Helmwart Hierdeis, Achim Würker (Hrsg.): Praxisfelder der Psychoanalytischen Pädagogik
Rezensiert von Prof. Dr. Gertrud Hardtmann, 14.02.2023
Helmwart Hierdeis, Achim Würker (Hrsg.): Praxisfelder der Psychoanalytischen Pädagogik. Pädagogische Interaktionen verstehen und förderlich gestalten.
Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2022.
244 Seiten.
ISBN 978-3-8379-3178-5.
D: 29,90 EUR,
A: 30,80 EUR.
Reihe: Psychoanalytische Pädagogik.
Thema
Thema des vorliegenden Bandes ist die angewandte Psychoanalyse in verschiedenen sozialpädagogischen Arbeitsfeldern.
Herausgeber
Helmwart Hierdeis ist Prof. em. für Erziehungswissenschaft und Psychoanalytiker und lehrte in Bamberg, Erlangen-Nürnberg, Innsbruck und Bozen-Brixen.
Achim Würker ist Studiendirektor i.R. und Mitglied des Frankfurter Arbeitskreises für Tiefenhermeneutik und Sozialisationstheorie, sowie der Kommission Psychoanalytische Pädagogik der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft.
Beiträge von Josef Christian Aigner, Margret Dörr, Manfred Gerspach, Helmwart Hierdeis, Jessica Jung, Marian Kratz, Hans von Lüpke, Barbara Neudecker, Bernd Traxl, Kathrin Trunkenpolz, Hans Jörg Walter, Achim Würker, David Zimmermann.
Entstehungshintergrund
Praxisfelder der psychoanalytischen Pädagogik und pädagogische Institutionen werden aus psychoanalytischer Sicht vorgestellt. Inwieweit kann ein aufmerksamer Umgang mit dem Unbewussten die Beziehungsarbeit mit den Klienten positiv verändern? Neue Perspektiven auf pädagogische Qualifikationsprozesse und ein vertieftes Berufsverständnis werden praxisnah diskutiert.
Aufbau
Nach einer Einleitung von Hierdeis und Würker werden Arbeiten aus verschiedenen Praxisfeldern vorgestellt:
- Bildung, Kindheit/Frühpädagogik,
- Schulpädagogik,
- Jugenddelinquenz,
- Altenarbeit,
- Migrationspädagogik,
- Heil- und Sonderpädagogik,
- Soziale Arbeit,
- Traumapädagogik,
- Geschlechterfragen und
- Hochschuldidaktik.
Inhalt
Einleitung (Heimwart Hierdeis & Achim Würker)
Mit einem Freud-Zitat über ‚Anwendungen der Psychoanalyse‘ verbinden die Herausgeber die Hoffnung, analytisches Wissen in der Praxis einsetzen zu können unter Einbeziehung von Kultur- und Verhaltensmustern mit dem speziellem Blick auf das ‚Nicht-Gesehene‘/Unbewusste. Das schließt auch Aufmerksamkeit für Traumatisierungen und schädigende Verhältnisse ein und wird unter Rückgriff auf die theoretischen Arbeiten von Lorenzer (1981) zum ‚Szenischen Verstehen‘ erläutert.
Die dann folgenden Beiträge repräsentieren Arbeitsfelder der psychoanalytischen Pädagogik.
Bildung
Überlegungen zu einem psychoanalytischen Bildungsverständnis (Helmwart Hierdeis)
Subjektivität entsteht durch Bildung der eigenen Person unter Nutzung der Angebote der Eltern und Lehrer. Dabei spielen Anlagen, Milieu, Reifungs- und Entwicklungsprozesse, Begegnungen und Erfahrungen eine Rolle: Bildung verstanden als ‚Gang der Geschichte‘ (Bittner 1996), was ich aus mir gemacht habe und was aus mir gemacht wurde. Der Autor stellt sieben anthropologische Fakten vor: die angeborene Instinktunsicherheit, Lust- und Unlustgefühle, emotionale und intellektuelle Potenz, Angewiesenheit auf Bindungen, Anpassungsdruck, die Bedeutung von Erfahrungen und die Sprache als Darstellungs- und Kommunikationsform. Die institutionalisierte Bildung sei auf Anpassung ausgerichtet und vernachlässige unbewusste Bildungsprozesse (auch im vorsprachlichen Bereich). Die letzteren zeigten sich in Erzählungen und Deutungen. Hierdeis schließt mit dem Hinweis auf psychoanalytisch-pädagogische Beiträge zu einer Theorie der Bildung und einem Epilog.
Kindheit/Frühpädagogik
Spieldynamik. Eine Hinführung zu Verständnis, Beobachtung und Begleitung des kindlichen Spiels aus psychodynamischer Perspektive (Bernd Traxl)
Traxl beschreibt professionsübergreifende Aufgaben des Spiels: Sensibilisierung von Eltern und Erziehern für den Erfahrungsbereich des Spiels in der Pädagogik in der Früherkennung von Benachteiligungen, Präventionsmöglichkeiten und Förderung bei Spielentwicklungsstörungen.
Spielsozialisation dient der Entdeckung des Selbst und der Welt und der Entwicklung kognitiver, motorischer, sprachlicher und emotionaler Fähigkeiten. Im Grenzbereich von Innen und Außen nimmt das Spiel psychodynamisch eine Brückenfunktion ein (ausführliches Schaubild). Das Spiel kann begleitet und unterstützt werden durch eine produktive Zurückhaltung, ein Nichtwissen (Bion 2009), bei Traumatisierungen auch durch ein stärkeres Engagement. Spiele zeigen eine Verarbeitung von Erfahrungen und Konflikten, deshalb können psychoanalytische Grundeinstellungen hilfreich sein und einen sichereren Rahmen, Unaufdringlichkeit, Offenheit für Unsicherheit und Zweifel bieten.
Schulpädagogik
Psychoanalytische Pädagogik der Schule (Heimwart Hierdeis & Achim Würker)
Neben den Eltern sind die Lehrer und die Schule Lebensgemeinschaften und gleichzeitig Machtverhältnisse. Unterricht bedeutet Kulturtransfer und Qualifikation. Die Beziehung Lehrer-Schüler ist asymmetrisch (starke Position des Lehrers) und erzeugt Anpassungs- und Konformitätsdruck. Psychoanalytisch wichtig sind dem Bewusstsein entzogene Zuschreibungen, Bedeutungen, Symbole und Vorstellungen, darunter am wichtigsten die Lehrer-Schüler-Beziehung (Übertragungen).
Es folgt ein Fallbeispiel aus einer Hauptschul-Abschlussklasse. Der Lehrer erlebt eine negative Reaktion der Schüler, die ihn veranlasst, ohne Namensnennung die Schüller aufschreiben zu lassen, was Ihnen am Lehrer nicht gefällt: Gefühle von Ohnmacht und Ängste wegen Zensuren wurden thematisiert und diskutiert mit der Folge einer Reduktion der Vertikalität in der Beziehung.
Die Schule als ‚emotionaler Raum‘ verstanden, setzt eine psychoanalytisch-pädagogische Qualifikation der Lehrenden voraus unter besonderer Aufmerksamkeit für Affekte und Emotionen (Unterrichtsbeispiele).
Jugenddelinquenz
Emotionaler Hunger oder: Beziehungsgestaltung im Jugendstrafvollzug (Marian Kratz & Jessica Jung)
Nach einem Rückblick über die Entwicklung im Jugendstrafvollzug nimmt der Autor Bezug auf die Interviewstudie von Jung 2021. Zwei Themen werden angesprochen: Straftäter*innen in der Psychoanalyse und Psychoanalyse der Straftäter*innen. Das Reformklima in den 1960er und 1970er Jahren hat ein psychoanalytisches Verständnis des Strafvollzugs unterstützt und praxisrelevante Impulse zur Sozialisierung gesetzt.
Es folgt ein Überblick über psychoanalytische Autoren und aktuelle Veröffentlichungen zur Verbesserung der pädagogischen Professionalität.
Eine Feldstudie (28 Jugendstrafanstalten) zielte auf die Beziehungserfahrungen zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen während der Haft. Es wurden fünf Interviews geführt: Die Frage nach familiären Beziehungen in der Haft zeigten eine stärkere Bindung an die Mutter, als an den Vater. Lehrkräfte wurden zum Teil als ungeduldig und machtlos, aber auch als ‚mütterlich Vertraute‘ erlebt. Der Vater fehlte als Grenzen setzende Instanz, deshalb bestimmte die Suche nach Grenzen den Strafvollzug. Das ‚Nein‘ ermöglichte produktiv eine emotionale Begegnung und befriedigte einen – fast durchweg zu beobachtenden – emotionalen Hunger.
Altenarbeit
Psychoanalytisch-pädagogische Perspektiven der Arbeit mit hochaltrigen Menschen oder: Frau Gürtlers Sehnsucht nach »Zusammen-Sein« (Kathrin Trunkenpolz)
Geropädagogik überschneidet sich mit Gerontologie, Soziologie, Bildungsarbeit und Psychotherapie bei Menschen in hohem Alter (Radebold & Schweizer 2001). Alltagssituationen werden analysiert, die Erlebnis- und Beziehungserfahrungen und ein Forschungsprojekt »Lebensqualität im Pflegeheim« vorgestellt (Forschungseinheit »Psychoanalytische Pädagogik« Universität Wien). Alltagssituationen, Interaktionen und Erfahrungen, ausgehend von Wünschen und Bedürfnissen, wurden bei Pflegeheimbewohner*innen mit Demenz erforscht: Acht Bewohner wurden in zwei Pflegeheimen drei Monate wöchentlich für eine Stunde beobachtet und Protokolle erstellt. Dann wurden Pflegepersonen in die Untersuchung (Beobachtung und Interviews) einbezogen. Eine 82-Jährige berichtete über ihre Sehnsucht nach »Zusammensein« mit den Pflegepersonen und anderen Bewohnern und über ihren Alltag im Pflegeheim.
Ergebnisse der Untersuchung: Die Bewohner waren mit dem Verlust von sozialen Kontakten, Einsamkeit, körperlichem und kognitivem Abbau und dem Tod konfrontiert und konnten ihre Gefühle der Verzweiflung, Trauer, Wut Scham und Ohnmacht, verstärkt durch den Verlust von sprachlichen Fähigkeiten, nicht selbstständig regulieren; gerade deshalb waren Beziehungserfahrungen wichtig, – ein für die Ausbildung der Pflegekräfte wichtiger Aspekt.
Migrationspädagogik
Erziehungswissenschaftliche Migrationsforschung und psychoanalytische Pädagogik. Einblicke in aktuelle Diskurse und neue Perspektiven (David Zimmermann)
Die Geschichte der Psychoanalytischen Pädagogik ist verwoben mit Pädagogik von Verfolgungs- und Migrationserfahrungen, von Marginalisierung, Flucht und Ausgeschlossensein mit dem Schwerpunkt auf individuelle Erfahrungen und unbewusste Beziehungsdynamiken. Inzwischen sind auch institutionelle und soziale Diskriminierungen im Fokus, das Wechselspiel von Individuellem und Sozialem, Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen. Anhand von drei Publikationen werden unterschiedliche Perspektiven aufgezeigt:
- Die Promotionsschrift von Müller (2021): Interviews mit Lehrkräften und Kindern in Sprachenklassen zeigten, das prägende generative Erfahrungen an langfristigen Traumatisierungen beteiligt sind. Belastungen der Fachkräfte entstehen durch traumatische Re-Inszenierungen (1).
- Der Sammelband der Herbsttagung Psychoanalytische Pädagogik (Boger & Rauh 2021) befasst sich kritisch mit (rassistischen) Herrschaftsverhältnissen und rassistischen Strukturen (2).
- Das Jahrbuch der Psychoanalytischen Pädagogik ‚Migration, Flucht und Wandel‘ (u.a. Youell 2919, Tavistock-Klinik) beschreibt Containment und Übertragung. Eine Annäherung an das Erlittene wird erschwert durch eine unsichere aktuelle Situation und individuelle Ängste. Ziel ist es, in dreitätigen Basisseminaren mit anschließender Supervisionsgruppe die Fachkräfte ausreichend zu sensibilisieren (Beispiele aus der Praxis) (3).
Heil- und Sonderpädagogik
ASS und ADHS: Von der Komorbidität zur thematischen Beziehung. Konsequenzen für eine psychoanalytisch-pädagogische Praxis (Hans von Lüpke & Manfred Gerspach):
Die Bedeutung psychodynamischen Verstehens am Beispiel von Autismus wird anhand von ausführlicher Literatur zum Thema dargestellt. Dann folgt eine Überleitung ‚Vom Autismus zur ADHS‘ nicht nur in Bezug auf Begrifflichkeiten, sondern auch auf Gemeinsamkeiten wie neurologische Erregungsprozesse und Entwicklungsstörungen im Zusammenspiel von angeborener Ausstattung und umweltbedingte Regulation. Eine Einbeziehung der vorgeburtlichen Phase (stabilisierendes Holding der Mutter) ist auch danach wichtig für die ‚kommunikative Abstimmung‘. Können Brüche wieder hergestellt werden (Fallbeispiele)? Mangelnde affektive Ansprechbarkeit aufgrund von Angst und Unsicherheit kann – unerkannt – heftige Gegenübertragungsgefühle auslösen. Klare Interaktionen und Strukturen sind – auch in der Schule – hilfreich. Eine differenzierte Diagnostik von Mentalisierungsstörungen ist notwendig.
Soziale Arbeit
Psychoanalytisch orientierte Soziale Arbeit/​Sozialpädagogik (Margret Dörr)
Sozialarbeit hat eine pädagogische, fürsorgerische und helfende Seite; das Unbewusste spielt jedoch in der Wahrnehmung kaum eine Rolle. Es geht um Individuum und Gesellschaft ohne Fokus auf die Dynamik von Subjektivierung und Vergesellschaftung, während psychoanalytische Kulturkritik auch Kritik der Gesellschaft und ihre Unterdrückungsmechanismen umfasst. Schlüsselbegriffe der sozialen Arbeit sind der ‚soziale Ort‘ einer kreativen Selbstbildung (Bernfeld 2011) und symbolische Formen in Gestalt von konflikthaften Inszenierungen (Lorenzer 1970). Aus psychoanalytischer Sicht ist Lebensbewältigung ein mehrdimensionales Konzept, das sowohl das personale Innere des Subjekts umfasst, wie auch dessen Interaktions- und Gesellschaftssphäre (Böhnisch 2016), da fehlende soziale Anerkennung, Orientierung und Einbindung Gefühle von Ohnmacht und Verlust an Handlungsfähigkeit produzieren.
Was sind unter sozialstruktureller/​sozialpolitischer Perspektive die nur begrenzt veränderbaren objektiven Handlungsspielräume des Subjekts, wenn bereits das Milieu das Selbstgefühl prägt? Und welche Möglichkeiten gibt es zur Veränderung? Die Anerkennung der Konflikthaftigkeit des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft ist wichtig in Hinblick auf Zugangsmöglichkeiten und Partizipationschancen für Einzelne, Familien, Gruppen. Auch das wird nicht nur vom gesellschaftlich Bewussten, sondern auch vom Unbewussten strukturiert durch Herrschaftssysteme, soziale Verwerfungen und Barrieren, die Spuren in der Psyche hinterlassen. Analyse der Konfliktsituationen und des gesellschaftlichen Umfeldes kann zu einer Schaffung von ‚offenen Lebensräumen‘ (Mollenhauer 1968) führen, die Chance eröffnen für eine Erweiterung der Symbolisierungsfähigkeit des Subjekts und damit für ein gesünderes Selbstbewusstsein.
Traumapädagogik
Gibt es eine psychoanalytische Traumpädagogik? (Barbara Neudecker)
Wie kann eine pädagogische Unterstützung von Traumatisierten aussehen (Dörr 2016)? Das beginnt bereits mit der Frage, wie ‚traumapädagogisch‘ bereits die frühe Psychoanalytische Pädagogik nach den Arbeiten von Aichhorn, Bernfeld, Anna Freud, Bettelheim z.B. war, wenn scheinbar unsinniges Verhalten einen unbewussten Sinn und Hinweise auf erfahrene Verletzungen ergab. Bei ‚Aggressiven‘ stellte Aichhorn (1951) defizitäre Beziehungserfahrungen und Re-Inszenierungen von Objektbeziehungen fest. Eine korrigierende Erfahrung kann eine Katharsis und strukturelle Veränderung – Heilung von Verwahrlosung – auslösen. Die Entschlüsselung nicht nur von bewusstem, sondern auch unbewusstem Sinn kann zu einer Veränderung des Verhaltens führen. Der vergangene und veränderte Beziehungsaspekt steht im Fokus (Beispiele). Auf Seiten der Pädagogen erfordert das eine Reflexion von Übertragung und Gegenübertragung. Auch Konzepte, wie die von Keilson der ‚Sequentiellen Traumatisierung‘ oder des ‚kumulativen Traumas‘ (Masud Khan) können hilfreich sein. Ein eigener psychoanalytisch-pädagogischer Blick ist wichtig für die Arbeit mit belasteten Kindern und Jugendlichen., wobei eine psychoanalytische Traumapädagogik auch Anregungen zur psychoanalytischen Pädagogik geben kann. Sind Begrenzungen hilfreich oder geht es doch mehr um gemeinsame Haltungen, Grundsätze und Konzepte?
Geschlechterfragen
»Alles fließt«? Geschlecht und Gender als Herausforderung für Psychoanalyse und Psychoanalytische Pädagogik? (Josef Christian Aigner)
Untersucht wird die biologische Voraussetzung von Geschlecht und ‚sozialkonstruktuvistische‘ Zugänge, das Phänomen diverser Geschlechtsempfindungen, Versuche der Relativierung und Leugnung bestimmter Geschlechterdifferenz unter dem Aspekt psychoanalytischer Entwicklungstheorie und Pädagogik.
Binäre Geschlechtsidentitäten schließen leicht andere aus. Müssen sei deshalb grundsätzlich infrage gestellt werden? Schon Freud sah kritisch eine schlichte Dichotomie im Konzept der Bisexualität. Rivalitäten wie auch Anlehnungswünsche gibt es nicht nur dem gleichgeschlechtlichen, sondern auch dem andersgeschlechtlich Elternteil gegenüber. Und wollen Kinder nicht alles, bzw. beides haben und erleben den Verzicht – bewusst und unbewusst – als Verlust? Geschlechtsidentität setzt sich aus widersprüchlichen und unvereinbaren Aspekten zusammen. Zu unterscheiden ist zwischen Objektbezogenheit – (Wen begehre ich?) und einer gefühlten narzisstischen Identität (Als wer begehre ich?). Nach Laplanche (2017) ist ‚Gender‘ plural, ‚Geschlecht‘ duaI und sexual polymorph. Geschlechtsentwicklung ist ein komplexer Prozess von Beziehungserfahrungen und Fantasien mit unbewussten Zuschreibungen des Anderen. Das Somatische hingegen stellt nur Möglichkeiten zur Verfügung. Nivellierung von Geschlecht kann zu Körperlosigkeit führen und nicht zu einer ‚inner genitality‘ (Kestenberg, Quindeau), nicht zu einer Identität weiblicher und männlicher Eigenarten.
Wird die körperliche Dimension vernachlässigt, dann bleibt nur noch Sprache, Diskurs, symbolische Konstruktion. Jede geschlechtliche Sozialisation hat soziale Überformungen. Warum wird die Unterschiedlichkeit nivelliert? Ist nicht ein Zusammenleben mit Abweichungen möglich?
Die Konfliktdynamik der Unterschiede von Frauen und Männern, Mädchen und Jungen zeigen sich in der Forschung und in pädagogischen Handlungsfeldern, in männlichen und weiblichen Rollenübernahmen. Männliche und weibliche Fachkräfte zeigen eine Diversifizierung von Spiel- und Kontaktangeboten und Handlungsperspektiven. Problematisch ist die Tendenz, Geschlecht und Geschlechtsidentität als grenzenlos-fluides Phänomen zu sehen (Ideologieverdacht). Kritisch zu sehen ist auch eine Hierarchie der Unterschiede, die rigide Fremdheit und Beunruhigung produzieren kann. Wegschauen erzeugt Ignoranz und erschwert pädagogisch eine egalitäre professionelle Umgangsweise.
Hochschuldidaktik
Helmwart Hierdeis & Achim Würker im Gespräch mit Hans Jörg Walter: Psychoanalytisch orientierte Hochschuldidaktik.
Psychoanalytische Pädagogik leistet einen Beitrag zur Entwicklungstheorie, zu Supervisionsgruppen und zu Selbsterfahrung. Psychoanalytisches Wissen sollte in verschiedene pädagogischen Disziplinen einsickern, um die Selbstreflexion der Studenten anzuregen (‚erfahrungsbezogene Theorieaneignung‘). Themen sind Anthropologie unter psychoanalytischer Perspektive, Theorien des Erzählens und persönliche Themen der Studenten in Kleingruppendiskussionen mit der Möglichkeit zu Selbsterfahrung und Beschäftigung mit Konflikt- und Familienthemen anhand z.B. von Literaturbeispielen.
Gemeinsame, auch streitbare Diskussionen bieten sich an über Anknüpfungspunkte mit anderen Wissenschaften (Literatur, Geschichte, Religionswissenschaft).
Die Schriften von Lorenzer eignen sich auch für ein curriculares Konzept.
Diskussion
Es handelt sich um ein wichtiges Buch, in dem beschrieben wird, wie psychoanalytisches Wissen und Verständnis in verschiedenen pädagogischen Arbeitsfeldern hilfreich sein kann.
Jedem Beitrag sind Informationen über die Autoren und ausführliche Literaturhinweise angefügt; letztere sind sehr hilfreich, weil sie oft auch praktische Beispiele enthalten, die dem Leser zu einem vertieften Verständnis der ‚angewendete Psychoanalyse‘ helfen können. Denn der Untertitel ‚Pädagogische Interaktionen verstehen und förderlich gestalten‘ wird zwar theoretisch, aber nicht immer praktisch und für den psychoanalytisch nicht ausgebildeten Leser verständlich erfüllt. Das Versprechen wird in der Theorie eingelöst, doch fehlen konkrete Beispiele aus der Praxis, mit Ausnahme in der ‚Schulpädagogik‘/‚Altenarbeit‘/‘Migration‘/‘Heil- und Sonderpädagogik‘/‘Trauma‘.
Es ist dennoch sehr zu empfehlen, weil insbesondere die frühen Literaturbeispiele aus der psychoanalytischen Pädagogik (Aichhorn, Bernfeld, Anna Freud u.a.) ausführlich und anschaulich auch die alltägliche Arbeit beschreiben.
Wichtig und anregend ist das Buch auch deshalb, weil insbesondere im Hochschulbereich auf die Notwendigkeit hingewiesen wird, auch in die Curricula – insbesondere in der Entwicklungs- und Objektbeziehungspädagogik – das psychoanalytisch angesammelte Erfahrungswissen über unbewusste Konfliktdynamiken und Objektbeziehungsstörungen aufzunehmen, um als ‚angewandte Psychoanalyse‘ auch in Zukunft Studenten eine qualitative Vorbereitung auf ihre spätere Berufstätigkeit zu vermitteln.
Fazit
Ein wichtiger Anstoss über die Psychodynamik in verschiedenen pädagogischen Arbeitsfeldern nachzudenken.
Rezension von
Prof. Dr. Gertrud Hardtmann
Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Psychoanalytikerin
Mailformular
Es gibt 125 Rezensionen von Gertrud Hardtmann.
Zitiervorschlag
Gertrud Hardtmann. Rezension vom 14.02.2023 zu:
Helmwart Hierdeis, Achim Würker (Hrsg.): Praxisfelder der Psychoanalytischen Pädagogik. Pädagogische Interaktionen verstehen und förderlich gestalten. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2022.
ISBN 978-3-8379-3178-5.
Reihe: Psychoanalytische Pädagogik.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30233.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.