Mathias Hirsch: Die Therapie als Beziehungsraum
Rezensiert von Prof. Dr. med. Vera Hähnlein, 12.06.2023

Mathias Hirsch: Die Therapie als Beziehungsraum. Modifizierte psychoanalytische Traumatherapie.
Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2022.
170 Seiten.
ISBN 978-3-8379-3180-8.
D: 24,90 EUR,
A: 25,60 EUR.
Reihe: Bibliothek der Psychoanalyse.
Thema
Therapie als Beziehungsraum ist die Kernidee des Buches. Sofern die Beziehung unter Berücksichtigung des Machtungleichgewichts zwischen Analytiker:in und Analysand:in verantwortungsvoll, intersubjektiv, gemeinsam und auch machtsensibel gestaltet wird, eröffnet sie – gerade auch traumatisierten Menschen – gute Entwicklungschancen.
Vorstellung von Autor:in oder Herausgeber:in
Mathias Hirsch ist promovierter Mediziner, Facharzt für Psychiatrie und für Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytiker (DGPT, affiliiertes Mitglied DPV) und Gruppenanalytiker. Er ist zudem als Dozent und Supervisor tätig und hat zahlreiche Bücher und Fachartikel verfasst.
Entstehungshintergrund
Seit Jahrzehnten beschäftigt sich der Autor unter Bezugnahme auf Entwicklungen zur Beziehungsgestaltung/​Objektbeziehungstheorie mit Themen, wie sexuellem Missbrauch, Traumatisierung, Schuldproblematik und dem Zusammenhang zwischen Trauma und schweren Psychopathologien. Sein Vorbild findet er in Sándor Ferenczi.
Im vorliegenden Buch macht er nun verschiedene seiner früheren Arbeiten zu diesen Themen aktualisiert und überarbeitet den Leser:innen (wieder) zugänglich.
Aufbau und Inhalt
Die therapeutische Beziehung bildet das thematische Bindeglied zwischen den Themen „Beziehung“, „Psychoanalytische Traumatherapie“, „Spezielle Aspekte“ und „Gruppenpsychotherapie“.
Unter Berücksichtigung der besonderen Haltung der Analytiker:innen soll eine „modifizierte psychoanalytische Psychotherapie“ schwerer gestörten, traumatisierten Patient:innen besser gerecht werden. Hirsch betont: „Die Deutung durch einen Wissenden steht nicht länger im Vordergrund; vielmehr geht es um Interaktion, um die Antwort auf das So-Sein des Patienten, um seine Mitteilungen und nicht nur um die verbalen Äußerungen in der intersubjektiv verstandenen therapeutischen Beziehung.“
Im Kapitel zur „Beziehung“ werden unter dem Titel „Separated yet interrelated“ zentrale Grundgedanken von Donald W. Winnicott dargestellt. Über dessen geniale Idee des Übergangsobjekts wird der Bogen weiter gespannt zum „Fantasie- und Spielraum“, „um das Getrenntsein, ein existenzielles Allein-Sein, in ein globales Eins-Sein mit allen anderen Menschen, mit Gott, mit dem Universum, zu verwandeln“ (S. 18). Unter Bezugnahme auf Winnicott und Ferenczi (Hypokrisie – „Heuchelei oder Überheblichkeit des Analytikers, der mit seiner Deutung dem Patienten etwas überstülpt“) fordert Hirsch die Loslösung von der Psychoanalyse als „Deutungskunst“ (S. 22).
Hirsch warnt vor dem Ausagieren der interpersonellen Dynamik, die vor allem bei sexuellen Übergriffen der Therapeut:innen gemäß Ferenczi zu einer „Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind“ (S. 25) führen kann. Kind oder Analysand:in werden auf brutale Weise „mit der Sexualität eines Erwachsenen“ konfrontiert. Starke Trennungsängste resultieren, da Analysand:in bzw. Supervisand:in durch die „Sprachverwirrung“ ihren:ihre Analytiker:in bzw. Supervisor:in verlieren, so wie das Kind seine elterliche Bezugsperson.
Zur „Ansteckung“ (nach Freud „psychische Infektion“) werden die Themen Empathie, Identifikation, Übertragung und Resonanz behandelt. Hirsch verweist auf Ferenczi als Erstbeschreiber (S. 32) für die primäre „Identifikation mit dem Aggressor“ als Prozess einer „Fusion von Täter und Opfer“. Bei der sekundären Identifikation verweigert sich das ursprüngliche Opfer dagegen. „Vielmehr entschließt es sich, dem Täter nachzueifern, sich mit ihm – sekundär – zu identifizieren, ihn zu imitieren und selbst Gewalt gegen Schwächere auszuüben“ (S. 32).
Das Konzept von Übertragung und Gegenübertragung interpretiert der Autor modernisiert als eine Übertragungs-Gegenübertragungsmatrix, „ein analytisches Feld, das beide Beteiligten gemeinsam, also intersubjektiv, erschaffen“ (S. 44).
Die modifizierte psychoanalytische Therapie sieht Hirsch als erforderliche Maßnahme für Folgen langjähriger Beziehungstraumata, bei denen die Traumatisierung untrennbar „von den pathogenen Beziehungen und Strukturen der Familie“ (S. 55) stattfindet, weil sie seiner Ansicht nach nur durch eine langjährige Beziehungstherapie „an der Wurzel zu packen“ sind (ebd.).
Schuldgefühle als „ein Moment starker Bindung an den Täter und das traumatische System“ (S. 88) werden zur therapeutischen Herausforderung, wenn es neben den irrationalen Schuldgefühlen um die Anerkennung von realer Schuld (etwa durch Viktimisierung Schwächerer in Folge von sekundärer Identifikation mit dem Aggressor) gekommen ist.
Ferenczi hatte den Mechanismus der Introjektion der Schuld des Täters beschrieben, von der dieser sich befreit, indem er sie dem Opfer als Schuldgefühl aufbürdet. „Sowohl Partizipation am Inzest als auch der Wunsch nach Befreiung davon verursachen Schuldgefühle.“ (S. 88) Die größten Schuldgefühle resultieren jedoch, wenn das Opfer während des Übergriffs eigene sexuelle Lust verspürt hat oder wenn es selbst zum:zur Täter:in geworden ist.
In dem Kapitel „Spezielle Aspekte“ finden sich spannende, hilfreiche Anregungen zu Themen wie „die Bedeutung des Körpers“, „Liebe in der Psychotherapie“, „Humor, Ironie und Spott“ sowie Gruppentherapie.
Diskussion
Der Autor knüpft Verbindungen zwischen den „frühen Pionieren der analytischen Psychotraumatologie“, wie Sándor Ferenczi (Reddemann/Wöller 2015, S. 674), und modernen psychodynamischen bzw. psychoanalytischen traumatherapeutischen Konzepten. Dass die Störungskonzepte der Psychoanalyse sich deutlich von denen der ICD-10/​ICD-11 und des DSM-5 unterscheiden, ist hier nicht Thema.
Die besondere Betonung der Beziehungsarbeit bei „langjährigen chronischen Beziehungstraumata“ teilt der Autor mit Luise Reddemann. Das Behandlungsangebot muss die spezifischen Besonderheiten der Bindungs- und Entwicklungspathologie ausreichend berücksichtigen (Reddemann/Wöller 2015, S. 681). Dass die modifizierte psychoanalytische Therapie hier vorrangig zu sehen sei, mag man dem Autor belassen. Die Vertreter sonstiger Therapieverfahren mögen dies anders sehen.
Ein diskussionswürdiges Thema ist hier vor der psychoanalytischen Historie wie auch der Thematik sexueller Übergriffe der Umgang mit den Geschlechterbezeichnungen. Vorgegeben wurde, das generische Maskulinum zur besseren Lesbarkeit zu verwenden. Der statistischen Verteilung würde die gänzlich neutrale Geschlechterbezeichnung nicht gerecht, da bei den Täter:innen Männer deutlich überwiegen. Dass dann aber wiederholt vom „Analytiker“ und der „Patientin“ bzw. der „Analysandin“ oder auch vom „Supervisor“ und der „Supervisandin“ (S. 25) die Rede ist, mag manche Leser:in irritieren.
Zwar wurde die Sicht als überwunden dargestellt, dass es „so etwas wie eine korrekte Deutung zum richtigen Zeitpunkt“ zum Verständnis der Psychodynamik der Patient:in gebe. Das Spielen zwischen Therapeut:in und Patient:in wurde betont. Gelegentlich lässt sich der Autor dann aber doch zu recht direktiven Deutungen verführen. So zitiert er Guy da Silva (1990), mit dessen Ansicht, dass Darmgeräusche als „Zeichen der Verdauung von emotionaler Erfahrung“ zu verstehen sind. Sie zeigen „die Halluzination einer Fütterung oder einer emotionalen Versorgung“ an. Hirsch bestätigt diese Deutung gar „als Bedürfnis nach oder als Zeichen der Wunscherfüllung des Patienten, vom Analytiker in der Übertragung gefüttert zu werden.“
Konkret angesprochene therapeutische Herangehensweisen wie etwa die Zusammensetzung einer Gruppe aus von sexueller Gewalt Betroffenen und den Täter:innen sind aufgrund der erwartbaren außerordentlichen Dynamiken aus moderner psychotraumatologischer Sicht als gewagt, wenn nicht gar als kontraindiziert anzusehen. In jedem Fall sollten sie allenfalls sehr erfahrenen Therapeut:innen vorbehalten bleiben.
Fazit
Das Buch „Die Therapie als Beziehungsraum“ ist ein wertvoller Beitrag zur Entwicklung der modifizierten psychoanalytischen Traumatherapie. Es bringt den erfahrenen Psychoanalytiker:innen im Arbeitsfeld wichtige Impulse und Lernenden (auch in anderen Therapierichtungen) stimulierende Anregungen, sich eingehender mit den Grundlagen zur Thematik und auch den Quellen sowie weiteren Publikationen des Autors zu befassen.
Quellenangaben
Reddemann, Luise/Wöller, Wolfgang (2015). Psychodynamische Verfahren. In: Seidler, Günter H./Freyberger, Harald J./Maercker, Andreas (Hrsg.) Handbuch der Psychotraumatologie. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart: Klett-Cotta.
Literaturhinweise
Ferenczi, Sándor (1933/2019). Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind. Bremen: Inktank Publishing.
Maercker, Andreas (2019). Traumafolgestörungen. 5. Auflage. Heidelberg: Springer.
Sack, Martin (2019). Individualisierte Psychotherapie. Ein methodenübergreifendes Behandlungskonzept. Stuttgart: Klett-Cotta.
Rezension von
Prof. Dr. med. Vera Hähnlein
Professorin für Theorien und Methoden der Sozialen Arbeit mit dem Schwerpunkt Beratung an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin
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Es gibt 3 Rezensionen von Vera Hähnlein.