Daina Langner, Sina Hain: Psychoanalyse (griffbereit)
Rezensiert von Dr. phil. Ulrich Kießling, 14.04.2023

Daina Langner, Sina Hain: Psychoanalyse (griffbereit).
Schattauer
(Stuttgart) 2022.
232 Seiten.
ISBN 978-3-608-40146-2.
D: 28,00 EUR,
A: 28,80 EUR.
Reihe: griffbereit. .
Thema
Manche Hand- und Wörterbücher zum Thema Psychoanalyse erläutern den Freudschen Gebrauch psychoanalytischer Fachbegriffe (die häufig auch einen umgangssprachliche Bedeutung haben), im deutschen Sprachraum zuvorderst Jean Laplanches und Jean-Bertrand Pontalis (1967) Pionierwerk „Das Vokabular der Psychoanalyse“. Wolfgang Mertens (2022) „Handbuch der psychoanalytischen Grundbegriffe“, in dem eine historisch kritische Aneignung psychoanalytischer Begriffe vorlegt wird, beschreibt auch die aktuelle Interpretation den entsprechenden Termini.
Langner und Hain gehen vom zeitgenössischen Bedeutungen aus. Sie legen aber nicht eigentlich ein Wörterbuch vor, sondern eher ein Kompendium der gegenwärtigen Praxis psychodynamischer Therapie in der kassenärztlichen und -psychotherapeutischen Versorgung in Deutschland.
Autorinnen
Daina Langner, Dr. phil., ist Dipl. Musikerin, Dipl. Psychologin, psychologische Psychotherapeutin (VT, TP, Psychoanalyse) sowie Autorin und Mitautorin von Artikeln und einem Werk über Musikpsychologie und Musikermedizin. Sie betreibt eine psychotherapeutische Praxis in Berlin Charlottenburg.
Sina Hain, M.Sc. in Psychologie (klinische Psychologie, Neuro- und Rehabilitationswissenschaften) studierte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg und absolvierte bei der Erstautorin ein studienbegleitendes Praktikum.
Liane Goller ist Illustratorin (Illustratoren Organisation e.V.).
Entstehungshintergrund
Sina Hain hatte sich von einem klinischen Praktikum bei der Berliner Psychoanalytikerin Daina Langner einiges versprochen – dann brach der Corona-Lockdown über diese Pläne herein. Um unter den Bedingungen der Kontaktsperre das Beste aus dem geplanten Praktikum zu machen, entwickelten die beiden Kolleginnen ein Format der digitalen Zusammenarbeit, aus dem schließlich dieses Buch entstand.
Inhalt
Während der Theorieteil einen wichtigen Teil der klinischen Theorie der Psychoanalyse sehr komprimiert beschreibt, konzentriert sich der klinische Teil auf die Behandlung einer beispielhaften Patientin (wie wir es auch bei Thomä und Kächele 1989) finden. Einen in anderen Texten überhaupt nicht vorhandenen Teil nehmen klinische und vertragspsychotherapeutische Dokumentationspflichten ein.
Diskussion
Der Theorieteil umfasst etwa die Hälfte des gesamten Texts und ist trotz seiner Kürze erstaunlich ergiebig. Er umfasst sogar Zitate aus längst vergriffenen (1959) Texten, wie die beinah vergessene Frieda Fromm-Reichmann. Ihr hat Hannah Green mit ihrem Roman „Ich hab dir nie einen Rosengarten versprochen“ ein literarisches Denkmal gesetzt. Auch in diesem Roman wird eine Behandlung geschildert, es darf vermutet werden, die eigene. Vielleicht bezieht sich Sina Hain indirekt auf diese Lektüre; sie kann ja selbst keine Psychoanalyse durchgeführt haben, obwohl ihr Text an einigen Stellen den Eindruck erweckt, jemand hätte sich akribisch mit allen kassenärztlichen Bestimmungen befasst.
Mehr als die Hälfte des Buchs wird mit der Darstellung einer psychoanalytisch orientierten Behandlung gefüllt; ich vermute, um Menschen einen anschaulichen Einblick in die Realität des Behandlungssettings zu geben.
Während der theoretische Hintergrund der Psychoanalyse gut lesbar und – trotz des relativ geringen Umfangs – auch differenziert dargestellt wird, kann ich mich mit der vermutlich fiktiven Behandlung Frau Kimms nicht anfreunden.
Diese Person ist eine lesbische junge Frau, die unter sozialen Ängsten leidet und unter diversen psychogenen Schmerzen. Sie kann sich nicht gut auf Vorstellungsgespräche einlassen und lebt zunächst mit einer ungeliebten Mitbewohnerin zusammen. Im Laufe der etwas mehr als ein Jahr und mit bis zu drei Wochenstunden durchgeführten Therapie kommt es zu bedeutenden Veränderungen: Frau Kimm wird wesentlich selbstbewusster, kann eine Berufstätigkeit aufnehmen, die ihren Kompetenzen entspricht und zieht mit ihrer Partnerin zusammen. Im Regelfall ist die Patientin jetzt schmerzfrei. Dafür ist sie nun in der Lage Phantasien zu imaginieren und Träume zu erinnern. Sie führt also ein viel reicheres Leben als vor Beginn der Therapie.
So weit so gut. Mein Problem besteht darin, dass diese psychoanalytische Psychotherapie nicht als Beziehungserfahrung geschildert wird sondern als ungeheuer bürokratische Prozedur, die scheinbar hauptsächlich aus Dokumentationspflichten und aus kognitiven Betrachtungen besteht. Auch die parallel diskutierten psychodynamischen Überlegungen kann ich nicht recht nachvollziehen, und geradezu absurd wird es, wenn über den phallischen Konflikt der lesbischen Frau nachgedacht wird: Natürlich kann auch eine Frau einen phantasierten Penis haben; selbst wenn man vom „Phallischen“ als sozialer Konstruktion und von einem nonbinären Modell der Geschlechtlichkeit ausgeht [1], ist wohl möglich sich mit dem Phallischen konflikthaft auseinanderzusetzen. „Intensive phallische Wünsche“ werden in diesem Text aber als Metapher für erwartete Liebe, Anerkennung und Bewunderung geschildert, die die Patientin so sehr von ihrer beruflichen Tätigkeit ablenken, dass sie sich kaum darauf konzentrieren könne, was ich mir in der beschriebenen Situation kaum vorstellen kann. Warum der Begriff phallisch dafür stehen soll, bleibt mit rätselhaft.
Aus feministischer Sicht hat Svenja Flaßpöhler eine bestechende Polemik zu diesem Thema verfasst, wobei zumindest ich mir unter einer potenten Frau keine „phallische“ vorstelle.
Ich vermute, den meisten Analytiker:innen geht es so, dass sie eher intuitiv auf der Basis einer impliziten Theorie operieren; die Interpretation entsteht oft nachträglich und wird behutsam in den Dialog eingebracht. Das ist in publizierten Fallgeschichten teilweise eindrucksvoll wiedergegeben worden. Ich denke etwa an Hermann Argelanders: „Flieger“ oder Rolf Klüvers: „Die verschenkte Puppe“. Beide Analytiker waren Anhänger des szenischen Verstehens. Dabei handelt es sich gerade um die Theorie, die von Langner und Hain unerwähnt bleibt. Da fehlt etwas Entscheidendes.
Die Idee für dieses Buch finde ich großartig: Psychologiestudierenden und Verhaltenstherapeut:innen eine Idee von Psychoanalyse zu verschaffen. Deshalb wollte ich genau dieses Buch auch besprechen. Leider wird es dem Anspruch nicht gerecht. Psychoanalyse ist eine komplexe Theorie, über deren wissenschaftlichen Status trefflich gestritten werden kann: Bedeutende Exponent:innen sind sich noch nicht einmal darüber einig, ob es sich um eine Naturwissenschaft handele (z.B. Kernberg), um eine Sozialwissenschaft (z.B. Lorenzer) oder um eine Tiefenhermeneutik, also eine interpretative Subjektwissenschaft (z.B. Habermas). Was Psychoanalyse nicht ist, darüber herrscht größere Einigkeit.
Möglicherweise ist aber auch der Anspruch nicht einlösbar, Psychoanalyse griffbereit vorzustellen.
Fazit
Das Versprechen ein Psychoanalyse-Curriculum für PsychologiestudentInnen nachzutragen ist ein Beginn, der auf weitere Auflagen hoffen lässt. Mit einer Gewichtsverlagerung, hin zur Psychoanalyse als kritische Theorie des Subjekts, könnte dieses Kompendium eine Lücke füllen.
Literatur
Hermann Argelander (1972): Der Flieger – Eine charakteranalytische Fallstudie, Frankfurt: Suhrkamp
Svenja Flaßpöhler (2018): Die potente Frau. Für eine neue Weiblichkeit Berlin: Ullstein Streitschrift
Thomä, Helmut und Horst Kächele (1985/2006): Psychoanalytische Therapie, 3 Bd. Heidelberg: Springer
Rolf Klüver (1995): Die verschenkte Puppe. Darstellung und Kommentierung einer psychoanalytischen Fokaltherapie, Frankfurt: Suhrkamp
Jean Laplanche, Jean-Bertrand Pontalis (1967): Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt: Suhrkamp
Mertens, Wolfgang mit Bruno Waldvogel (2000, 5. Auflage 2022): Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe. Stuttgart: Kohlhammer
[1] die Autorinnen sprechen an verschiedenen Stellen von LGBQ und von queer-Theorie was darauf hinweist
Rezension von
Dr. phil. Ulrich Kießling
Dipl.-Sozialarbeiter/Soziale Therapie, Analytischer Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche, Familientherapeut und Gruppenanalytiker, tätig als niedergelassener Psychotherapeut in Treuenbrietzen (Projekt Jona) und Berlin, Dozent, Supervisor und Selbsterfahrungsleiter bei SIMKI und an der Berliner Akademie für Psychotherapie (BAP) von 2004 bis heute. Psychotherapiegutachter der KVB
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