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Adrian Daub: Cancel Culture Transfer

Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Frindte, 28.03.2023

Cover Adrian Daub: Cancel Culture Transfer ISBN 978-3-518-12794-0

Adrian Daub: Cancel Culture Transfer. Wie eine moralische Panik die Welt erfasst | Das Phänomen »Cancel Culture« verstehen. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2022. 371 Seiten. ISBN 978-3-518-12794-0. D: 18,00 EUR, A: 18,50 EUR, CH: 25,90 sFr.

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Thema

Mal angenommen, auf Ihrer Facebook-Seite streiten sich Ihre Facebook-Freund*innen über ein Gedicht von Eugen Gomringer. Das Gedicht ist auf Spanisch geschrieben und zierte lange Zeit die Fassade der Alice Salomon Hochschule in Berlin-Hellersdorf. Die deutsche Übersetzung lautet: „Alleen/​Alleen und Blumen/​Blumen/​Blumen und Frauen/​Alleen/​Alleen und Frauen/​Alleen und Blumen und Frauen und/ein Bewunderer“. In den Jahren 2017 und 2018 wurde heftig darüber gestritten, ob dieses Gedicht an der Fassade der Hochschule bleiben darf oder ob es, wie es der Studierendenausschuss der Hochschule forderte, übermalt werden müsse, weil es ein „altmodisches Frauenbild“ transportiere. Es wurde schließlich übermalt und findet sich nun – unweit von Alice Salomon Hochschule – an der Fassade eines Wohnhauses (siehe auch: Süddeutsche Zeitung, 2019).

Sie erleben also, wie sich die Personen auf Facebook in der Auseinandersetzung um das Gedicht auf besagter Fassade wechselseitig beschimpfen und beleidigen. Bei einer Party mit Freund*innen aus der wirklichen Wirklichkeit möchten Sie über diesen Streit erzählen. Sie könnten die Auseinandersetzung auf einer konkreten Handlungsebene beschreiben, indem Sie einfach schildern, dass sich Befürworter*innen und Gegner*innen des Gedichts auf Facebook gestritten haben. Denkbar wäre aber auch, den Streit zu interpretieren und mitzuteilen, dass die Gegner*innen des Gedichts die Befürworter*innen „einzuschüchtern“ versuchten. Sie könnten auch auf die Eigenschaften der Gegner*innen und Befürworter*innen des Gedichts zu schließen versuchen, indem Sie die Gegner*innen als „schwachsinnig“ sowie die Befürworter*innen als „sexistisch“ bezeichnen. Und zu guter Letzt könnten Sie den Streit um das Gedicht auch als Beweis für ein Phänomen anführen, dass nicht nur in den Feuilletons (z.B. Die Zeit, 2022), sondern auch in wissenschaftlichen Publikationen „Cancel Culture“ (z.B. Bendel et al., 2022) genannt wird. Wählen Sie in Ihrer Erzählung die letztgenannte Möglichkeit, so lassen Sie sich offenbar zumindest von zwei Annahmen leiten: Sie gehen möglicherweise davon aus, dass der Streit über das Gedicht erstens hinreichende Erklärungskraft besitzt, um zweitens als Begründung für eine moderne Kulturtechnik dienen zu können. Beide Annahmen könnten falsch sein. Mit der ersten Annahme machen Sie sich die Evidenz einer Anekdote zunutze; Sie schließen also von einem Einzelfall auf ein allgemeines Geschehen, was bekanntlich auch zu einem Fehlschluss (Anecdotal Fallacy) führen könnte. Da muss man gar nicht erst das überholte Poppersche Falsifikationsprinzip zu Rate ziehen. Mit der zweiten Annahme gehen Sie möglichweise davon aus, dass es soziale Gruppen und Gemeinschaften gibt, in denen es üblich ist, missliebigen Personen oder anderen Gruppen sowie deren Handlungen, Äußerungen oder Darstellungen den Kampf anzusagen.

Beide Annahmen, deren Gültigkeit bzw. Widerlegung, stehen auch im Zentrum des Buches von Adrian Daub.

Autor

Adrian Daub, 1980 in Köln geboren, machte am renommierten Swarthmore College in Pennsylvania einen Bachelor-Abschluss in vergleichender Literaturgeschichte, erwarb anschließend an der University of Pennsylvania einen Master und promovierte dort im Jahre 2008. Anschließend arbeitete er als Assistant Professor und Associate Professor an der Stanford Universität, wo er 2016 eine Vollprofessur für vergleichende Literaturgeschichte und German Studies an der School of Humanities and Science übernahm. Seine Forschungen konzentrieren sich auf die Schnittmenge von Literatur, Musik und Philosophie besonders im 19. Jahrhundert (z.B. Daub, 2009, 2012, 2020). Außerdem schreibt er u.a. für die Neue Zürcher Zeitung, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Zeit und The Guardian.

Inhalt

Ein Gespenst gehe um in Europa und der ganzen Welt. Es ist nicht das von weiland Karl Marx und Friedrich Engels. Es sei das Gespenst der Cancel Culture. So liest man es als Aufmacher auf dem Klappentext des Buches. „Glaubt man diversen Zeitungen, dürfen insbesondere weiße Männer jenseits der 40 praktisch nichts mehr sagen, wenn sie nicht ihren guten Ruf oder gar ihren Job riskieren wollen. Ist da etwas dran? Oder handelt es sich häufig um Panikmache, bei der Aktivist:innen zu einer Gefahr für die moralische Ordnung stilisiert werden, um ihre berechtigten Anliegen zu diskreditieren?“ (ebd.). Adrian Daub erzählt in seinem neuesten Buch keine Geschichten über das 19. Jahrhundert, sondern analysiert die Entwicklungen der Cancel Culture von den Vorformen in den Jahren der Reagan-Administration über vermeintliches Canceln an US-amerikanischen Universitäten bis zu Cancel-Culture-Vorwürfen in rechtsextremen und rechtspopulistischen Ecken. Der Text von Adrian Daub ist in acht Kapitel nebst Vorwort und Einleitung gegliedert.

Im Vorwort („Allerlei Gespenster“) hebt Daub hervor, dass die Angst vor der Cancel Culture (CC), so wie viele Ängste, aus den USA nach Europa geschwappt sei. Nachdem zum Beispiel die „New York Times“ oder „The Atlantic“ in ihren Feuilletons zunehmend häufiger vor der Einschränkung eines freien Informationsaustausches durch CC gewarnt haben, tauchten die Ängste vor CC auch bald in europäischen und namentlichen deutschen Zeitungen auf, so u.a. in der Neuen Züricher Zeitung, im deutschen Handelsblatt oder im SPIEGEL. Von der „Stunde der Denunzianten“, „uneingeschränkter Deutungsmacht der Linken“, von „Tugendterror“ usw. wird berichtet. Aber dieses Sprachspiel, so Adrian Daub, sei nicht neu.

„Es wiederholt sich, es rotiert, es tritt seit 30 Jahren auf der Stelle“ (S. 11). Mit seinem Buch möchte er „[…] die seltsame Amnesie begreifen, vermittels derer alte Gespenster uns mit schöner Regelmäßigkeit erneut erschrecken können“ (S. 12).

In der Einleitung zu seiner Studie macht Adrian Daub zunächst darauf aufmerksam, dass es ihm nicht zuvörderst um die Ängste vor CC in den USA gehe, sondern um das, was die Europäer*innen daraus machen. Fünf Thesen bilden sozusagen den Rahmen, innerhalb dessen Daub seine Argumente platziert (S. 14 ff.):

  1. Der Diskurs über CC entpuppe sich mehr und mehr als Neuauflage der Debatten um die Political Correctness.
  2. Das Reden von und über CC erheische und kanalisiere Aufmerksamkeit und stütze sich auf Anekdoten.
  3. Der Geburtsort von CC sei das Internet. Nur dort habe der Ausdruck einen Hauch von Trifftigkeit.
  4. Das Interesse an angeblicher Zensur, Identitätspolitik und „Wokeness“ stehe in keinem Verhältnis zur belegbaren Verbreitung von CC.
  5. In der Angst vor CC schwinge auch immer ein gewisses Maß an Antiamerikanismus mit.

Nun zeichne sich der Diskurs um CC weniger durch den Rekurs auf klare Definitionen aus und genaue Beschreibungen, sondern durch ein generelles Gefühl der Bedrohung (S. 26). Um dieses Gefühl zu analysieren, greift Adrian Daub auf den von Stanley Cohen geprägten Begriff der „Moral Panic“ zurück. [1] In seinem Buch „Folk Devils and Moral Panic“ (Cohen, 1972) analysiert Cohen den medialen und gesellschaftlichen Umgang mit zwei, in den 1960er Jahren in Großbritannien für Aufregung sorgenden Jugendkulturen der „Mods“ und „Rockers“. [2] Eine moralische Panik ist nach Cohen ein soziales Phänomen, bei dem soziale Gruppen, Gemeinschaften, Subkulturen – durch politische und mediale Inszenierungen – von der Öffentlichkeit stereotyp als Gefahr für die gesellschaftlichen Werte und Interessen dargestellt werden. Eine moralische Panik sieht Adrian Daub auch im Umgang mit CC am Werk. Wie im Falle der Mods und Rockers (wahlweise auch der Heavy-Metal-Anhänger oder der Hip-Hopper) sind es die Mächtigen, Eltern, Politiker*innen oder Polizist*innen, die die von jungen Menschen mit wirrem Haar und lauter Musik bedrohte öffentliche Ordnung wiederherstellen. „Auch die Cancel-Culture-Panik lebt von der Vorannahme, dass diejenigen, die Macht haben – von Politiker:innen bis hin zu Redakteur:innen und etablierten Autor:innen –, sie verdienen. Die Schurken sind junge Menschen mit »they/them pronouns« in ihrer Twitter-Bio“ (S. 33 f.).

Kapitel 1: „Cancel Culture als Diskursobjekt“

Adrian Daub möchte in seinem Buch nicht primär die Existenz von CC nachzeichnen oder der Frage nachgehen, ob es sich eher um ein Medienphänomen handelt. Ihm geht es eher um die zunehmende Schere zwischen der „[…] objektiven Verbreitung des Phänomens und seine(r) mediale(n) Präsenz“ (S. 39). So werden Cancel-Culture-Diagnosen in den USA fast komplett an einzelnen Anekdoten festgemacht. Überdies seien die Vorfälle, über die berichtet werde, äußerst heterogen und den Fällen, die in den Onlinedatenbanken berichtet werden, scheinen offenbar äußerst verschiedene Definitionen von „Canceln“ zugrunde zu liegen. „In den USA existieren etwa ein halbes Dutzend Onlinedatenbanken, die verschiedene Fälle von Cancel Culture dokumentieren sollen. Im Juli 2022 standen auf der Liste von Canceledpeople.com 173 Fälle, auf der National Association of Scholars (NAS) 228, die Foundation for Rights and Expression hatte 715 zusammengetragen und CollegeFix sogar 1566. So alarmierend diese Zahlen auch aussehen mögen, die Listen legen genauer besehen eher nahe, dass offenbar äußerst verschiedene Definitionen von Canceln zugrunde gelegt werden. Nur 387 Fälle kommen in mehr als einer dieser Listen vor“ (S. 42).

Sehe man sich die berichteten Fälle von Canceln genauer an, so scheint es eher so, als handele es sich um alltägliche Fälle, denen aber die Alltäglichkeit beraubt werde, um sie in Unheimliches umzumünzen. Oftmals haben betroffene Personen, zum Beispiel Professor*innen an amerikanischen Universitäten, nicht wegen CC ihre Jobs verloren, sondern wegen irgendwelcher akademischer oder berufsrechtlicher Auseinandersetzungen. Dies stehe im eklatanten Widerspruch zu den medialen Berichten. Auch die empirischen Studien, in denen über CC-Fälle berichtet werde, lassen den Eindruck zu, „[…] Umfragen oder Untersuchungen sollten genau jene dramatischen Ereignisse liefern, die dann in einschlägigen Medien verbreitet werden können“ (S. 53). Wer beteiligt sich am CC-Diskurs, was zeigen die Studien? Es handele sich nicht nur um Menschen, die sich politisch weit rechts einordnen, sondern um solche, die sich „[…] rechts und links verorten“ (S. 68). Menschen, die schon einmal von CC gehört haben, sind offenbar Menschen im Alter unter 30 mit Collegeabschluss und liberal-demokratischen Orientierungen. Der Cancel-Culture-Diskurs wende sich offenbar vor allem an medienaffine und gebildete Menschen. An jene Menschen aber, in deren Namen die CC-Kritiker*innen gern Partei ergreifen (Schlossermeister, Fernfahrer), scheint der Diskurs relativ spurlos vorbeigegangen sein (S. 69). Die Klage um CC sei letzten Endes ein Elitediskurs, der in Zeitungsredaktionen und Fakultäten reüssiere und so aus den USA nach Europa importiert wurde (S. 73).

Kapitel 2: „Wortgeschichte“

Wie Vieles hat auch CC eine kurze Geschichte, aber eine lange Vergangenheit. Zur Vergangenheit gehören u.a. die Debatten über die „politische Korrektheit“ (PC), die in den USA in den frühen 1990er Jahren Fahrt aufnahmen und sowohl von Anhängern der Bush-Administration als auch von Demokraten um Clinton rhetorisch angeheizt wurden. Als Thema schwappte die PC auch bald nach Europa und Deutschland über. Der damalige Bundespräsidenten Joachim Gauck zitierte zum Beispiel aus einer Rede von George H.W. Bush, um vor linker Intoleranz und den Gefahren von Redeverboten zu warnen (S. 84). Eine ähnliche Entwicklung nahm auch der Diskurs um CC. Zunächst war CC ein Topos in tendenziell linken, jungen, afroamerikanischen Onlinediskursen. Dort allerdings war das Canceln anfangs eher eine ironische gemeinte Pointe. „Die Panik ums »Canceln« entsprang einem weißen Blick auf eine Schwarze Echokammer“ (S. 98). Die ersten Web-Texte zu CC tauchten etwa 2017 auf. Dann folgte 2018 der Sprung in den Mainstream (S. 105). Nachdem sich CC als Begriff in den USA in rechtspopulistischen und Mainstream-Medien etabliert hatte, griffen ihn ab 2019 auch deutsche Journalist*innen auf. Bald folgte nicht nur ein inflationärer Gebrauch, sondern auch die erwähnte moralische Panik.

Kapitel 3: „Amerikanische Ursprünge I: Der fremde Campus“

Adrian Daub gräbt in diesem Kapitel noch einmal einige Klafter tiefer, um nach den Hintergründen von CC zu suchen. Und er findet diese Hintergründe u.a. in den Legenden, die in der Campusliteratur erzählt und von Geschichtenerzähler*innen dramatisiert und politisiert wurden. Sozusagen im Fahrwasser dieses Genres segelten und segeln dann auch Autor*innen, die aus konservativer Überzeugung die Universitäten für den Hort des Bösen halten, in dem Professor*innen ihren Studierenden „antichristliche“ und „antiindividualistische“ Werte vermitteln würden. Die Werke Shakespeares, Platons oder Homers würden, so die Legenden der Konservativen, aus den Curricula verschwinden und angeblich durch das Studium der „ethnic culture“ ersetzt. Diese konservativen Legenden haben, wie Adrian Daub deutlich macht, einen politischen Hintergrund, der bis in die McCarthy-Ära der 1950er Jahre zurückgeht und sich u.a. in den Angriffen Ronald Reagans (während seines Wahlkampfes für den Gouverneursposten in Kalifornien) auf das vermeintliche Lotterleben der Studierenden in Berkeley fortsetzte. Nach seiner Wahl schickte Reagan im Mai 1969 die Nationalgarde nach Berkeley, um demonstrierende Student*innen niederzuknüppeln. Dabei starb ein Student, zahlreiche wurden verletzt (S. 143 f.). All das, die Politisierung der Studierenden, die Bürgerrechtsbewegung, die von Feminist*innen und afroamerikanischen Studierenden betriebene „Identitätspolitik“, sicher auch der Kalte Krieg, die Angst vor dem Kommunismus und schließlich der von Georg H.W. Bush eingeschlagene „Kriegspfad“, gehört zur Atmosphäre, in der die Konservativen (Adrian Daub schreibt von „Paläokonservativen“ und „Neokonservativen“) das Feindbild Akademiker konstruierten (S. 149). Damit verknüpft ist auch Panik um politische Korrektheit, die sich in zahlreichen, von Daub zitierten Erzählungen über den Campus widerspiegelt und in den europäischen Feuilletons nacherzählt wird.

Kapitel 4: „Amerikanische Ursprünge II: Der Wille zum Melodram“

Die „[…] Sturzflut an Publikationen über die Tyrannei der Political Correctness, die ab 1990 über die USA hereinbrach“ (S. 157), stützte sich auf einzelne Anekdoten, die wiederum reißerisch sowie in melodramatischer Art und Weise dargeboten und in den Verbreitungsmedien ebenso dramatisch nachbehandelt wurden. „Es dürfte niemanden überraschen, dass vieles an diesen atemlosen Melodramen nicht annähernd der Wahrheit entsprach“ (S. 161). Das, so Adrian Daub, belegen zumindest die Aussagen jener, die in die jeweiligen Episoden auch verstrickt waren. Und noch etwas Anderes ist ihm wichtig: Die an den amerikanischen Colleges und Universitäten seit Jahren festgeschriebenen traditionellen Regeln des sprachlichen Umgangs miteinander wurden im medialen Diskurs oder eben auch in anderen Campuserzählungen zu „Speech Codes“ stilisiert, mit denen, so die Sicht aufgeregter Campuskritiker, die Meinungsfreiheit beschnitten werde. Aber: „Die »speech codes« waren und sind somit, im Guten wie im Schlechten, kein verlässliches Indiz dafür, wie es tatsächlich um die Meinungsfreiheit an amerikanischen Colleges und Universitäten steht“ (S. 177). Schließlich vermische sich in den Debatten um CC auch immer wieder das Faktische mit dem Fiktionalen. Adrian Daub exemplifiziert dies unter Verweis auf das Buch „Der menschliche Makel“ von Philip Roth. Dass dieser fiktive Text u.a. von Joachim Gauck genutzt wurde, um auf Existenz und Gefährlichkeit von Hexenjagden an amerikanischen Colleges hinzuweisen, mag lustig sein. Ist es aber nicht, weil damit die Fiktion zum Fakt erklärt wird.

Kapitel 5: „Vom Nutzen und Nachteil der Anekdote für die Panik“

Es geht kurz und gut in diesem Kapitel darum zu belegen, dass das Nutzen von Anekdoten über CC nichts Zufälliges ist. Anekdoten in einem bestimmten Modus werden als plausibel rezipiert. Sie sind Geschichten mit Pointe, Torpedos in literarischem Gewand (S. 193). Es seien Geschichten, in denen mit Raum und Zeit gespielt werde, die oft unpräzise, aber als glaubwürdig erzählt werden (S. 200). Adrian Daub analysiert die Logik solcher Anekdoten und kommt u.a. zu dem Schluss: „Cancel-Culture -Anekdoten zu konsumieren, bedeutet eine Art Erziehung zur selektiven Übertreibungstoleranz. Oder vielleicht besser, Cancel-Culture Anekdoten suggerieren, welche Art der Übertreibung legitim ist und welche nicht“ (S. 214 f.).

Kapitel 6: „Lokalisierung einer globalen Panik“

Die Cancel-Culture-Panik hänge mit der Globalisierung zusammen. „Ein Gespenst namens Cancel Culture mag umgehen in der Welt, aber es trägt doch in jedem nationalen Kontext sein eigenes Laken“ (S. 228). Adrian Daub befasst sich in diesem Kapitel mit dem, „[…] was im Übergang der Begrifflichkeit an spezifischem amerikanischen Kontext ignoriert wird; und umgekehrt […], was als amerikanisch wahrgenommen wird, obwohl es eigentlich dem spezifischen deutschen oder französischen Kontext entstammt“ (ebd.). So fragt er einerseits danach, ob das, was an den amerikanischen Universitäten zweifellos problematisch sei (die modischen Jargons, die Abgehobenheit akademischer Diskurse), überhaupt mit kulturellen Faktoren zu tun habe oder ob nicht eher wirtschaftliche Probleme (hohe Studiengebühren, ein Lehrbetrieb, der das Personal verschleiße etc.) mit den Schablonen des Kulturkampfes wegerklärt werden. Andererseits verbinde sich in jedem Land CC immer auch mit spezifischen nationalen Sorgen, Debatten und Neurosen (S. 231). In Deutschland verbindet sich, um ein Beispiel zu nennen, die Cancel-Culture-Panik mit der Angst vor „linker Zensur“ und einer „Identitätspolitik von links“. Statt sich mit den Wurzeln der (amerikanischen) Identitätspolitik, mit den Kämpfen afroamerikanischer Frauen oder LGBTQ+ – Personen auseinanderzusetzen, unterstellen Menschen der weißen Mehrheitsgesellschaft jenen, für die ihre Identität wesentlich ist, mangelnde Toleranz, Debattenunwilligkeit etc. „Die Kritik der Identitätspolitik ist in vielen Fällen schlicht Identitätspolitik für Menschen, die Jürgen heißen“ (S. 257).

Kapitel 7: „Zur Poetik des Cancel-Culture-Texts“

Während in den USA ein Abwandern der Cancel-Culture-Debatten von den digitalen Medien hin zu den Printmedien zu beobachten sei, finde der Diskurs in Deutschland sowohl in den sozialen Medien als auch in den Zeitungen statt – und dort vor allem in den Feuilletons. Das Problem der Cancel-Culture-Texte bestehe nicht darin, „[…] dass sie Stimmungsmache betreiben“ (S. 281). Das Problem sei eher der epistemische Status der Stimmung. Sie, also die Texte, sagen: „Es ist in Ordnung, Einzelfälle immer schon im Licht eines ganz spezifischen Framings zu sehen und sich dann einzureden, man habe sich informiert. In solchen Texten kommt Stimmung vor Detail, alles wird im caravaggiesken Schlaglicht des Kulturkampfs analysiert“ (S. 281). Überdies werden in solchen (feuilletonistischen) Texten momentane Eindrücke und kühne Überleitungen miteinander verknüpft. Und schließlich inszenieren sich die Verfasser derartiger Texte als einsame Rufer. Adrian Daub exemplifiziert das u.a. an Texten von Josef Joffe, Journalist und ehemaliger Herausgeber der „Zeit“. „Die Cancel-Culture-Warner:innen, sie sind wahrhaftig ein Ameisenvolk der Einzelgänger“ (S. 301).

Kapitel 8: „Aufmerksamkeit und Ökonomie“

Adrian Daub beginnt das Kapitel mit einer Erinnerung an Sahra Wagenknecht, die sich im November 2021 in einem Gespräch mit der Neuen Zürcher Zeitung darüber beklagte, dass die Diskussion um CC an der Lebenswirklichkeit derjenigen vorbeigehe, die im Monat von 1200 Euro leben müssten. Das Problem der CC werde von einem „links-liberalen“ Milieu bedient, das sich nicht für soziale Gerechtigkeit einsetze. Das Porträt, das Frau Wagenknecht zeichne, sei schief, da die Vorstellung absurd sei, die Identitätspolitik habe nichts mit sozialer Gerechtigkeit zu tun. Auch andere deutsche Politiker*innen und Intellektuelle beklagen die CC oder das Gendern (S. 307). Letztlich gehe es den betreffenden Akteur*innen, aber auch den Medien, die darüber berichten, um mediale Aufmerksamkeit. Wobei die Gendersternchen durchaus ein Projekt von links zu sein scheinen, die Diskussion darüber finde aber vor allem rechts statt (S. 308). „Man kann die Angst vor Cancel Culture in vielen Fällen auch einfach als Angst vor der Macht der sozialen Netzwerke interpretieren, insbesondere die Macht, die sie jenen verleiht, die vorher marginal waren und deren Meinung sich traditionell keiner institutionellen Rückendeckung erfreut“ (S. 325). Denn der Diskurs um CC mache sich vor allem an jenem Personenkreis fest, „[…] der alles andere als prekär noch die alten Pfründe verwaltet“ (S. 338). Und so schlussfolgert Adrian Daub: „Der Kampf gegen Cancel Culture mag sich als Speerspitze eines wehrhaften Liberalismus verstehen. In Wahrheit ist er Teil des Backlash, der die liberale Demokratie überhaupt erst bedroht“ (S. 341).

Diskussion

Bekanntlich muss man Reden von Politiker*innen zum Politischen Aschermittwoch nicht sonderlich ernst nehmen. Interessant war sie dann aber doch, die Rede des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder am 22. Februar 2023. „Ein zwanghaftes Gendern“, so Söder mit unverkennbaren Blick auf das Geschehen in der deutschen Hauptstadt und auf seinen politischen Hauptgegner in Bayern, die Grünen, „machen wir in Bayern nicht. In Bayern darf überhaupt jeder nach seiner Façon glücklich werden. Wir unterwerfen uns hier weder irgendwelchen Umerziehungs-Fantasien noch betreiben wir hier eine Cancel Culture“ (Hamburger Abendblatt, 2023). Wer für das „zwanghafte“ Gendern, für die „Umerziehungs-Fantasien“ und die „Cancel Culture“ genau verantwortlich ist, sagte Söder leider nicht. Seine Sprüche illustrieren aber einige Hauptbefunde aus dem Buch von Adrian Daub: Über CC wird mehr geraunt als konkret gesprochen bzw. geschrieben. Und: Das Wort „Cancel Culture“ taucht eher bei jenen auf, die sich vom Geschehen bedroht sehen als bei denen, die unter Umständen tatsächlich canceln. Ein dritter Befund, den es noch einmal hervorzuheben gilt, ist das Anekdotische, das die Debatten über CC auszeichnet. Eine Anekdote ist bekanntlich eine kurze Erzählung über tatsächlich stattgefundene oder erfundene Geschehnisse. Je öfter eine Anekdote erzählt wird, um so glaubhafter wird sie, auch wenn sich im Verlaufe des Weitererzählens manche Merkmale des erzählten Geschehens verändern, verschwinden und/oder durch neue Merkmale ersetzt werden. Das passiert auch in den Debatten über CC. Der Rezensent meint allerdings, dass die Anekdoten über CC gar nicht so unbestimmt in Raum und Zeit sind. Die Beispiele, die Adrian Daub den Kapiteln seines Buches jeweils voranstellt, scheinen das zu belegen. In den meisten Beispielen werden Personen genannt, die scheinbar gecancelt wurden; auch die Orte der vermeintlichen „Cancel“ – Geschehnisse bleiben selten unerwähnt. Das trifft meist auch auf die Beispiele resp. Anekdoten zu, die über das Canceln in deutschen Lebensräumen erzählt werden (z.B. die weiße Musikerin Ronja Maltzahn, die wegen Rastalocken auf einer Veranstaltung in Hannover im Frühjahr 2022 für „unerwünscht“ erklärt wurde; die Kabarettistin Lisa Eckhart wurde 2020 vom Harbourfront Literaturfestival in Hamburg wegen angeblich rassistischer und antisemitischer Äußerungen ausgeladen; Bernd Lucke, AfD-Mitbegründer, wurde im Oktober 2019 von Studierenden daran gehindert, seine Vorlesung zu halten). Unabhängig davon, ob es sich in diesen beispielhaften Fällen um CC handelte (der Rezensent meint, eher nicht, s.u.), gerade die scheinbare Konkretheit in den Anekdoten erhöht einerseits ihre Glaubwürdigkeit. In diesem Sinne unterscheiden sich die CC-Anekdoten von den modernen Sagen und Großstadtmythen, die Bengt af Klintberg (1990) so treffend dekonstruiert hat. Andererseits ist Cancel Culture, und das ist ebenfalls ein wichtiger Befund, den man dem Buch von Adrian Daub entnehmen kann, keine Kulturtechnik, die von woken, linken und identitätsbesorgten Menschen praktiziert wird. Vielmehr gehört das Reden und Schreiben von bzw. über Cancel Culture zu den Sprachspielen in manchen konservativen und (rechts-)populistischen Subkulturen. Mit diesen Sprachspielen markieren diese Subkulturen die Grenzen ihrer Welt. Allerdings zeigen empirische Studien auch, dass das Bestreben, Personen sozial auszugrenzen, weil sie angeblich beleidigende, frauenfeindliche, rassistische oder antisemitische Positionen vertreten, nicht nur ein rhetorischer Mythos ist, sondern auch von den jeweils existierenden Dominanzkulturen in Gruppen, Gesellschaften oder Nationen mitbestimmt sein kann. Pippa Norris (2023) belegt das anhand einer Studie, an der 2500 Wissenschaftler*innen aus 100 Ländern teilgenommen haben. Während sich in Ländern, wie USA, Großbritannien oder Schweden, vor allem konservative Wissenschaftler*innen mit einem „kühleren“ und ablehnenden Klima konfrontiert sahen, waren es in Ländern mit einer eher „traditionellen Moralkultur“, wie z.B. in Nigeria, eher linksorientierte Menschen, die über Bedrohungen durch sozialen Ausschluss berichteten. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang zum Beispiel auch daran, dass Wissenschaftler*innen, die ihre Expertise während der Corona-Pandemie der Öffentlichkeit und der Politikberatung bereitgestellt haben, mit Vorwürfen der Datenmanipulierung konfrontiert, mit unflätigen Beschimpfungen oder gar mit Gewalt bedroht wurden. Vor dem Hintergrund solcher Einzelfälle macht der vom Rezensenten hoch geschätzte Mitchell G. Ash auf die „Diskurskontrolle an deutschen Universitäten“ aufmerksam. Ash und seine Mitstreiter*innen empfehlen u.a., Wissenschaft nicht mit politischer Verantwortungslosigkeit zu verwechseln, wissenschaftliche Diskurse ohne Moralisierung oder politische Denkverbote zu ermöglichen und die Fürsorgepflicht gegenüber personalisierten Kampagnen und Drohungen gegen Hochschulangehörige ernst zu nehmen. (Ash, 2022).

Fazit

Der Rezensent musste sich in seiner Besprechung beschränken, Manches nur andeuten und Vieles weglassen. Ob allerdings auch jene Menschen dieses Buch lesen und verstehen, die von der moralischen Panik der Cancel Culture ergriffen sind, wagt der Rezensent zu bezweifeln. Und weil es so ist, wie es ist, kann man eigentlich nur an die intelligenteren Menschen appellieren: Vertrauen Sie dem Rezensenten, er weiß, was er tut, und lesen Sie dieses Buch. Wenn auch die von der CC-Angst Ergriffenen das Buch lesen, so kann der Rezensent etwaige kognitive und emotionale Nebenwirkungen nicht ausschließen.

Literatur

Ash, G. A. (2022). Diskurskontrolle an deutschen Universitäten – Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit? Schriftenreihe der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berlin: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. https://edoc.bbaw.de›BBAW_WiD_21_2022; aufgerufen: 28. Februar 2023.

Bendel, O. (2020). Cancel Culture. In O. Bendel, N. Lin-Hi & A. Suchanek (Hrsg.), 110 Keywords Wirtschaftsethik (S. 15–20). Wiesbaden: Springer Gabler.

Cohen, S. (1972). Folk Devils and Moral Panics. St. Albans: Paladin.

Daub, A. (2009). „Zwillingshafte Gebärden“. Zur kulturellen Wahrnehmung des vierhändigen Klavierspiels im neunzehnten Jahrhundert. Würzburg: Königshausen & Neumann.

Daub, A. (2012). The Metaphysics of Marriage in German Idealism and Romanticism. Chicago: University of Chicago Press.

Daub, A. (2021). The Dynastic Imagination. Family and Modernity in Nineteenth-Century Germany. Chicago: University of Chicago Press.

Die Zeit (2022). https://www.zeit.de/news/2022-11/07/debatte-ueber-woke-sein-und-cancel-culture; aufgerufen: 20. Februar 2023.

Hamburger Abendblatt (2023). https://www.abendblatt.de/politik/​deutschland/​article237715807/​Soeder-will-beim-Politischen-Aschermittwoch-nicht-Gendern.html; aufgerufen: 28. Februar 2023.

Klintberg, B. af (1990). Die Ratte in der Pizza – und andere moderne Sagen und Großstadtmythen. Kiel: Butt Verlag.

Norris, P. (2023). Cancel culture: Myth or Reality?. Political Studies, 71(1), 145–174.

Süddeutsche Zeitung (2019). https://www.sueddeutsche.de/kultur/​gomringer-avenidas-gedicht-gruene-mitte-alice-salomon-hochschule-1.4341733; aufgerufen: 20. Februar 2023.

Steiner, M. (2016). Antipathie für den Teufel: Rock'n'Roll und Jugendkultur als mediales Symbol für das Böse und den teuflischen Rebellen in den Sechzigerjahren. Medienimpulse, 54(4).


[1] Stanley Cohen wurde 1942 in Südafrika geboren und war von 1996 bis zu seinem frühen Tod 2013 Professor für Soziologie an der London School of Economics.

[2] Ihre Namen verdanken die Mods und Rockers wohl vor allem der britischen Boulevardpresse. Während die Rockers – um es etwas scherenschnittartig zu formulieren – vornehmlich in Lederjacke, Jeans und Motorrad auftraten und Rock’n’Roll bevorzugten, besaßen die Mods Vorlieben für Motorroller, modische Kleidung und Jazz sowie Soul-Beatmusik. Beide Jugendgruppen standen sich nicht unbedingt sympathisch gegenüber. Am Osterwochenende 1964 kam es in einem südenglischen Seebad zu einer Auseinandersetzung zwischen Mitgliedern beider Gruppen. Für die Boulevardpresse war dies der Anlass, ein mediales Spektakel zu inszenieren und die Jugendlichen oder jungen Erwachsenen als wild, krankhaft, gewalttätig, schmutzig etc. zu stigmatisieren (vgl. auch: Steiner, 2016).

Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Frindte
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Institut für Kommunikationswissenschaft - Abteilung Kommunikationspsychologie
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Es gibt 77 Rezensionen von Wolfgang Frindte.

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Zitiervorschlag
Wolfgang Frindte. Rezension vom 28.03.2023 zu: Adrian Daub: Cancel Culture Transfer. Wie eine moralische Panik die Welt erfasst | Das Phänomen »Cancel Culture« verstehen. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2022. ISBN 978-3-518-12794-0. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30231.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.


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