Joachim Faulde: Bildungspotenziale der Kinder- und Jugendarbeit
Rezensiert von Prof. Dr. Katharina Gosse, 17.02.2023

Joachim Faulde: Bildungspotenziale der Kinder- und Jugendarbeit. Ein Leitfaden für Studium und Praxis sozialer Berufe.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2022.
156 Seiten.
ISBN 978-3-7799-7080-4.
D: 14,95 EUR,
A: 15,40 EUR.
Reihe: Grundlagentexte Soziale Berufe. In Beziehung stehende Ressource: ISBN: 9783779914457.
Thema
Als „Leitfaden für Studium und Praxis sozialer Berufe“ bietet der Autor einen umfassenden Überblick zur Kinder- und Jugendarbeit. Dabei werden u.a. die Rahmenbedingungen, wie z.B. die rechtlichen Grundlagen oder die Organisationsformen/Trägerstrukturen erläutert sowie die Adressaten des Handlungsfeldes in den Blick genommen. Gleichzeitig rückt der Autor in der theoretisch-konzeptionellen Fundierung der Kinder- und Jugendarbeit den Bildungsbegriff in den Mittelpunkt, u.a. indem die Spezifika in Abgrenzung zur Schule hervorgehoben werden.
Autor:in
Prof. Dr. Joachim Faulde war von 1995 bis 2020 Professor für Theorien und Konzepte Sozialer Arbeit mit dem Schwerpunkt Außerschulische Jugend- und Erwachsenenbildung an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abt. Paderborn. Heute leitet er das Institut für Regionalentwicklung und Projektmanagement in Paderborn.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist bei Beltz Juventa erschienen und umfasst rund 150 Seiten. Neben der Einleitung und der Zusammenfassung finden sich insgesamt 16 Kapitel, die mit je ungefähr sechs Seiten relativ kurzgehalten sind. Zusätzlich wird am Ende in einem informativen Serviceteil eine Auflistung von Jugendverbänden, Fachorganisationen, digitalen Fachportalen und Fachzeitschriften, inklusive ihrer Kontaktdaten, vorgenommen.
In den ersten beiden Kapiteln nach der Einleitung führt der Autor zunächst in den Bildungsbegriff ein. Im Mittelpunkt steht hier die Sozialisation, als „Vorgang der Persönlichkeitsentwicklung im Lebenslauf“ (S. 14). Bezug genommen wird dabei auf das Modell der produktiven Realitätsverarbeitung von Hurrelmann und Bauer, weil dieses, so Faulde, sehr anschlussfähig zum erziehungswissenschaftlichen Bildungsbegriff sei. Sinnvollerweise wird so direkt zu Beginn des Leitfadens Bildung begründet als Wechselwirkung von individueller Entwicklung und gesellschaftlichen Anforderungen. Darauffolgend findet sich eine schulkritische Thematisierung des Bildungsbegriffs im Rekurs auf die geisteswissenschaftliche Tradition, bevor Faulde dann den Bildungsdiskurs im Zuge des Ganztagsschulausbaus aufgreift, indem er Autoren wie Coelen, Sting oder Rauschenbach rezipiert.
Dieser Abschnitt stellt den Übergang zum eigentlichen Thema dar, nämlich dem Handlungsfeld der Kinder- und Jugendarbeit. Zu Beginn wird eine Begriffsklärung vorgenommen, die insofern wichtig ist, als im wissenschaftlichen Fachdiskurs dbzgl. kein einheitliches resp. unumstrittenes Verständnis auszumachen ist. Der Autor entscheidet sich dazu, alles das als Kinder- und Jugendarbeit zu fassen, was zwar zur Kinder- und Jugendhilfe, nicht aber zu den Bereichen Kindertageseinrichtungen und Hilfen zur Erziehung gehört. Entsprechend schließt er neben der offenen und der verbandlichen Jugendarbeit zudem die Jugendsozialarbeit, die Schulsozialarbeit sowie den erzieherischen Kinder- und Jugendschutz ein (siehe auch die rechtliche Zuordnung, S. 55). Nach dieser Begriffsklärung folgt ein geschichtlicher Einstieg, in dem das Handlungsfeld in der historischen Jugendbewegung sowie in der staatlichen Jugendpflege im Zuge der industriellen Urbanisierung des beginnenden 20. Jahrhunderts und nicht zuletzt in der US-amerikanischen Re-Education-Politik nach dem 2. Weltkrieg verortet wird. Anschließend werden im Sinne eines Lehrbuchs kurze Kapitel zu den Rahmenbedingungen platziert, etwa zu den rechtlichen Grundlagen oder zu den Organisationsformen/Trägerstrukturen. In den darauffolgenden Kapiteln wird teilweise die verbandliche Jugendarbeit (nach § 12 SGB VIII) thematisiert, jedoch überwiegend die sog. offene Kinder- und Jugendarbeit (nach § 11 SGB VIII). Faulde verwendet für letztere den älteren Begriff der außerschulischen Jugendbildung. In diesem Hauptteil findet sich neben einem Kapitel zu Handlungsmethoden zudem eines zu den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Erhellend sind in diesem Abschnitt die statistischen Erkenntnisse zur Beschäftigtenstruktur bspw. im Hinblick auf die beruflichen Qualifikationen. So weisen nur 45 % der Beschäftigten einen einschlägigen akademischen Abschluss auf. Angeführt werden hier zudem professionalitätstheoretische Betrachtungen zur inhaltlich-fachlichen Qualifikation.
Im Zentrum der Publikation stehen dann im weiteren Verlauf insbesondere bildungstheoretische Grundlagen der offenen Kinder- und Jugendarbeit – oder im von Faulde verwendeten Terminus: der außerschulischen Jugendbildung. Gleich zu Beginn, in Kapitel 11, wird auf den emanzipatorischen Kern des Handlungsfeldes verwiesen. Es gehe um eine „Aufklärung über Macht, Herrschaft, Freiheit und Solidarität“ (S. 68) sowie in einer neueren Perspektive auch um Fragen der Lebensbewältigung und der Befähigung (ebd.). Im Folgenden werden dann handlungsleitende Konzepte vorgestellt, genauer genderspezifische, interkulturelle, kulturpädagogische, sportorientierte und erlebnispädagogische Konzepte, bevor die im Fachkanon üblichen Prinzipien dargelegt werden, nämlich die Freiwilligkeit, die Partizipation, die Lebenswelt- und Sozialraumorientierung, die Selbstorganisation und die Genderperspektive.
In den weiteren kurzen Kapiteln finden sich zudem Ausführungen zu den Bedingungen für ein gelingendes Aufwachsen junger Menschen im Kontext von sozialer Benachteiligung/​Armut, Migrationserfahrungen und demografischem Wandel/ländlichen Räumen. Diese Aspekte entscheiden, so Faulde, mit darüber, inwieweit junge Menschen an Bildung teilnehmen können, wobei Bildung in diesem Zusammenhang eben nicht auf Schulbildung zu verkürzen ist, sondern gerade die sozialpädagogische Bildung im Kontext der Kinder- und Jugendarbeit eine wichtige Rolle spielen kann. Im Hinblick auf den demografischen Wandel/ländliche Räume sieht der Autor bspw. die Jugendverbände sowie die Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit mit der Aufgabe betraut, die Interessenvertretung für junge Menschen zu übernehmen. Im letzten Kapitel vor der Zusammenfassung befasst sich der Autor dann mit Bildungspotenzialen der Kinder- und Jugendarbeit, wobei er diese in der Begleitung von Übergängen sowie darin sieht, Partizipation zu ermöglichen. Weiterhin rekurriert er auf die Lebensbewältigung von Böhnisch, als „Erhalt und Sicherung der individuellen Handlungsfähigkeit in widersprüchlichen, komplexen und kritischen Lebenssituationen“ (S. 115 f.).
In der folgenden Zusammenfassung/dem Fazit werden Perspektiven für eine zukunftssichere Kinder- und Jugendarbeit benannt, wobei der Autor hier angesichts der wachsenden Bedeutung der Schule im Zuge des Ausbaus des Ganztages auf die Soziale Bildung abhebt. Zudem werden Inklusion, soziale Teilhabe sowie Demokratiebildung angeführt.
Diskussion
Joachim Faulde legt mit der Publikation „Bildungspotenziale der Kinder- und Jugendarbeit“ einen gelungenen „Leitfaden für Studium und Praxis sozialer Berufe“ vor. Einführend ermöglicht er etwa Studierenden oder Honorarkräften in der Praxis, sich einen umfassenden Überblick über das Handlungsfeld zu verschaffen. Möglich wird dies, weil die Kinder- und Jugendarbeit in all ihren Facetten beleuchtet wird; von der Geschichte über die Mitarbeiter- und Adressatenschaft bis zu den rechtlichen Grundlagen. Letzteres gestaltet sich besonders informativ, weil hier differenziert wird zwischen der Bundes- und Landeseben sowie den Kommunen. Ebenso der Abschnitt zu den Trägerstrukturen; dieser erleichtert ein erstes Verständnis der komplexen Organisationsformen, auch weil er relativ knappgehalten wird.
Inhaltlich ist besonders positiv hervorzuheben, dass der Autor die Kinder- und Jugendarbeit im Kontext der emanzipatorischen Tradition in Abgrenzung zur Schule begründet und somit die Thematisierung von bildungstheoretischen Grundlagen äußert plausibel erscheint. Sinnvollerweise wird in diesem Zusammenhang die Zugehörigkeit des Handlungsfelds zur Kinder- und Jugendhilfe unterstrichen. So kann sich den Lesern schnell erschließen, dass bereits die gesetzlichen Grundlagen mit § 1 SGB VIII nahelegen, die Kinder- und Jugendarbeit als Bildungsakteur zu verstehen. Positiv ist auch die Benennung des Gemeinschaftsaspektes, etwa in kulturpädagogischen oder sportorientierten Angeboten, womit ein Gegenort zur individualisierenden und leistungsorientierten Schule benannt ist. Außerdem sinnvoll ist zudem auch, die Relevanz des Handlungsfeldes im Kontext von gegenwärtig wirksamen Benachteiligungskategorien, wie Klasse, Migration, Geschlecht, ländliche Räume oder Behinderung zu begründen. Nicht zuletzt in diesem Zusammenhang überzeugt es sehr, dass der Autor im abschließenden Ausblick mit der Demokratiebildung endet, denn Kinder- und Jugendarbeit beweist sich immer in der Reaktion auf gesellschaftliche Tendenzen. Rechtsextremismus, Antisemitismus, Abwertung von Homosexuellen, Sexismus, Islamismus u.a. begründen, so Faulde im Rekurs auf den 16. Kinder- und Jugendbericht, eben die Notwendigkeit von Demokratiebildung.
Nicht ganz gelungen ist aus meiner Sicht zum einen die Verwendung des Begriffs außerschulische Jugendbildung. Dies ist grundsätzlich zwar durchaus legitim, jedoch wird in der neueren Debatte – und somit zum Teil auch im vorliegenden Buch – der Begriff der offenen Kinder- und Jugendarbeit verwendet. Für Neueinsteiger ins Thema dürfte dies verwirrend sein. Zum anderen überzeugt die Kapitelstruktur nicht durchgehend. Insbesondere wird nicht richtig ersichtlich, warum die Bildungsdimension auf den unterschiedlichsten Wegen thematisiert wird, etwa als Theoriekonzepte, als handlungsleitende Konzepte, als fachliche Standards oder als Bildungspotenziale. Eine andere Gliederung hätte den Überblick erleichtert und leichte Redundanzen verhindert. Aus meiner Sicht wäre zudem eine Thematisierung von Hurrelmanns Modell der produktiven Realitätsverarbeitung nicht unbedingt notwendig gewesen, liefert doch bspw. bereits Mollenhauer, in dessen schulkritischer Tradition ich den Impetus des Leitfadens verstehe, Prämissen einer theoretisch fundierten Jugendarbeit, die auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft fokussiert.
Fazit
Der Autor legt ein sehr umfassendes und gut verständliches Buch zur Kinder- und Jugendarbeit vor, welches der Zielgruppe (Studierende und Praxis) schnell einen ersten Überblick ermöglichen kann. Die Tradition des Handlungsfeldes, das sich bereits seit den 1960er Jahren als Bildungsakteur neben der Schule versteht, wird in ihrer aktuellen Relevanz deutlich. Insgesamt setzt der Autor eher auf Vollständigkeit, um das Handlungsfeld zu verstehen, denn auf theoretische Tiefe. Letzteres war angesichts des Ziels, einen Leitfaden zu erstellen, auch nicht zu erwarten.
Rezension von
Prof. Dr. Katharina Gosse
Professorin (Hochschule Düsseldorf) für Theorien, Geschichte und Handlungskonzepte der Handlungsfelder der Jugendförderung - (offene) Kinder- und Jugendarbeit, Schulsozialarbeit, Ganztagsschule, erzieherischer Kinder- und Jugendschutz
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Zitiervorschlag
Katharina Gosse. Rezension vom 17.02.2023 zu:
Joachim Faulde: Bildungspotenziale der Kinder- und Jugendarbeit. Ein Leitfaden für Studium und Praxis sozialer Berufe. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2022.
ISBN 978-3-7799-7080-4.
Reihe: Grundlagentexte Soziale Berufe. In Beziehung stehende Ressource: ISBN: 9783779914457.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30217.php, Datum des Zugriffs 28.03.2023.
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