Holger Lindemann: Systemisch-lösungsorientierte Gesprächsführung
Rezensiert von Dipl. Soz.-Päd. Gerd Schweers, 20.04.2023

Holger Lindemann: Systemisch-lösungsorientierte Gesprächsführung in Beratung, Coaching, Supervision und Therapie. Ein Lehr-, Lern- und Arbeitsbuch für Ausbildung und Praxis. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2022. 3., erweiterte und aktual. Auflage. 616 Seiten. ISBN 978-3-525-45140-3. D: 45,00 EUR, A: 47,00 EUR.
Thema
Das Buch behandelt Grundlagen, Methoden und Techniken systemisch-lösungsorientierter Beratung. Es handelt sich sowohl um eine Einführung in die Theorie als auch eine differenzierte Darstellung von möglichen Methoden und Techniken. Die gewählten Beispiele beziehen sich auf die im Titel genannten Arbeitsbereiche, deren grundsätzliche Verbundenheit betont wird. Die Fähigkeit zur und die Notwendigkeit von kompetenter Gesprächsführung wird dabei als eine entscheidende Gemeinsamkeit in diesen Arbeitsbereichen beschrieben. Die 3. Auflage enthält über den Print hinaus Zugangsmöglichkeiten zu Downloadmaterial. Bei mehreren Versuchen ist mir der Zugang zum Downloadmaterial leider nicht gelungen, ohne dass mir die Ursachen dafür deutlich wurden.
Autor
Holger Lindemann ist Professor für Entwicklungspsychologie und Systemische Beratung an der Medical School Berlin; er ist Erziehungswissenschaftler, Supervisor, Coach, Organisationsberater und Mediator, zertifizierter Ausbilder für systemische Beratung (SG/DGSF) und Leiter des HafenCity Instituts für systemische Ausbildung (HISA) in Hamburg. Er verfügt über eigene Praxis- und Leitungserfahrungen im Bereich der Jugendhilfe.
Entstehungshintergrund
In der dritten, ausgiebig überarbeiteten Auflage geht es um Gesprächsführung als zentrale Kategorie in den Arbeitsbereichen Beratung, Coaching, Supervision und Therapie. Bereits im Vorwort wird deutlich, dass neben aller differenzierten Darstellung von Methoden und Techniken – Schwerpunkt lösungsorientiert- systemisch – die anregende und unterstützende Beziehung zum Klienten und der individuelle Beratungsstil der Praktikerinnen und Praktiker von hoher Bedeutung ist. Der Autor beschreibt im Vorwort sein Buch als roten Faden für Weiterbildungen in den genannten Bereichen.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in sieben Kapitel gegliedert, gefolgt von einem Literaturverzeichnis und einem Verzeichnis der Übungen und Praxistipps.
Im ersten Kapitel geht es um die Struktur des Buches, Ziele und Aufbau, aber auch um die Entstehung und die Zielgruppe. Der keineswegs unproblematische Begriff der Gesprächsführung als gemeinsames Element in den unterschiedlichen Beratungs- und Therapiesettings wird begründet. Bereits hier wird auf den Kontext des Lernprozesses verwiesen und präzisiert, in welchem Kontext das Lernen von Beratungsprozessen erfolgreich sein kann. Die im gesamten Buch immer wieder benutzten Hilfen zum Lernprozess (Übung, Kritik, Praxistipp) werden vorgestellt.
Im zweiten Kapitel (Grundlagen und Definitionen) werden Vertiefungen in der Definition von Gesprächsführung und Beratung vorgestellt, es erfolgt eine Einführung in das Systemische Denken im allgemeinen und eine Schwerpunkterkundung zur systemisch-lösungsorientierten Beratung als Perspektivenerkundung und Erweiterung. Die Unterscheidung von Prozess- und Fachberatung greift einen wesentlichen Aspekt von Beratungstheorie auf, der in anderen Quellen unter anderem mit den Begriffen „transitive Beratung“ und „reflexive Beratung“ thematisiert wird. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede verschiedener Beratungsformate werden im Text, aber auch in gut formatierten Tabellen vorgestellt. Im darauffolgenden Textteil wird systemisches Denken, Lösungsorientierung, und die systemisch-lösungsorientierte Beratung anhand von für den Prozess relevanten Grundbegriffen vorgestellt und erläutert. Die ausgewählten Grundbegriffe sind bereits ausgeprägt handlungsorientiert.
Im dritten Kapitel geht es um Basistechniken, womit unter anderem die Einladung zum Gespräch, die Zielformulierung und Veränderungsanbahnung, die Zusammenfassung und Bewertung von Gesprächsbeiträgen, Fragetechniken und der Einsatz von Metaphern und symbolischen Interaktionen gemeint sind. Alle Einzeltechniken sind ausführlich erläutert und in Praxisbeispielen belegt. Wenn möglich, werden Quellen genannt und zum Schluss die Anbahnung konkreter Veränderungsschritte thematisiert.
Im vierten Kapitel schließlich werden Modelle der Hypothesenbildung dargestellt, in der systemischen Beratung von höchster Bedeutung. Abgesehen von Rollenmodellen, Beziehungs- und Interaktionsmodellen, Modellen zeitlicher, persönlicher und kontextueller Entwicklung wird auch ein synergetisches Modell der Systemveränderung vorgestellt. In diesem Kapitel wird auch unter dem Begriff des „konzeptionellen Arbeitsraums“ erläutert, wie auf verschiedenen Ebenen der systemisch beteiligten Personen unter Berücksichtigung verschiedener Zeitebenen mit ihren Selbstkonzepten gearbeitet werden kann.
Im fünften Kapitel werden – orientiert am Prozess der Beratung – Bausteine des Gesprächs erläutert. Diese Bausteine sind mit ihrer inhaltlichen Zuordnung auch auf einer dem Buch beigelegten Pappkarte enthalten. Auf der Karte wie auch im Buch werden den Bausteinen symbolisch oder textlich Möglichkeiten des jeweiligen Bausteins zugeordnet, z.B. Information und Erklärung/Über das weitere Vorgehen entscheiden/​Phase abschließen.
Im sechsten Kapitel geht es um den Umgang mit speziellen Situationen, womit spezielle Zielgruppen, spezielle Problematiken wie u.A Unzuverlässigkeit, Pünktlichkeit oder Unabhängigkeit der Berater gemeint sind. Daneben werden aber auch Themen berührt, die eher juristische Kenntnisse berühren (Beratungsvertrag) oder Veränderungen durch den Einsatz technischer Mittel (Onlineberatung).
Im siebten und letzten Kapitel schließlich geht es um die sinnvolle Konstruktion von Lernsituationen für Beratungsgespräche. Dort werden für den Lernprozess typische Mittel wie Peer-Beratungen und Simulationen hinsichtlich ihrer Nutzbarkeit und Angemessenheit in unterschiedlichen Gruppen diskutiert. Damit schließt sich auch der Kreis zur Einleitung, in der didaktische Aspekte der Nutzung des Buches gewürdigt wurden.
Auf das Literaturverzeichnis folgt ein Verzeichnis der Praxishilfen.
Diskussion
Im Vorwort wird das Buch ja als roter Faden für Weiterbildungen beschrieben. Dem würde ich eher widersprechen und vielmehr den wenig benutzten Begriff des Grundlehrbuchs benutzen, der nach meiner Erfahrung von Studierenden gerne benutzt wird, wenn sie nach Quellen fragen. In der Darstellung der theoretischen Grundlagen und unter Berücksichtigung eines Lernkontextes für Methoden kann hier nur von einer umfassenden und sehr genauen theoretischen Grundlegung gesprochen werden. Ob diese umfassend oder auszugsweise genutzt wird, das ist wahrscheinlich abhängig von der konkreten Lernsituation.
Die prozessorientierten „Bausteine“ führen einen Begriff ein, den ich auch nützlich für andere Teile finde, zum Beispiel für die Basistechniken (Kapitel 3) oder die Modelle für die Hypothesenbildung (Kapitel 4). Möglicherweise wäre der Begriff hier sogar präziser, weil es in der Tat um Zutaten zu einem komplexen Vorgang geht und die angesprochenen Techniken oder Modelle an verschiedenen Stellen einsetzbar sind, eben wie Bausteine in einem größeren Vorhaben. Die didaktische Konzeption des Buches mit ihren ausgiebigen Unterstützungsmechanismen für den Lernprozess birgt mit ihrer Vielfalt und den sehr präzisen Erläuterungen von Interventionen natürlich das Risiko der Manualisierung, also – hier – der möglicherweise zu wenig reflektierten wörtlichen Nachahmung. Dem wird aber immer die Notwendigkeit einer hoch individualisierten Vorgehensweise entgegengestellt.
Angesichts der Vielfalt der vorgestellten Methoden und Techniken ist es kaum zu vermeiden, dass es im Text zu kleineren und nicht störenden Dopplungen kommt. Das gilt für die grundsätzlichen didaktischen Überlegungen, die sowohl in der Einleitung wie auch im folgenden Kapitel erwähnt werden, wie auch zu manchen Überlegungen im Kapitel zur Hypothesenbildung. Insgesamt ist das Buch in der Tat für Fortbildungen als Literaturgrundlage ausgezeichnet geeignet, aber auch für Studierende in Studiengängen, denen die Vermittlung von Praxiskompetenzen wichtig ist. Als Beleg für diese Orientierung kann auch auf die Aufzählung von Literaturquellen und die folgende Aufzählung von Praxishilfen verwiesen werden.
Als einzige Irritation bei der Lektüre kann ich für mich benennen, dass sowohl Begriffe wie „spiegeln“ im Text benutzt werden (S. 126) als auch mehrfach auf die außerordentliche Bedeutung einer vertrauensvollen Beziehung verwiesen wird (u.a. S. 87) und die außerordentliche Bedeutung der persönlichen Beziehung zum Berater immer wieder gewürdigt wird. Meines Erachtens werden hier eindeutig Quellen aus der humanistischen Psychotherapie, genauer dem Personzentrierten Ansatz genutzt. Dem steht gegenüber, das der damit verbundene Carl R. Rogers als wichtigster Theoretiker des Personzentrierten Ansatzes in den Quellen nicht einmal erwähnt wird.
Fazit
Ein Lehrbuch, das durch die zweckentsprechende und umfassende Darstellung von theoretischen Grundlagen des Themas wie auch durch die sehr gute Umsetzung in Praxisstrategien und Interventionen den Titel eines Grundlehrbuchs verdient. Das Buch ist in der praxisorientierten Hochschulausbildung genauso wie in der Fort- und Weiterbildung nützlich.
Rezension von
Dipl. Soz.-Päd. Gerd Schweers
Systemischer Familientherapeut, Ausbilder der GwG (GF, SV), Supervisor DGSv
Lehrer für besondere Aufgaben (Theorien und Methoden der Sozialarbeit) i.R.
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