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Annika Krahn, Recha Allgaier-Honal: Jung, rassistisch, identitär

Rezensiert von Prof. Dr. René Börrnert, 22.11.2023

Cover Annika Krahn, Recha Allgaier-Honal: Jung, rassistisch, identitär ISBN 978-3-947373-90-1

Annika Krahn, Recha Allgaier-Honal: Jung, rassistisch, identitär. Bedrohungspotentiale für unsere Gesellschaft. Velbrück GmbH Bücher & Medien (Weilerswist) 2022. 200 Seiten. ISBN 978-3-947373-90-1. D: 20,00 EUR, A: 20,00 EUR, CH: 25,00 sFr.

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Thema

Es ist ein grundlegend menschliches Bestreben, Personen in Erstkontakten einschätzen zu wollen. Hierzu gehört auch die umgangssprachlich (nach Goethe) angepasste „Gretchenfrage“, die aber heute weniger auf die religiöse Position als vielmehr auf die politische Gesinnung zielt. Antworten darauf werden immer unklarer und die klassische Positionierung im Spektrum von links bis rechts überholt. Radikales Denken ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Themen der Politik, wie Migration oder die Coronapandemie sind Kontext für heterogene Meinungsäußerungen, die wiederum zunehmend Liberalismus, Pluralismus und Demokratie in Frage stellen und nicht selten latente oder gar offensichtlich völkisch-nationalistische Ideale formulieren.

Das vorliegende Buch widmet der sogenannten „identitären Bewegung“, einer aktiven ideologischen Strömung, die seit Anfang der 2010er aktiv ist. Die Autorinnen zeigen die Wurzeln, Ziele und Strategien dieser Denkweise und ihrer Vertreter:innen.

Autor:innen und Entstehungshintergrund

Recha Allgaier-Honal ist promovierte Judaistin und Historikerin. Ihre berufliche Tätigkeit konzentriert sich auf die Vermittlung judaistischer Themen sowie der Geschichte des Nationalsozialismus, vor allem im Bereich der Museums- und Gedenkstättenpädagogik.

Annika Krahn ist promovierte Theologin und Lektorin für Neues Testament und Religionspädagogik an der Universität Köln. Als Lehrerin arbeitet sie mit Kindern und Jugendlichen u.a. zu den Themen „Rassismus“ und „Antisemitismus“.

Das Buch haben die beiden Autorinnen als Orientierungshilfe verfasst, um die selbsternannte identitäre Bewegung „historisch und politisch einzuordnen, ihren spezifischen Aktivismus analysieren sowie Möglichkeiten der Enttarnung aufzuzeigen“ (12).

Aufbau und Inhalt

Leitfragen der Darstellung über die identitäre Bewegung sind: Woher kommen sie? Was wollen sie? Wie agieren sie? Wie lässt sich ihnen begegnen? Nach Vorwort und Einleitung ist das Buch in neun Kapitel und ein Nachwort unterteilt. Dabei bieten die zumeist als Fragen formulierten Teile umfangreiche Antworten.

1 _ Wer oder was sind die Identitären? Seit den Anfang 2010er Jahren sind vorwiegend junge Aktivist:innen zu beobachten, die mit rechtem Gedankengut in den neuen Medien und sozialen Netzwerken unterwegs sind und die liberale Gesellschaft und den Islam als Feindbilder propagieren. Als neue Form des Rassismus bekennen sich Identitäre zum Ethnopluralismus mit der Leitidee, „dass verschiedene Ethnien sich nicht miteinander vermischen, sondern unvermischt in homogenen Völkern nebeneinander leben sollen“ (17).

2 _ Wie neu ist die neue Rechte – Eine historische Einordnung: Die Autorinnen verdeutlichen hier, wie sich die Neue Rechte einerseits von den Alten Rechten (d.h. dem Nationalsozialismus) abzugrenzen versucht, gleichzeitig aber auf Grundideen der sogenannten „Konservativen Revolution“ Bezug nimmt: „Was demgemäß bei der sogenannten Neuen Rechten oft übersehen wird, sind einerseits die teilweise große Nähe zu den nationalistisch-völkischen Idealen der Nationalsozialisten und andererseits der oft eklatante Antifeminismus; ferner aber die letztlich – bei allen mühsam herausgestellten Unterschieden – vorherrschende Kontinuität der grundsätzlichen Positionen und Ideen: Die Ablehnung von Liberalismus, Demokratie, Gleichheit, der Wunsch nach Homogenität und Autorität bleiben den verschiedenen Strömungen gemeinsam, während die Unterschiede sich eher auf Nuancen und strategische Fragen beschränken“ (38). 

3 _ Zur Ideologie der Identitären: In den Blick genommen werden hier u.a. folgende Positionen: Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, Antifeminismus, Antiamerikanismus und verschiedene Verschwörungsansätze.

4 _ Was wollen die Identitären? Drei Ziele schildern die Autorinnen: unterschwellige Einflussnahme auf den Sprachgebrauch, Prägung und Verschiebung der öffentlichen Meinung sowie die Erlangung kultureller Hegemonie.

5 _ Wie sind die Identitären strukturiert? Das als “pan-europäisch bis global“ bezeichnete Phänomen wird am Beispiel von Deutschland, Österreich und Frankreich und dann weitergehend exemplarisch weltweit beschrieben.

6 _ Wie gehen sie an die Öffentlichkeit? Gerade weil es sich hier um eine Gruppe von jungen Aktivist:innen handelt, nutzen diese moderne Medien und Strategien, um ihre Kontrakultur zu etablieren, wie mit Hilfe von Musik, Filmen, Flashmobs oder Influencer:innen.

7 _ Auswirkungen: Die Autorinnen zählen hierzu die steigende Zahl an politisch motivierter Kriminalität, die Zunahme an Vorurteilen in Bezug auf u.a. Migration und Islam sowie den Einzug von nationalistisch-völkischem Sprachgebrauch.

8 _ Mögliche Begegnungsstrategien: Weil Umgang mit nationalistisch-völkischen Bewegungen wie den Identitären und ihrer Propaganda eine politische, journalistische und gesamtgesellschaftliche Herausforderung darstelle, müsse die Aufklärung und Arbeit in Netzwerken erfolgen, wie zwischen Schule, Elternhaus, Polizei und Medien.

Im letzten Kapitel widmen sich Krahn und Allgaier-Honal aktuellen Bezügen, wie dem Krieg in der Ukraine, um dann das Buch mit einem Nachwort abzuschließen. 

Diskussion

Demokratiedistanz, Populismus und rechtes Denken finden sich vermehrt im Alltag der Sozialen Arbeit. Daher verlangt das Kompetenzprofil von Sozialen Fachkräften auch ein politisches Grundverständnis und eine klare Haltung, um den eigentlichen sozialpolitischen Auftrag umzusetzen. Eine spezielle Pädagogik für radikal denkende und agierende junge Menschen wurde bis zu Beginn der 1990er eher abgelehnt; erst in der Folgezeit diskutierten Autor:innen vornehmlich einen akzeptierenden Ansatz. Es existieren gegenwärtig zahlreiche Förderinstrumente und Institutionen, um in Präventionsprogrammen Projekte und Maßnahmen zu entwickeln, die gegen das Erstarken von Menschen- und Demokratiefeindlichkeit ausgerichtet sind. Doch wie lassen sich diese zumeist latenten Einstellungen feststellen, um sie zu „enttarnen“ und dann möglicherweise zu bearbeiten? 

Die Autor:innen bieten hierfür kein Lehrbuch, sondern eine Art Aufklärungsbuch. Didaktisch sinnvoll sind die Zusammenfassungen der wichtigsten Aspekte am Ende der jeweiligen Kapitel. Die Darstellung von Begegnungsstrategien (Kapitel 8) gehören zu den gelungenen Ausführungen im Buch, das sich auch für die Weiterbildung von Fachkräften in der Sozialen Arbeit, z.B. der außerschulischen Bildung, empfehlen lässt. Als ergänzende Lektüre können die Bücher von Degele (2020) und Rahner (2020) dienen.

Für die Lektüre der Ausführungen von Krahn und Allgaier-Honal muss man Zeit einplanen. Die langen und essayistischen Textblöcke mit überausführlichen Referaten sperren sich gegen ein rasches Durcharbeiten. Es finden sich spekulative Formulierungen und einseitige Deutungen, die insgesamt eine nicht immer wertfreie Darstellung mit Blickrichtung aus der linken politischen Perspektive mutmaßen lassen. Dieser Fokus zeigt sich insbesondere bei der „historischen Einordnung“ der theoretischen Grundlagen (Kapitel 2) aufgrund zum Teil ungenauer Darstellungen, warum ein Autor/eine Autorintatsächlich zu den relevanten Begründern rechten Denkens zu zählen ist oder eher nicht. Am meisten gilt das für den Abschnitt über den Philosophen Heidegger (34). Hier mangelt es an Quellenbelegen, insbesondere aus dem Fachdiskurs, welche die eindeutige Relevanz bekräftigen könnten.

An weiteren Stellen zeigen sich Beschreibungen aktueller Phänomene als fragwürdig, weil sie wie Auslegungen im kritischen Feuilleton-Stil wirken. Gemeint sind hier die Passagen über die Musiker:innen Jennifer Rostock und Melanie Halle (137 ff.). Doch geradezu einer spekulativen Überinterpretation kommt die Deutung einer Videosequenz des Rappers Patrick Bass gleich. In dieser wählt der Musiker das Löwengebäude am Universitätsplatz der Martin-Luther-Universität Halle als Hintergrund für seine Aufnahme. Doch sicher nicht zufällig, so die Autorinnen, denn die Universität habe den Namen „erst 1933, also in der Zeit der nationalsozialistischen Machtergreifung zum 450. Geburtstag Martin Luthers“ erhalten (136). Solchen Deutungsduktus zeigen auch die Bewertungen des Instagramm-Projektes „Ichbinsophiescholl“ (190 f.), wo gegenwärtiges Wissen in den historischen Kontext projiziert wird. Schließlich fügen die beiden promovierten Autor:innen vor dem Literaturverzeichnis dann folgende Quellenbeschränkung ein: „Zitierte Quellen aus dem Umfeld der Neuen Rechten werden an dieser Stelle nicht aufgeführt, um ihnen nicht noch mehr Reichweite zu verschaffen“ (212). So vermittelt das Buch insgesamt den Eindruck, dass sich wissenschaftlich belegtes und damit neutrales Argumentieren mitunter in Grenzen hält.

Fazit

Das Buch zeigt am Beispiel der sogenannten „identitären Bewegung“ auf, woraus sich rechtspopulistische Ideologie speist, welche Ziele sie verfolgt und wie sie verbreitet wird. Für die an dieser Thematik Interessierten ist das Buch empfehlenswert. 

Zitierte Quellen

Degele, N. (2020): Political Correctness – Warum nicht alle alles sagen dürfen. Beltz Juventa Verlag (Weinheim und Basel).

Rahner, J. (2020): Praxishandbuch Resilienz in der Jugendarbeit. Widerstandsfähigkeit gegen Extremismus und Ideologien der Ungleichwertigkeit. Beltz Juventa (Weinheim und Basel).

Rezension von
Prof. Dr. René Börrnert
Fachhochschule des Mittelstands (Rostock)
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Es gibt 43 Rezensionen von René Börrnert.

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Zitiervorschlag
René Börrnert. Rezension vom 22.11.2023 zu: Annika Krahn, Recha Allgaier-Honal: Jung, rassistisch, identitär. Bedrohungspotentiale für unsere Gesellschaft. Velbrück GmbH Bücher & Medien (Weilerswist) 2022. ISBN 978-3-947373-90-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30222.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.


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