Tim Zumhof, Andreas Oberdorf (Hrsg.): Herwig Blankertz und die pädagogische Historiografie
Rezensiert von Prof. Dr. Wilhelm Schwendemann, 07.09.2023

Tim Zumhof, Andreas Oberdorf (Hrsg.): Herwig Blankertz und die pädagogische Historiografie. Waxmann Verlag (Münster, New York) 2022. 276 Seiten. ISBN 978-3-8309-4627-4. 34,90 EUR.
Thema
Herwig Blankertz ist einer der bedeutendsten Erziehungswissenschaftler des 20. Jahrhunderts; er veröffentlichte 1982 das Lehrbuch „Die Geschichte der Pädagogik“. In dem vorgestellten Diskussionsand von Tim Zumhof und Andreas Oberdorf sind sozial- und auch ideengeschichtliche Perspektiven miteinander verbunden. Herwig Blankertz verortete sich selbst in einer geisteswissenschaftlichen Tradition der Pädagogik, aber durchaus offen für zum Beispiel die kritische Theorie der Frankfurter Schule. Die geisteswissenschaftliche Tradition der Pädagogik ist heutzutage nicht mehr unumstritten, gleichwohl ist Blankertz‘ Buch spannend zu lesen und gibt durchaus auch heute noch nach vier Jahrzehnten Impulse für die pädagogische und erziehungswissenschaftliche Diskussion. Der Sammelband referiert die Relecture von Blankertz‘ Buch und rekonstruiert, analysiert und diskutiert den Blankertzschen Ansatz und gibt auch Leerstellen frei, Aspekte, die in Blankertz‘ Buch nicht offengelegt wurden.
Herausgeber
Dr. Tim Zumhof, ist Juniorprofessor mit den Forschungsschwerpunkten: philosophische, anthropologische und kulturtheoretische Grundlagen/Perspektiven pädagogischer Theoriebildung; Disziplin-, Transfer- und Wissenschaftsgeschichte der Erziehungswissenschaft; pädagogische Historiografie und Geschichtskultur; Erziehungs- und Bildungsgeschichte der europäischen Aufklärung an der Universität Trier.
Dr. Andreas Oberdorf, ist Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt historische Bildungsforschung an der Westfälischen Wilhelms Universität Münster.
Inhalt
Teil 1
Herwig Blankertz (1927-1983), Wolfgang Klafki (1927-2016) und Klaus Mollenhauer (1928-1998) sind wohl die bekanntesten akademischen Pädagogiklehrenden der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik Deutschland gewesen. Herwig Blankertz hatte bei Erich Weniger 1958 promoviert, war dann akademischer Lehrer an der PH-Oldenburg, dann an der FU-Berlin und zuletzt in Münster, wo er den Lehrstuhl für Pädagogik und Philosophie innehatte. Außeruniversitär engagierte er sich rege in bildungswissenschaftlichen Diskussionen und war Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft und auch Herausgeber der Zeitschrift für Pädagogik. Blankertz war schon früh in seiner akademischen Laufbahn (S. 8) am Zusammenhang von beruflicher und allgemeiner Bildung interessiert. Sein Lehrbuch „Die Geschichte der Pädagogik“ basierte auf Studienbriefen für die Fernuniversität Hagen und fokussierte die historische Forschung in der Erziehungswissenschaft (S. 9), die sich aber zunehmend „an soziologischen Theoriemodellen und sozialwissenschaftlichen Forschungsmethoden“ orientierte (S. 9); auch die historische Arbeit ordnete sich dieser Dimension unter. Gegen diesen Typ Forschung (S. 10) setzte Herwig Blankertz den Typ „erzählender Geschichtsschreibung“, der auch „pädagogisch interessierten Leser:innen einen Zugang zur Geschichte der Pädagogik gab (S. 11). Blankertz forderte von der pädagogischen Historiografie, sie „müsse Erziehung, Unterricht und pädagogische Institutionen in ihren kulturellen Bedeutungen und als gesellschaftlich vermittelte Strukturierungen untersuchen, d.h., sie als konstruierende und konstruierte Bestandteile von Handlungs- und Erfahrungszusammenhängen konkreter Personen und Personengruppen erfassen“ (S. 12). Blankertz‘ Grundfrage war: Wie lässt sich eine bedeutungsvolle Geschichte der Pädagogik erzählen? Wie und ob diese gelungen ist, diskutieren die Autor:innen dieses Bandes.
Andreas Oberdorf gibt in seinem Aufsatz Einblicke in den Nachlass von Herwig Blankertz (S. 19), aus denen besonders die Seminarunterlagen zu Jean-Jacwues Rousseau, Immanuel Kant und Thomas Mann hervorstechen (S. 21). Auch der Briefwechsel mit Wolfgang Ritzel ist aufschlussreich. Blankertz habilitierte sich 1962 in Mannheim mit der Schrift „Berufsbildung und Utilitarismus“. Die Umarbeitung der Studienbriefe zu „der“ Geschichte der Pädagogik waren herausfordernd (S. 24), weil Blankertz einen pädagogischen Gesamtzusammenhang von der Aufklärung bis ins 20. Jahrhundert schaffen wollte (S. 26) und damit die pädagogische Geschichtsschreibung einer allgemeinen kulturellen Entwicklung zuschrieb (S. 27): „Dabei lässt sich herausstellen, dass Blankertz zwischen ideen- und sozialgeschichtlichen Perspektiven nicht nur zu vermitteln suchte, sondern seine Verhältnisbestimmung zugunsten einer klaren „Sozialgeschichte der Ideen“ ausgefallen ist“ (S. 28). Bei seinen Leser:innen wollte Blankertz ein grundsätzliches Bewusstsein für die Geschichte der Pädagogik wecken (S. 29).
Ulrich Herrmann geht der didaktischen Absicht in Blankertz‘ Buch nach und rekonstruiert das reflektierende Erinnern an die Grundlagen der Pädagogik. Pädagogik werde bei Blankertz als Erzählung, als ein Narrativ, dargestellt (S. 35). Herrmann greift dabei auf die Struktur der Blankertzschen Studienbriefe zurück, in denen Lernziele usw. erklärt wurden (S. 36). Dazu folgen Fragen: Was lehren historische Erfahrungen über Chancen und Grenzen der Pädagogik (S. 38)? Was bedeutet die Lessingsche Formel von der „Erziehung des Menschengeschlechts“ (S. 38)? Herrmann verortet dabei Blankertz „im Paradigma der geisteswissenschaftlichen Pädagogik“ (S. 40), wobei die „Dialektik der Aufklärung“ von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer und die „Schwarze Pädagogik“ von Katharina Rutschky den äußeren Argumentationsrahmen abstecken (S. 40). Ziel der Pädagogik am Blankertzschen Sinn sei das „mündige, selbstverantwortete Leben als Person und (Mit-)Bürger“ (S. 44), d.h., die Aufgaben der Pädagogik liegen in der Erziehung zur Menschlichkeit und im Mündigwerden (S. 45).
Günter Kutscha resümiert, dass die Texte von Herwig Blankertz „von der faszinierenden Fähigkeit, Fülle und Vielfalt zu bündeln und Zusammenhänge herzustellen“ leben (S. 57). Erziehung habe nach Herwig Blankertz die Aufgabe, von der „Eigenstruktur der Erziehung“ als „Maßstab für Mündigkeit“ herzudenken (S. 58). Berufs- und Wirtschaftspädagogik seien nicht Randgebiete, sondern verweisen auf das Proprium der Pädagogik (S. 59) und seien als „Ausdifferenzierung der Pädagogik immer auch Teil ihres Systems und samt ihrer Geschichte“ (S. 59). Berufs- und Wirtschaftspädagogik stünden so nicht der allgemeinen Pädagogik gegenüber (S. 60).
Peter Menck liest das Lehrbuch von Blankertz kritisch, vor allem in Bezug auf den Begriff der Aufklärung; den Blankertz verwendet (S. 69). Nach Menck müsse dieser Begriff selbst kontextualisiert werden und sei eben nicht unhistorisch (S. 71). Kritisch agiert Menck auch gegenüber der Rousseau-Rezeption Blankertz‘ und meint, Blankertz habe sich von der Rousseauschen Utopie blenden lassen (S. 73). Die grundsätzliche Kritik Mencks zielt auf Blankertz‘ „Technik des historischen Arbeitens“ (S. 74).
Teil 2
Bernhard Hemetsberger gibt zu bedenken, dass die Geschichte der Pädagogik in jeder Epoche, in jeder Generation, neu geschrieben werden müsse (S. 81) und dass die narrative Pädagogik von Blankertz (vgl. Hayden White: Metahistory 2015, S. 22) „romantisch“ sei, weil spezifische Ansätze und auch Denker:innen in seiner Pädagogik ausgeklammert worden seien (S. 83). Rekonstruiert werden im Blankertzschen Modell Identifikation, Narrativität, Komplexität und Deutungskategorien als Schreiben gegen gesellschaftliche Krisen, was Blankertz in die Nähe von Jürgen Habermas (S. 84) rücke und das Modell sich letztlich so als Traditionsbrücke identifizieren ließen (S. 84): „Fehlender Sinn und fehlende Deutungskategorien markieren Krisen. Indem wir etwas als Krise begreifen, so Habermas, geben wir ihr unausgesprochen einen normativen Sinn“ (S. 85) (vgl. Jürgen Habermas, 2019: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt am Main, S. 13). Rückwendungen zur Geschichte seien Möglichkeiten, auf Krisen zu reagieren (S. 85). Der romantische Blick auf Geschichte zöge holzschnittartige Konturen nach sich (S. 87).
Walter Müller fragt in seinem Aufsatz danach, ob Herwig Blankertz mit seinem Lehrbuch einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben wollte oder nicht (S. 93). Die Epoche der Aufklärung diene Blankertz „als kritische Kontrastfolie für die eigentliche Geschichte der Pädagogik“ (S. 93). Gleichzeitig würden aber so Antike, Renaissance, Humanismus und Reformation abgewertet. Der Fokus des Beginns von Pädagogik liege in der Aufklärung, weil es ab hier „schulische Bildung … für die gesamte Jugend eines Volkes“ gegeben habe (S. 94), aber diese Geschichte müsse stets neu erzählt werden (S. 95). Die so gewonnenen Deutungskategorien würden in historische Narrativität überführt und hätten einen „universalhistorischen Anspruch“ (S. 97) (mit Verweis auf Odo Marquard, 1986: Apologie des Zufälligen, S. 56). Am Schluss plädiert Walter Müller dafür, Blankertz‘ Lehrbuch umzubenennen: „Auch eine Geschichte der Pädagogik“ (S. 99) (in Anlehnung an Jürgen Habermas, 2021: Auch eine Geschichte der Philosophie, Frankfurt a.M.).
Dieter Friedrichs nimmt diese Umbenennung auf („Auch eine Geschichte der Pädagogik“) (S. 101) und relativiert so den Anspruch von Herwig Blankertz und meint lapidar: „Da ein Text erst dann interpretiert werden kann, wenn er fertig geschrieben ist, kann die Realität (wie eine Textinterpretation) erst dann beurteilt werden, wenn sie (als Epoche) abgeschlossen ist. Die Realität im Medium der Ideenwelt zu begreifen, konnte „nach Auschwitz allerdings keine Geltung mehr besitzen.“ (S. 103) Pädagogik habe sich auch unter dem Einfluss der Frankfurter Schule zu einer sozialwissenschaftlich orientierten Erziehungswissenschaft gewandelt. Der von Blankertz verwendete Aufklärungsbegriff sei dialektisch und mitunter auch als autoritär zu interpretieren (S. 103). Dieter Friedrich vermutet, dass die kritische Theorie den Rahmen für das Blankertzsche Lehrbuch abgegeben habe, nicht mehr, nicht weniger und dass Blankertz selbst auf den kategorischen Imperativ Kants rekurriere (S. 104) und so die Leitmaxime von Pädagogik überhaupt abgebe (S. 105). Friedrich sieht aber auch den Rekurs von Blankertz auf Hegel, Humboldt und auch Kant sehr kritisch und fokussiert: „Allgemeinbildung als pädagogische Qualität muß verstanden werden als Anspruch und Regulativ, aber nicht als Inhalt“ (S. 109). Gleichzeitig gibt Friedrich aber auch zu, dass Blankertz versucht habe, scheinbar unvereinbar wirkende Theorien und Modelle zusammenzudenken.
Sabine Reh entfaltet in ihrem Beitrag (S. 115) Blankertz‘ Modell von Pädagogik im Kontext der deutschen Gesellschaft in den 80iger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Auch sie greift auf Hayden Whites Werk „Metahistory" zurück und fasst zusammen: „Damit weisen Erzählungen eine doppelt temporale Sequenz auf; eine Zeit der Erzählung oder des Erzählens wird zur Zeit (und man könnte auch sagen: der Dauer) des Erzählten ins Verhältnis gesetzt und die Gestaltung dieses Verhältnisses macht in der Folge den besonderen Charakter einer jeweiligen Erzählung aus“ (S. 116). Blankertz‘ Buch wird in eine Phase der Bundesrepublik Deutschland historisch eingeordnet, in der es mehrfach gesellschaftliche Umbrüche gegeben hat. Blankertz verwendet für diesen Umbruch Schlagworte wie Institutionalisierung, Verwissenschaftlichung und Sinnkrise (S. 118). Ausgeblendet würden von Blankertz jedoch bestimmte Themen, wie zum Beispiel die Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg (S. 120), so dass in historischer Sicht der Text von Blankertz „nur unter Vorbehalten eine Erzählung“ genannt werden könne (S. 121). Gleichzeitig kritisiere Blankertz in der Zeit der 60iger Jahre die sog. philosophische Pädagogik, der er einen Verblendungskonnex vorwirft (S. 122) – eine bildungspolitische Zukunft sei für die 80iger Jahre dann für Blankertz nicht mehr formulierbar (S. 122). Für die 70iger Jahre sei dann die Euphorie eines pädagogischen Aufbruchs verloren gegangen. Die Sinnkrise selbst könne nicht mehr erzählt werden, so die Haltung Blankertz‘ als Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (S. 130).
Rahel Hünig rekonstruiert in ihrem Beitrag die Blankertzsche Version einer Pädagogik der Aufklärung und stellt Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu den Ansätzen von Heinz-Joachim Heydorn (S. 133) und Katharina Rutschky fest. Methodisch arbeitet Rahel Hünig mit der sog. objektiven Hermeneutik, d.h. in den konkreten Textgestalten lassen sich generierte Bedeutungsstrukturen erkennen. Rutschkys Buch ist antibürgerlich und Heydorns Ansatz geht „[ü]ber den Widerspruch von Bildung und Herrschaft“ (S. 135). Heydorn nutze die „Metapher des Kannibalismus“ und folge so der Verdinglichungsthese von Marx, d.h., alle Bereiche des menschlichen Lebens werden vom Sog des Kapitalismus erfasst (S. 137) – auch die >Pädagogik nach Auschwitz< folge diesem Muster (vgl. Rahel Hünig, 2019: „Erziehung nach Auschwitz“ in schulpädagogischer Sicht: Sabine Andresen et al. [Hg.] (2019): Erziehung nach Auschwitz bis heute. Aufklärungsanspruch und Gesellschaftsanalyse, Frankfurt a.M., S. 407-424). Bei Rutschky werde, so Rahel Hünig, Erziehung, letztlich auch Pädagogik, „als angstgeschriebener, aussichtsloser >Kampf< gedeutet“ (S. 139). Blankertz‘ Ansatz wird von Rahel Hünig letztlich als Vermittlung der Aufklärung charakterisiert (S. 141). Hierbei stehe ‚individuelle Entfaltung‘ des Lernenden in Spannung zur ökonomischen Nützlichkeit, dem das Bildungswesen unterworfen sei (S. 141). Der Maßstab für Mündigkeit sei teleologisch gesetzt, auch im Hinblick auf die Geschichte der Pädagogik, die von sich aus gesellschaftliche Änderungen einfordere: „Insofern zielt die Geschichte der Pädagogik auf Rekonstruktion am „Prozeß der Emanzipation“ – um, durch vermittelnde Arbeit an der analytischen wie praktischen Abschaffung der Hindernisse dessen Realisierung, die Geschichte für kommende Generationen offen halten zu können“ (S. 146).
Teil 3
Julia Kurig behauptet, Blankertz beginne sein Lehrbuch mit der Aufklärung und blende zugleich die davor liegenden humanistischen Traditionen aus; diese bildeten allenfalls eine dunkle Folie zur Aufklärung (S. 149). Die humanistische Tradition werde erst wieder im sogenannten Neuhumanismus sichtbar (S. 150). Die Autorin plädiert vehement dafür, sich intensiv mit dem Renaissance-Humanismus auseinanderzusetzen, d.h. sich sowohl mit seiner Entstehenszeit im 14./15./16. Jahrhundert zu befassen als auch mit seiner Rezeption in den nachfolgenden Jahrhunderten (S. 151). Der Renaissance-Humanismus sei als Antwort auf die Krisen des Spätmittelalters zu verstehen und auch als Antwort auf die damit verbundenen Erschließungen des Welt- und Selbstverständnisses des Menschen. Auch dass der Mensch entwicklungsoffen und auf Bildung angewiesen sei, stelle humanistisches Bildungsgut dar (S. 153), das so die scholastische Anthropologie überwand (S. 153). Moralische, emotionale und ästhetische Verhaltensorientierungen gehören ebenfalls zu den zentralen Anliegen des Humanismus: „Humanistische und realistische Disziplinen standen vor der modernen Differenzierung in Geistes- und Naturwissenschaften nicht im Gegensatz zueinander …“ (S. 156). Der humanistische Sprachgebrauch war anwendungsorientiert und kulturfördernd (S. 158); auch die moderne Tradition des Neuhumanismus war durch den Renaissance-Humanismus vorbereitet (S. 163), was Folgendes bedeutet: „Die bildungshistorische Bedeutsamkeit der humanistischen Tradition ist in Blankertz Darstellung nur unzureichend erfasst“ (S. 164).
Michael Rocher betont, dass „Die Geschichte der Pädagogik“ ein bildungshistorisches Überblickwerk darstelle (S. 171) und schließt sich mit dieser Sicht Juliane Jacobi an, die schon 2007 bemängelte, dass in den Überblickswerken der Pädagogik die christlichen Bildungstraditionen ausgeblendet, stattdessen Johann Heinrich Pestalozzi und Jean-Jacques Rousseau fokussiert seien, bzw. sich auf den Typus Aufklärung im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert beschränke (S. 173). Das Zeitalter der Aufklärung erscheine massiv reduziert (S. 173). Bei Blankertz jedoch sei der Begriff Aufklärung vielschichtiger angelegt (S. 174), aber es bleibe „offen, ob ein Aufklärungsbegriff nicht auch epochenunabhängig bleiben kann“ (S. 175). Aufklärung sei nach Blankertz folgendermaßen bestimmt:
- „1. Erziehung liegt in der Hand des Menschen und kann zum Gegenstand einer eigenen Reflexion gemacht werden.“ (S. 175)
- 2. Erziehung (sei) „Erziehung in das wirkliche Leben.“ (S. 176)
- „3. Es gebe eine Methode der richtigen Erziehung.“ (S. 176)
- 4. Die Annahme gilt: „Das Kind als Kind zu gehen.“ (S. 176)
- „5. Erziehungsbedürftigkeit begründet Forderung nach allgemeiner Schulpflicht.“ (S. 176)
- „6. Die Schule löst sich aus der Bevormundung der Kirche.“ (S. 176)
Blankertz nimmt als roten Faden die Standes- und Berufserziehung oder allgemein das ökonomische Element von Pädagogik (S. 177). Trotzdem müsse, so Michael Rocher, das Aufklärungsverständnis von Blankertz problematisiert werden (S. 181), weil z.B. Christentum und Aufklärung schwer zueinanderfänden (S. 182). Der Aufklärungsbegriff scheine bei Blankertz uneindeutig (S. 182).
Tim Zumhof fokussiert in seinem Beitrag die Rousseau-Interpretation von Herwig Blankertz (S. 187); in Rousseau sieht Blankertz den Beginn der neuzeitlichen Pädagogik (S. 188). Zumhof hält demgegenüber fest, dass die modernen und emanzipativen Elemente Rousseauscher Pädagogik durchaus auf Vorstellungen antiker Lebensführung zurückgehen (S. 188). Blankertz hat in seinen Rousseau-Seminaren wahrscheinlich eine Reclam-Ausgabe (Martin Rang) genutzt (S. 191), Blankertz weiche jedoch von der Rousseau-Interpretation Martin Rangs ab (S. 192) und betone als pädagogisches Universalprinzip die „Einheit und Identität der Vernunft“ (S. 193), die Rousseau auf pädagogisches Denken übertragen habe (S. 193). Rousseau stehe für das „Eigenrecht des Kindes“ und Rousseau sei der „Urheber dieses pädagogischen Eigenständigkeitsgedankens“ (S. 195), der letztlich normativ sich als „Anspruch auf Mündigkeit“ entwickelt habe (S. 197), was dann später als „Anerkennungsdialektik“ wirksam werde (S. 201): „Erst mit der Freilegung der Eigenstruktur der Erziehung könne in engerem Sinn überhaupt erst von Pädagogik als einer eigenständigen Reflexionsform gesprochen werden, die Erziehung nicht bloß als instrumentelle Erziehungsgehilfin gesellschaftlicher Institutionen versteht“ (S. 203).
Ingrid Lohmann kritisiert Blankertz‘ Interpretation des Modells von Humboldt (S. 209), d.h. seiner Interpretation des Neuhumanismus und der preußischen Gymnasialreform (S. 211). Aber die preußische Gymnasialreform vernachlässigte keineswegs, so Lohmann, naturwissenschaftliche Bildung (S. 212), sondern verankerte sie fest im Curriculum des Gymnasiums. Die raschen Wissenschaftsfortschritte erschwerten jedoch die Auswahl und Stufenfolge im konkreten Unterricht (S. 215), auch die Heterogenität der Bildungsinteressen nahm erheblich zu: „Die Verknüpfung der „Erfahrungskenntnisse“ mit Sprach- oder Mathematikunterricht diente Humboldt mithin dazu, sie im individuellen Bildungsprozess für „Verstand“ und „Einsicht“ zugänglich und fruchtbar zu machen und auf diese Weise als Bestandteil legitimen schulischen Wissens grundsätzlich sicherzustellen …“ (S. 215). Das Dilemma war: nützliches Wissen für alle bereitzustellen, aber nicht jedes nützliche Wissen war für jeden nützlich (S. 216).
In Sebastian Engelmanns Aufsatz wird die „Realisierung menschlicher Mündigkeit“ in Blankertz‘ Lehrbuch hervorgehoben (S. 227). Was in der DDR jedoch als „kommunistische Pädagogik“ mit Bezug auf Rosa Luxemburg und Karl Marx markiert wurde, war für Herwig Blankertz nicht von Bedeutung (S. 228). Blankertz fokussierte demgegenüber Modelle des demokratischen Sozialismus (S. 229) bzw. reformpädagogische Modelle (S. 229), die aber im kommunistischen Lager durch zum Beispiel Edwin Hoernle Kritik erfuhren (S. 230). Deutlich ist jedoch, dass Blankertz die Pädagog:innen des „Klassenkampfs“ ausklammerte.
Teil 4
Der Aufsatz „Geschichte ohne Körper“ von Sylvia Wehren (S. 243) zielt auf den klassischen Leib-Seele-Dualismus bzw. auf die Dimension der Leiblichkeit/Körperlichkeit in Blankertz‘ Lehrbuch. Ihrer Meinung nach werde Erziehung bei Blankertz entkörperlicht. Körperpädagogik sei eine Leerstelle (S. 245): „Denn Erziehung wird damit auf die Hervorbringung des rationalen und vernünftigen Menschen ausgerichtet, ein Umstand, der Körperlichkeit marginalisiert“ (S. 247). Und als Spitze gegen Blankertz: „Körperlichkeit kann mit dieser Theoretisierung von Erziehung nur in den pädagogischen Dienst von Geisteskraft gestellt werden, als Mittel zum Zweck von Mündigkeit“ (S. 248). Entkörperlichung ordne sich einer kapitalistischen Entfremdungssituation zu (S. 251).
Selma Haupt fokussiert in ihrem Beitrag das, was in der Blankertzschen ausgeschlossen wird (S. 259). Selma Haupt bezieht sich auf die von Blankertz angeführten radikalen Schulkritiker und Antipädagogen (S. 259), der aber gegen Schulkritik die Aufklärungspädagogik setze, weil das „wirkliche Leben“ Pädagogik fordere und der Mensch auch beziehungsbedürftig sei (S. 260). „Mut zur Erziehung“ sei keine These von Blankertz (S. 262). Selma Haupt diskutiert dann in ihrem Beitrag Ivan Illich und Wolfgang Fischer, die beide Erziehung radikal infrage gestellt haben (S. 266). Für die Antipädagogik sei die amerikanische Kinderrechtsbewegung Bezugspunkt (S. 267). Mit Oelkers und Lehmann sieht Selma Haupt in dieser Bewegung eine Reaktion auf enttäuschende Bildungsreformen, die „Erziehung“ als „Allheilmittel“ angesehen hätten (S. 268).
Diskussion
Herwig Blankertz‘ Lehrbuch „Die Geschichte der Pädagogik“ ist auch nach über 40 Jahren des erstmaligen Erscheinens immer noch lesenswert und führt zuweilen sehr unterhaltsam in die pädagogische Historiografie ein. Von den Autoren und Autorinnen des Buches wird der Titel von Blankertz‘ Buch „Die Geschichte der Pädagogik“ zu „einer“ Geschichte der Pädagogik reduziert, weil Blankertz‘ Einschätzung sowohl zeitbedingt als auch vollmundig anmutet. Blankertz selbst geht von einem spezifischen Aufklärungsbegriff aus, der von den Beiträger:innen des Buches zum Teil sehr kritisch zu Recht beäugt wird und der so heute wohl auch nicht mehr aufrechtzuerhalten sein dürfte. Kritisiert wird u.a. auch, dass Blankertz nicht die ganze Epoche der Aufklärung in den Blick genommen hat, sondern sich zu sehr auf Jean-Jacques Rousseau fokussierte. Auch komme kaum in den Blick, dass auch Rousseaus pädagogischer Ansatz nicht einfach vom Himmel gefallen ist, sondern seinerseits selbst auf pädagogischer Tradition beruht, zum Teil aus dem reformierten Protestantismus stammt und auf die Genfer Reformation zurückweist. Auch die Tradition des antiken und des Renaissance-Humanismus, wie Julia Kurig treffend festgestellt hat, werde nicht annähernd analysiert. Auch die pädagogischen Leistungen in der Verbindung zwischen Reformation (z.B. Philipp Melanchthon und Humanismus) gehen fast vollständig verloren, sodass Konzepte wie die von Jan Amos Comenius, Hermann Francke, später Immanuel Kant, Friedrich Schleiermacher, Johann Friedrich Herbart wenig Beachtung finden. Spannend sind jedoch die Leerstellen in Blankertz‘ Geschichte der Pädagogik, wie z.B. die sozialistische, anarchistische Pädagogik oder auch die Reformpädagogik in den Anfängen des 20. Jahrhunderts. Festzuhalten sind auf jeden Fall die Grundprinzipien der Blankertzschen Konzeption: die aufklärerische Erziehung zur Mündigkeit und des Selbstvertrauens, die politische Wahrnehmung gesellschaftlicher Bedingungen und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und die Selbstbestimmung des Individuums. Pädagogik habe auch dem Erziehungsbedürfnis des Individuums zu genügen. Kritisch anzumerken ist aber auch die Verschiebung des Körperlichen zugunsten des Kognitiven. Gleichzeitig bietet aber auch die Pädagogik Blankertz‘ die Möglichkeiten, diesen Missstand zu bedenken und dem Mangel abzuhelfen.
Fazit
Die Autorinnen und Autoren dieses Diskussionsbandes bieten eine große Vielfalt, mit dem Buch von Herwig Blankertz kritisch und zugleich produktiv umzugehen, und die einzelnen Beiträge sind gut lesbar und klar strukturiert. Das Buch ist unbedingt empfehlenswert.
Rezension von
Prof. Dr. Wilhelm Schwendemann
Professor für Evangelische Theologie, Schulpädagogik und Religionsdidaktik an der Evangelischen Hochschule Freiburg im Fachbereich II (Theologische Bildungs- und Diakoniewissenschaft)
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Es gibt 68 Rezensionen von Wilhelm Schwendemann.
Zitiervorschlag
Wilhelm Schwendemann. Rezension vom 07.09.2023 zu:
Tim Zumhof, Andreas Oberdorf (Hrsg.): Herwig Blankertz und die pädagogische Historiografie. Waxmann Verlag
(Münster, New York) 2022.
ISBN 978-3-8309-4627-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30242.php, Datum des Zugriffs 30.09.2023.
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