S. 62). Diese Ideologie der Selbstoptimierung wird gestärkt durch eine „Verneigung vor der Ressourcenstärkung“.

Mit der Einführung in Mad Studies für verhaltensgestörte Pädagog*innen von Mai-Anh Boger wird ein radikaler Perspektivenwechsel und die Einbeziehung Betroffener gefordert, die in dem zitierten Slogan „Nichts über uns ohne uns“ Ausdruck finden. Mai-Anh Boger ordnet die Mad Studies als Teil der Disability Studies ein, der sich mit Re-/De-Konstruktion und kritischen Analysen der sogenannten „seelischen Behinderung“ befasst (S. 116). Im Abriss wird die historische Entwicklung der Mad Studies aus dem englischen Sprachraum mit europäischen Anknüpfungen dargestellt. Die sich damit eröffnenden Fragestellungen werden anschließend erörtert und in ihrer Bandbreite dargestellt, wobei die Verfasserin es vermeidet, eine endgültige Festlegung zu treffen. Vielmehr geht es um die Bandbreite und Überschneidung der unterschiedlichen Diskussion- und Reflexionsansätze, um die damit verbundenen Narrative und um die Frage, wie eine Betroffenenbeteiligung bzw. empowernde Selbstbestimmung aussehen kann. Zum Ende des Kapitels werden in sieben Fragestellungen Aspekte formuliert, die zu interessanten Diskursen in der Sonderpädagogik im Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung führen können (S. 129).

Sophia Falkenstörfer erweitert in ihrem Beitrag (S. 166–185) den Diskurs über den problematischen Umgang mit Schüler*innen aus dem Förderschwerpunkt sozial-emotionales Verhalten um eine leibphänomenologische Sichtweise und skizziert eine Pädagogik der Ermöglichung des veränderten pädagogischen Umgangs mit einem als subjektiv sinn-vollen angenommenen Verhalten. Falkenstörfer betont die Inadäquation als zentral für die pädagogische Diagnostik sowie Pädagogik und Erziehung allgemein (S. 175). Sie unterscheidet zwischen Be-urteilen (Grundlage: eigenes Welt- und Selbstverständnis) und Verstehen-wollen (Grundlage: Gewordenheit, Intentionen und Sinnstrukturen des Anderen) und plädiert für eine subjekt- und lebensweltorientierte Pädagogik der Ermöglichung als pädagogisch-diagnostische Haltung. „Der Fokus dieser pädagogischen Perspektive liegt also nicht darauf, die oder den Schüler*in für die Gesellschaft „tauglich“ zu machen,…..sondern mit Blick auf ihr oder sein individuelles Leben Möglichkeiten eines guten Lebens auszuloten.“ (S. 184)

II Empirisch beobachten

Julia Gasterstädt, Gerrit Hasche, Jana Helbig und Svenja Meyer analysieren in ihrem Beitrag (Zur Problemkonstruktion im Diskurs der Sonderpädagogik bei Verhaltensstörungen) den heil- und sonderpädagogischen Spezialdiskurs und dessen Formationsregeln anhand ausgewählter Veröffentlichungen. Die Autoren formulieren in ihrer Diskussion zu den vorgenommenen Analysen die These der fortschreitenden Therapeutisierung der Sonderpädagogik. In ihrem Ausblick verweisen sie auf die Notwendigkeit weiterer empirischer Studien, die die Komplexität pädagogischer Situation fokussieren und danach fragen, was in differenten pädagogischen settings wie als „störend“ artikuliert wird und wie die situativ beteiligten Akteur*innen damit umgehen (S. 202). Sie verweisen auf die Chancen einer „critical transdisziplinary“ zur Eröffnung neuer Perspektiven in Forschung und schulischer Praxis mit dem Hinweis, dass dies in der Sozialen Arbeit bereits geschieht.

Die Delegitimation pädagogischer Zugriffe auf ‚nicht_normale’ Verhaltensweisen in der sonderpädagogischen Wissensproduktion am Beispiel ADHS ist ein Beitrag von Benjamin Haas (S. 207–224), in dem er die Machtwirkungen im Interdiskurs diskutiert. Jürgen Budde, Carolina Claus, Katharina Doden, Drorit Lengyel, Tobias Schröder und Nora Weuster präsentieren eine Fallstudie zu familialen Ungleichheiten und kindlichem Wohlbefinden in Zeiten der Pandemie bezogen auf die Grundschule. Andreas Köpfer und Katharina Papke beschäftigen sich mit den miteinander in Beziehung stehenden Zuschreibungspraxen bei Schüler*innen mit Autismus-Diagnose, denen häufig ein Förderbedarf im Bereich emotionale und soziale Entwicklung attestiert wird. Florian Weitkämper problematisiert in seinem Beitrag den Spannungsbogen zwischen der notwendigen pädagogischen Kategorisierung und der stereotypen Kategorisierung am Beispiel „Inklusionskind“ (S. 268). Unter Einbeziehung seiner ethnografischen Forschung zu Lehrkräfte und soziale Ungleichheit zeigt er mit ausführlicher Herleitung und datenbasierter Begründung wie durch Prozesse eines un/doing authority soziale Differenzen in Bildungsungleichheiten überführt werden können.

III Praktisch handeln

Stephan Marks definiert im ersten Beitrag dieses Kapitels Scham und Menschenwürde als Thema für die Schule. Der systemische Ansatz der Neuen Autorität wird von Ines Schiermeyer-Reichel näher beschrieben.

Ein schulpraktisches Beispiel ist der Beitrag von Nils Altner (S. 345), in dem es um achtsame phänomenologische Gespräche geht. Attending In and Out: Synergising mindful and restorative practice ist ein in englisch verfasster Beitrag von Edward Sellman und Bettina Amrhein. Eine Evaluation psycho-sozialer Belastungsfaktoren während der Corona-Krise nimmt Martin Gerste vor (S. 378), es schließt sich der Beitrag von Deborah Schoeberlein David an (S. 396): Bringing Mindfulness to Teaching, Breath by Breath. Den Abschluss des Sammelbandes bildet der gemeinsame Artikel von Benjamin Badstieber, Malte Thiede und Bettina Amrhein: „Was wird denn aus unserer Zukunft?“-Gemeinsam auf dem Weg zur Konstruktion eines schulpädagogischen Blicks auf das emotionale und soziale Erleben im Unterricht. Sie betonen die notwendige schulpädagogische Wende und die Wahrnehmung von Schüler*innen als grundsätzlich handlungskompetent und wirkmächtig und nicht als defizitär und sehen dabei die wichtige Rolle der Sonderpädagog*innen bei der Durchbrechung normierter Zuschreibungspraktiken.

Diskussion

Der Sammelband begründet und beschreibt differenzierte Zugänge und Anregungen zu Ansätzen der Wahrnehmungsveränderungen im Bereich sowohl der Sonderpädagogik als auch im Bereich der Pädagogik allgemein. Er folgt im Aufbau dem Dreischritt Verstehen, Beobachten, Handeln. Dabei liegt der Schwerpunkt auf den eigenen Anteilen der Sonderpädagog*innen bei Zuschreibung und Diagnoseübernahme sowie der überprüfenden Hinterfragung dieser Prozesse. Die bereichsspezifischen Herkünfte der Autor*innen aus Forschung, Lehre und Praxis vereinen sowohl theoretische als auch praxisbezogene Inputs, die eine hohe inhaltliche theoriebasierte Dichte aufweisen und für deren Erschließung Vorkenntnisse in Soziologie oder Systemtheorie hilfreich sind. Die unterschiedlichen Fokussierungen untersuchen sowohl die konstruierten Diagnostiken als auch die gesellschaftlich relevanten Einordnungen und Bedeutungsgebungen im Rahmen vorherrschender bildungs- und gesellschaftspolitischer Normierungen.

Es wird unter Bezug auf unterschiedliche Forschungsergebnisse durchgängig eine an den Kindern und Jugendlichen orientierte und ihnen zugewandte Perspektive entwickelt, deren praktische Umsetzung vor allem die beteiligten Pädagog*innen selbst als Person und somit reflektierende Pädagog*innen fordert. Diese Perspektivumkehr weg vom nur vorgegebene Kategorien/​Diskussionen übernehmenden und diese nacherzählendem Pädagog*en wird u.a. auch durch die Einführung der Mad Studies deutlich. Es wird ein bisher vernachlässigter Aspekt der Bildungsdiskussion, die sich vordergründig vor allem um kleine Klassen, mehr Personal etc. dreht, beleuchtet: Die unmittelbare Definitions- und Handlungsebene zwischen Kindern und Jugendlichen und den Erwachsenen im Milieu der Bildungserzeugung sowie die damit verbundenen Rollenaufteilung, die Bühne des Bildungsprozesses. Für diese neue Perspektive und die damit verbundenen Aspekte ist der Sammelband mit seinen Beiträgen geradezu ein Weckruf und ein wichtiger Impulsgeber.

Um eine Ebene der Begegnung mit Kindern und Jugendlichen herbeizuführen ist zuerst eine reflektierende Begegnung mit sich selbst, der eigenen Wahrnehmung, der eigenen Zuschreibungspraxis und deren Herkunft/​Entstehung, der eigenen Diagnosehörigkeit nötig sowie das Einüben anderen eigenen Verhaltens, was wiederum nur durch eine veränderte Wahrnehmung möglich ist. Diese anspruchsvolle Thematisierung blieb bisher in den Diskussionen um und über Schule überwiegend ausgeblendet und diese Lücke schließt dieser Sammelband mit seinen unterschiedlichen Beiträgen. Dass er drei unübersetzte englischsprachige Beiträge beinhaltet spricht eher für eine Fachöffentlichkeit als Zielgruppe.

Fazit

Der vorliegende Sammelband ist eine (positive) Zu-Mutung im wahrsten Wortsinn. Er stellt die einseitigen dominanten Störungszuschreibungen an die Kinder und Jugendlichen und die nur ihnen aufgebürdete Last der Veränderung forschungsbasiert in Frage und mutet diese Kritik und Neuorientierung den Leser*innen/​Sonderpädagog*innen zu. Dies geschieht in Form von kompakten, dichten und intensiven Beiträgen, die sich mit Vorkenntnissen ökologisch-systemischer Perspektiven leichter erschließen lassen.

Rezension von
Dipl.Päd. Werner Glanzer
Dipl.Soz.päd./Sozialarbeiter, Supervisor, Lehrbeauftragter an der ASH Berlin, Arbeitsfeld Schulsozialarbeit
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Es gibt 14 Rezensionen von Werner Glanzer.

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Zitiervorschlag
Werner Glanzer. Rezension vom 19.06.2023 zu: Bettina Amrhein (Hrsg.): (Un-) mögliche Perspektiven auf herausforderndes Verhalten in der Schule. Theoretische, empirische und praktische Beiträge zur De- und Rekonstruktion des Förderschwerpunkts Emotionale und Soziale Entwicklung. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. ISBN 978-3-7799-6401-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30210.php, Datum des Zugriffs 03.12.2023.


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