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Carsten Linnemann: "Die ticken doch nicht richtig!"

Rezensiert von Dr. Ulrich Reichmann, 09.05.2023

Cover Carsten Linnemann: "Die ticken doch nicht richtig!" ISBN 978-3-451-39087-6

Carsten Linnemann: "Die ticken doch nicht richtig!". Warum Politik neu denken muss. Herder (Freiburg, Basel, Wien) 2022. 157 Seiten. ISBN 978-3-451-39087-6. D: 20,00 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 28,90 sFr.

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Thema

Ein Jahr nach der Bundestagswahl von 2021 und dem Kanzleramtsverlust der CDU/CSU veröffentlicht ein CDU Politiker eine Bilanz der Regierungsjahre unter Kanzlerin Merkel. Carsten Linnemann gehört nicht zu den Bewunderern von Angela Merkel.

Der seit Januar 2022 amtierende Vorsitzende der CDU Programmkommission erörtert gesellschaftliche und staatliche Verhältnisse. Er beschreibt die aus seiner Sicht jahrelangen Fehler seiner Partei. Deutschland und die CDU hätten sich in einer Komfortzone eingerichtet. Wichtiges würde verdrängt, weil die Politik im Krisenmodus verharre.

Ziele des Ökonomen ist größerer Mut. Linnemann präsentiert 15 Ideen für eine andere Politik. Er bemüht sich um Verständlichkeit, meidet Termini Techniki und wissenschaftliche Diktion. Linnemann bevorzugt kurze Sätze, Beispiele und sprachliche Bilder. Er bezieht sich auf von ihm geführte Gespräche. Deutschland stehe in einem Systemwettbewerb und sollte diesen nicht verlieren.

Autor

Carsten Linnemann, Dr. rer. pol., geboren 1977, ist Sohn einer Buchhändlerfamilie. Nach der Schule arbeitete er im Buchhandel und leistete Wehrdienst. Wirtschaft studierte er bis 2002 an einer FH. Es folgte ein VWL Promotionsstudium in Chemnitz. Seine Dissertation „Liberalisierung des grenzüberschreitenden Straßengüterverkehrs vor dem Hintergrund … von WTO/GATS“ wurde 2006 veröffentlicht. 

Anschließend arbeitete Linnemann bei der Deutschen Bank und der der IKB Deutsche Industriebank. Ab 2009 bis heute wurde er für Paderborn in den Bundestag gewählt. Nach der Wahlniederlage 2021 wurde er stv. Vorsitzender der CDU und Leiter der Programmkommission.

Aufbau

Das Buch hat 5 Kapitel:

  1. In der Politik: Das hatte ich mir anders vorgestellt.
  2. Der unfähige Staat: Begegnungen mit der Realität.
  3. Eine bequeme Partei: Die CDU in der Komfortzone.
  4. Einfach mal machen: 15 Ideen für den großen Wurf.
  5. In der Politik: So stelle ich mir das vor.

Inhalt

Kapitel 1

Linnemann beschreibt seine Vorbilder. Risikobereitschaft, analytischer Scharfsinn und Streitbereitschaft hätten sie ausgezeichnet (S. 9 - 16).

Kapitel 2 „Der unfähige Staat“

Es werden Beispiele für Staatsversagen und Dysfunktionalität angeführt. Der BER wäre mit einer Milliarde Euro geplant worden und kostete mittlerweile mehr als das Siebenfache. Fachkräfte gingen wegen vieler Bürokratieblockaden lieber anderswo hin(25-31).

Schulen könnten ihren Bildungsauftrag nicht erfüllen(31-35).Der Pisa-Schock konnte überwunden werden, nicht aber die strukturellen Defizite. Acht- und Neuntklässler könnten 2022 nicht richtig lesen und rechnen.

Die Polizei wäre in der Krise (35-39): Das Gewaltmonopol wäre de facto außer Kraft. Auch die Bundeswehr erhielte unzureichend Unterstützung. Sie wäre zudem desorganisiert.

Deutschland stünde vor einem Verwaltungsbankrott (39-45): Immer mehr Beratungsaufträge würden Ministerien extern vergeben. Die Hausleitungen hätten kaum Reforminteressen. Digitalisierungsfähigkeiten fehlten, stattdessen eine Überfülle von „Wasserköpfen“. Solche Stäbe begriffen die Komplexität der Welt nicht besser. Im Mittelpunkt des Verwaltungshandelns ständen weder Bürger noch Gemeinwesen, sondern die veralte Administration selbst. 

Beispiel sich strangulierender Ineffizienz wäre die Vermehrung von Beauftragten und Koordinatoren des Bundes auf aktuell 42. „Wenn sich drei Beauftragte und fünf Fachabteilungen abstimmen müssen, dann verläuft das nicht reibungslos. Das erschwert ungemein die Prozesse in Ministerien […] Von den Kosten will ich gar nicht erst reden“ (48ff).

Kapitel 3 „Eine bequeme Partei: Die CDU […]“

„Es wurde nicht die Ampel ins Amt gewählt, sondern wir wurden abgewählt“ (54).

Nach dem Mauerfall hätten sich die CDU-Politiker 20 Jahre lang im immerwährenden „Schlaraffenland“ gefühlt. Eine Ausweitung des Sozialstaates und Substanzaufzehrung wären erfolgt. Weltfinanz- und Eurokrise, Migrationskrise und Pandemie ließen die Schuldenstände steigen, aber änderten die Mentalität nicht. Die CDU verzichtete im letzten Wahlkampf auf ein klares Profil.

Kanzlerin Merkel lullte ein. Die Strategie der asymmetrischen Demobilisierung führte zu kurzfristigen Erfolgen, aber langfristigen Verlusten. Profillosigkeit stärkte Extremisten.

Parteitage dienten nicht notwendigen Debatten, sondern wären Inszenierungen (63-69).

Die Coronakrise wäre ein Stresstest gewesen und hätte viele Schwächen offengelegt. Die Bund-Länder-Konferenz (Kanzlerin mit Ministerpräsidenten) sei in der Verfassung nicht vorgesehen, hätte aber alles entschieden. Das Parlament sei entmachtet worden. Bis heute fehle eine Aufarbeitung. (70-76)

Kapitel 4 „15 Ideen für eine große Landesreform“

  1. Linnemann fordert „Pilotregionen“ für mehr Unternehmerfreiheit (77-80). Deutschland sei verantwortungsscheu geworden und müsse pragmatischer werden. Für Pilotregionen solle ein Bundesexperimentiergesetz erlassen werden, um Kreativität und Tatkraft Wege zu ebnen.
  2. Der Machtapparat (Kanzleramt) verfestige sich und neue Ideen hätten es schwer. Wer Wahlkreiswünsche vorbringe würde schnell zum Außenseiter und dann leise.  Linnemann fordert für Kanzleramt und MinisterpräsidentInnen eine Wahlzeitbegrenzung. Gleichzeitig sollten die Wahlperioden auf fünf Jahre verlängert werden (80-83).
  3. Der aktuelle Bundestag mit 736 MdB kostete ca. 1 Mrd. pro Jahr. Er müsse verkleinert werden.
  4. Die Dekarbonisierung mittels russischen Gases wäre gescheitert. Deutschland verringere einseitig und bspw. China erhöhe seine Emissionen auf 33 % des Welt-CO2-Ausstoßes. Nicht Plan- sondern nur Marktwirtschaft helfe hier. Der europäische Emissionshandel funktioniere, müsse aber globalisiert werden (87-92).
  5. Die EZB habe die Inflation zu bekämpfen und nicht auszulösen (92-96). Viele Staaten hätten sich an Niedrigzinsen gewöhnt und säßen in der Schuldenfalle. Die Sparer europaweit wären die Verlierer der Inflation. Die EZB trage zudem Verantwortung für die Abwertung des Euro gegenüber dem Dollar. Dies erhöhe die Importenergiepreise.
  6. Die Sozialausgaben sollten gerechter verteilt werden. Die Weltgeschichte der Staaten wäre auch eine Geschichte ihrer Pleiten. Die milliardenschweren Rettungspakete könnten so nicht weitergeführt werden. Sparpolitik schütze auch Politiker vor dem Drang, Wohltaten/​Geschenken nachzugeben. Sozialausgaben machten 50 % des Bundeshaushaltes aus. Grund u.a. seien fehlende Bedürftigkeitsprüfungen. Linnemann fordert eine Sozialstaatsbremse und schlägt 30 % vor (Vor-Corona-Niveau). „Das wir uns dringend auch mit dem Thema Beamten- und Politikerpensionen auseinandersetzen müssen, wird an anderer Stelle ausgeführt“ (97-101).
  7. Ein Digitalministerium gehöre eingeführt (101-104). Der Bundestag arbeite bspw. mit Faxgeräten. Die freie Wirtschaft wäre selbst bei datensensiblen Vorgängen (u.a. Bankgeschäfte) dem Staat um Längen voraus. Der Verwaltungsapparat zeigte sein übliches Gesicht: uneinheitlich, ineffizient, veraltet, kostenintensiv und klagend. Alle Ministerien sollten Kompetenzen an ein Digitalministerium abgeben. Die Hochwasserkatastrophe im Juli 2021 hätte durch bessere Digitalisierung abgemildert werden können.
  8. Der Datenschutz wäre uneinheitlich und übertrieben (105-108). Es gelte eine einheitliche Datennutzungsbehörde zu schaffen. Corona-Testzentren rechneten bspw. statt 100 Tests die Zehnfache Anzahl ab. Falsch verstandener Datenschutz wäre eine extreme Innovationsbremse. Es sollte eine einheitliche europäische Datenschutzbehörde geben, an die Deutschland Kompetenzen abzugeben habe.
  9. Der Rechtsstaat müsse robuster werden und sich besser durchsetzen (108-113). Es dürfe keine rechtsfreien Räume geben. In Deutschland nähmen Sprachverrohung und die Bereitschaft zur Gewalt zu. Antisemitismus und Clankriminalität gelte es, energisch zu bekämpfen. Zuverlässig würden Autopark-Vergehen und Steuersünden geahndet, nicht aber alle sonstigen Verstöße.
  10. Ein Gesellschaftsjahr solle eingeführt werden (114-118). Als Soldat half Linnemann bei der Oderflut 1997. Er erinnere sich bis heute gerne an die Solidarität, Gemeinschaft, und die Nothilfe. Zusammenhalt setze ungeahnte Kräfte frei und wirke dem Gesellschaftszerfall entgegen. Frankreich hätte ähnliches eingeführt und viele europäische Länder hielten an der Wehrpflicht fest.
  11. Europa müsse wettbewerbsfähiger werden (119-122). Die EU sollte sich auf Kernaufgaben konzentrieren und Märkte schaffen. Eine Währungsunion, die sich auf Regeln ohne wirksame Sanktionen verlasse, funktioniere nicht (119). Eine Vergemeinschaftung von Staatsschulden müsse streng abgelehnt werden (120). Der MdB fordert ein subsidiäres Europa, das nur dort tätig wird, wo es etwas besser kann. Die Welt benötige ein starkes und kein schwaches Europa.
  12. Bildung solle zu einer nationalen Aufgabe werden (122-126). Jedes Schulkind müsse die deutsche Sprache beherrschen. Der deutsche Bildungsbericht beinhalte Ungutes. Kinder mit Bedarf müssten zum Besuch einer Kita sowie einer Vorschule mit Sprachförderung verpflichtet werden. „Ehrenrunden“ wären kein Makel, sondern eine Chance.
  13. Es gebe zu viele Beamte (127-130). Oft erledigten sie dasselbe wie Angestellte. Pensionslasten für aktuell 1,7 Millionen Pensionäre summierten sich auf über 80 Milliarden jährlich. Zukünftige Pensions- und Beihilfeansprüche beliefen sich auf die unvorstellbare und generationenungerechte Summe 3,3 Billionen Euro (128). Nur notwendigste Bereiche sollten verbeamtet werden. Politiker sollten vorangehen und ihre überhöhten Pensionen streichen lassen. Die Schweiz hätte den Beamtenstatus weitgehend abgeschafft, und es wäre nicht bekannt, dass dort Verwaltung und öffentliche Dienstleistungen schlechter seien. Sie wären dort sogar besser.
  14. In Deutschland herrsche eine zu große Staatsgläubigkeit vor (130-133). Sie äußere sich u.a. in zu umfangreichen Staatsbeteiligungen. Grosse Milliardenbeträge wurden in den Corona- und Ukrainekrisen gewährt. Teils gute Investitionen. Aber Bürger und Politiker müssten achtgeben, nicht das Gefühl für Geld zu verlieren. Falsch wäre, wird der Staat vom Schiedsrichter und Regelsetzer zum Mitspieler. Der Markt wäre Politikern und Beamten stets überlegen, sobald innovative Lösungen nötig sind. Biontec hätte das erneut gezeigt.
  15. Der Öffentlich-rechtliche Rundfunk sei reformbedürftig (133-136). Dieser sei in Deutschland der kostspieligste der Welt. Es gebe fast hundert beitragsfinanzierte TV- und Radiosender. Die Medienanstalten verfügten über je eigene Verwaltungen und Mehrfachstrukturen. Mit der aus dem Grundgesetz abgeleiteten Grundversorgung hätte das nchts zu tun. Sport, Filme und Serien wären keine Grundversorgung.

Es gelte insgesamt mehr Streitkultur zu wagen (136-140). Viele Menschen zögen sich schweigend zurück. Die schweigende Mehrheit fühle sich oft als Minderheit. Es müsse respektvoll und sachorientiert diskutiert werden können. Demokratische Stärken wären Mut zur Wahrheit und Kraft zur Sachlichkeit.

Kapitel 5 Linnemanns Visionen

„Wir sind eines der höchstentwickelten und reichsten Länder der Welt, aber die Frage ist, wie lange noch. Es steht auf der Kippe, … dabei kommt es derzeit (noch) vor allem auf uns selbst an. Wenn wir den Kampf gegen uns selbst aber nicht gewinnen, werden wir in Deutschland und Europa… nirgendwohin mehr aufbrechen. Dann sind wir von der Gunst … anderer abhängig – abhängiger als zuvor. Dann übernimmt China das Zepter und streitet mit den USA, während wir tatenlos zusehen müssen… Das aber Wohlstand erst einmal erwirtschaftet werden muss, bevor er verteilt werden kann, gerät gern in Vergessenheit“ (142 f.).

Im Jahr 2021 bei einer Umfrage unter 25.000 Schülerinnen und Schülern hätten 44 % beruflich in den Öffentlichen Sektor oder NGO's gewollt. Menschen mit eigenen Ideen und Visionen wie Unternehmer und Selbstständige wären aber nötig. Staat und Staatsquote wären in Deutschland extrem aufgebläht. „Wie schafft es ein Konzern wie Wirecard, Hunderte nicht vorhandene Millionen Euro in der Bilanz stehen zu haben, ohne dass es staatlichen Kontrolleuren auffällt? Wieso kann ein Verteidigungsministerium über Jahre hinweg rechtswidrig Beraterverträge vergeben? Warum braucht es überhaupt so viele externe Berater, wenn gleichzeitig die Beamtenapparate in den Ministerien immer weiter aufgebläht werden?“ (147).

Die Ampel agiere im Krisenmodus und gehe keine notwendigen Strukturreformen an. Merkel machte es nicht besser und vermied Klartext. Linnemann folgert:

  1. Krisenzustände als Normalzustände zu akzeptieren und nicht als Ausreden für Reformverschiebungen zu nutzen. Unliebsames müsse entschiedener angegangen werden.
  2. Anstelle sich Genderfragen zuzuwenden, müssten Kriminalität, Bildung, Migration, Klima, Wirtschaft und Rente angegangen werden. Kein virtueller Eskapismus.
  3. Klarere Zuständigkeiten. Der Bund verschob auf die Länder, die Länder auf die Kommunen. Schuld wären stets andere gewesen. Koalitionsverträge wären unverbindlich, Mut zur Ehrlichkeit fehlte. „Freibier für alle“ sei keine seriöse Politik (151).

Diskussion

Das schmale Buch von 155 kleineren Seiten ist sprachlich wirkmächtig. Ein Politiker versucht es einmal anders. In sehr einfacher Sprache sowie mit vielen Beispielen macht der CDU-Politiker den Versuch, Wähler als auch Politikinteressierte zu erreichen und einer gewissen Verdrossenheit aufgrund zu großer Komplexitäten entgegenzuwirken. Linnemann erarbeitete reizstarke Sprachbilder, suchte seiner Ansicht nach fürs Ganze stehende Einzelbeispiele heraus und untermauerte seine vorgetragenen Argumente mit einigem Zahlenmaterial.

Diese Art von Anschaulichkeit ist nicht jedermanns Sache, beherrscht jedoch auch nicht jeder. Man muss einen gewissen Basiskontakt gepflegt und gewahrt haben. Zudem sollte man kommunikationsfähig geblieben sein und sich von der Berliner Blase nicht in eine andere Selbstverständlichkeiten getrieben lassen haben.

Der Autor versteckt sich nicht, sondern positioniert sich. Nicht nur bei konkurrierenden Parteien, sondern auch innerhalb seiner eigenen Parteienkoalition entfacht er Widerspruch. Was Linnemann fordert, mehr Mut zu praktizieren, mehr Unannehmlichkeiten und unangenehme Wahrheiten in Kauf zu nehmen, entspricht nicht dem Mainstream unserer Gesellschaft und Parteien. Zu einem gewissen Grad geht Linnemann aber voran. Er zeigt Mut. 

Im Abschnitt über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk fehlt dem Rezensenten eine Generalkritik, dass die Sender u.a. den Zeitungen, den seines Erachtens wirklichen Trägern der Demokratie, mit ihren Homepages unzulässige Konkurrenz machen. Die Sender mit einigen Politikern in den Beiräten gefährden die Gewaltenteilung. Sie bremsen des Öfteren investigativen Journalismus, der das Rückgrat der Demokratie ist, aus. So bei der Flutkatastrophe vom 14. Juli 2021, als ARD und ZDF nachweislich versagten. Auch bei der Aufarbeitung fiel die Selbstkritik weitgehend aus. 

Linnemann beäugt in fast jedem Kapitel die deutsche Administration. Das Beamtensystem wäre unflexibel, langsam, dysfunktional aufgebläht und entschieden zu kostenintensiv. Er beschreibt Zustände in der Wirtschaftsverwaltung, im Schulwesen, bei der Bundeswehr, in Kommunal- und Landesbehörden, und in Bundesministerien. Auch der Bundestag kommt nicht ungeschoren davon. Er warnt vor zu großer Staatsgläubigkeit und skizziert katastrophale zukunftsgefährdende Folgen für aktuelle und zukünftige Staatshaushalte. Der CDU Politiker fordert bei Neueinstellungen von Beamten größere Transparenz, die zukünftige Kosten wie die der Beförderungen und Pensionen beinhalten. Dies wäre zweifelsohne ein großer Schritt nach vorne.

Linnemann legt ein Buch mit Seltenheitswert vor. Das große Ganze nimmt er in den Blick. Multiperspektivisch und sehr wach beschreibt er Dysfunktionalitäten. Er nährt ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber der Verwaltung und staatlicher Übermacht. Dieser Krisenanalyse fehlt dem Rezensenten jedoch eine notwendige Schlussfolgerung: Deutschland ist aufgrund dieses Staates im Staate, dem Beamtenwesen, nicht reformierbar. Mit seiner historischen Tiefe, seiner grundgesetzlichen Verankerung, seiner undemokratischen Mächtigkeit auf vielen Ebenen macht der Beamtenstaat das Land zu einem unregierbaren Tanker. Die Behördenmitarbeiter, der gesamte öffentliche Dienst entwickelte sich zu einer privilegierten Schicht, wie auch die Coronakrise zeigte.

Kaum eine Branche versteckt sich so wirksam vor der Öffentlichkeit wie der deutsche Öffentliche Dienst. Er ist eine verschlossene Sache, eine res obscura, obwohl er doch eine öffentliche Sache, eine res publica/​Republik, sein sollte. Ehemals wurden Öffentlich-rechtliche Dienste im alten Preußen und anderswo in Europa gegen die Privilegien des Adels geschaffen. Die Funktionalität des Gemeinwesens sollte gestärkt werden. Diese Entwicklung hat sich aber überlebt. Der Nützlichkeitszenit für unser Gemeinwesen durch diese Art von Administration ist überschritten. Statt Reduktion erfolgen unvermindert Exporte nach Europa und in die UN. Die Dienste sind mittlerweile eine effizienzenthobene privilegierte Klasse. Jeder weiß es, kaum einer spricht darüber.

Fazit

Linnemanns neuestes Buch vom Okt. 2022 ist lesenwert, da anderswo eine solche Vogelperspektive nicht anzutreffen ist. Zudem kann er seine Sicht durch viele Beispiele aus der Politik vor Ort als langjähriger MdB anreichern. Als Ökonom ist er auch Sozialwissenschaftler und betrachtet das gesellschaftliche Gesamtsystem Deutschland und Europa nicht nur von oben, sondern auch von unten.

Rezension von
Dr. Ulrich Reichmann
ausgebildeter Lehrer für Katholische Religion und promovierter Philosoph. Er arbeitet als Geschäftsführer des Dr. Reichmann Universitätscoaching
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Es gibt 4 Rezensionen von Ulrich Reichmann.

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Zitiervorschlag
Ulrich Reichmann. Rezension vom 09.05.2023 zu: Carsten Linnemann: "Die ticken doch nicht richtig!". Warum Politik neu denken muss. Herder (Freiburg, Basel, Wien) 2022. ISBN 978-3-451-39087-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30238.php, Datum des Zugriffs 11.06.2023.


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