Joachim Merchel, Michaela Berghaus et al.: Profil und Profilentwicklung im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD)
Rezensiert von Wolfgang Schneider, 09.08.2023

Joachim Merchel, Michaela Berghaus, Adam Khalaf: Profil und Profilentwicklung im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD). Ernst Reinhardt Verlag (München) 2023. 306 Seiten. ISBN 978-3-497-03180-1. D: 49,90 EUR, A: 51,30 EUR.
Thema
Immer, wenn über Kinderschutz und über Hilfen in schwierigen familiären Erziehungssituationen gesprochen wird, ist der Allgemeine Soziale Dienst (ASD) gefragt. Dieser arbeitet in jeder Kommune ein wenig anders. Wie genau? Das untersuchte ein bundesweites Forschungsprojekt der FH Münster und der Bundesarbeitsgemeinschaft ASD e.V. Wie werden Team-Absprachen organisiert? Was braucht wieviel Arbeitszeit? Wie läuft die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen? Das Buch bietet erhellende Erkenntnisse über die Funktion regionaler ASDs. Fachkräfte können „ihren“ ASD als Organisation und ihre persönliche Rolle darin besser verstehen. Ein vorgeschlagener Profilrahmen definiert Selbst- und Aufgabenverständnis sowie professionelles Handeln und bietet ein Grundgerüst für die strukturierte Selbstbewertung und Weiterentwicklung im ASD. Diese Veröffentlichung richtet sich an Fach- und Leitungskräfte, Wissenschaftler:innen, Studierende sowie Fachverbände und Institutionen aus dem Bereich ASD und Soziale Arbeit.
Autor:in oder Herausgeber:in
Prof. i. R. Dr. Joachim Merchel war lange Jahre an der FH Münster im Bereich Organisation und Management in der Sozialen Arbeit tätig und hat zahlreiche Bücher veröffentlicht. Prof.‘in Dr. Michaela Berghaus lehrt an der FH Münster im Bereich Kinder- und Jugendhilfe. Vorher war sie mehrere Jahre selbst im ASD tätig. Sie hat eine bemerkenswerte Dissertation (bei Beltz Juventa) veröffentlicht, in der sie das Erleben von Eltern von Kindeswohlverfahren untersucht hat. Adam Khalaf ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Sozialwesen an der FH Münster.
Entstehungshintergrund
Das Forschungs- und Diskursprojekt „Profil und Profilentwicklung im ASD“ wurde von September 2019 bis Februar 2022 mit finanzieller Förderung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und mit Unterstützung der kommunalen Spitzenverbände (Empfehlung an die kommunalen Jugendämter bzw. ASD zur Beteiligung an der empirischen Erhebung) von der Fachhochschule Münster in Kooperation mit der Bundesarbeitsgemeinschaft ASD durchgeführt. Im Mittelpunkt des Projekts standen zwei generelle Ziele:
- Es sollte im Projekt ein Profilrahmen erarbeitet werden: als ein fachpolitischer Impuls zur Profilbestimmung des ASD und als ein zur Selbstreflexion aufforderndes Angebot an die regionalen ASD. Nur wenn ein Profilrahmen von den ASD aufgenommen und in internen Selbstverständnis- und Selbstbewertungsdiskursen aufgenommen und verarbeitet wird, wird mit ihm eine Wirkung zur Profilierung des ASD als Organisationstypus erzeugt werden können.
- Zum anderen konnte und kann eine solche Profildebatte nur stattfinden, wenn differenzierte empirische Erkenntnisse erzeugt werden zur Realität des ASD: zu seinen elementaren Organisationsstrukturen, zur Aufgabenkomplexität, zu den verfügbaren Ressourcen und zu deren Bewertung, zu den fachlichen Orientierungen und zu den Verfahrensweisen im ASD. Es soll empirisch besser erkennbar werden, was sich hinter dem einheitlichkeitsuggerierenden Etikett an realer Ähnlichkeit und realen Differenzen verbirgt.
Inhalt
Die entscheidende Frage, die mit den Ergebnissen der Datenerhebung beantwortet werden soll, lautet, ob der ASD ein „Arbeitsbereich mit einem ausreichend konturierten Profil“ (S. 212) ist. Die Antwort darauf ist nach der Interpretation der Daten nicht einheitlich, wie sich an der beeindruckenden – und deshalb hier vollends zitierten – Passage zeigt: „Einerseits bilden sich deutliche Profiltendenzen ab: in der Zentrierung auf Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe, in der Komplexität der Aufgaben und in Tendenzen zur Spezialisierung als Muster der Komplexitätsbewältigung, in Tendenzen zur Verfahrensstandardisierung, in der weiterhin vorhandenen Einzelfallorientierung sowie in der Teamorientierung bei den Arbeitsweisen. Ferner sind eine relativ hohe Zufriedenheit mit der Ressourcenausstattung und ein Empfinden von Akzeptanz durch das organisationale Umfeld bemerkenswert. Andererseits sind jedoch auch markante Unterschiede zwischen den ASD zu konstatieren, die im Rahmen weiterer Profilentwicklungen und Profilstabilisierungen zu erörtern sind: die mangelnde Transparenz bei fallbezogenen Entscheidungsprozessen, die nicht ausreichend praktizierte Koppelung von Entscheidung und Verantwortung, die Notwendigkeit einer stärkeren Profilierung von,Team‘ als fachlichem Produktivitätsfaktor sowie die notwendige Weiterentwicklung von ASD-übergreifenden jugendamtsinternen Kooperationsmodalitäten. Hinzu kommen zukunftsgerichtete Anforderungen im Personalbereich, beim Umgang mit strukturbedingten Spannungsfeldern und bei der Bewältigung der Inklusionsanforderungen. Der ASD bleibt ein,spannendes Handlungsfeld‘: auf dem Weg einer verbesserten Profilgewinnung und Anerkennung, aber auch mit einigen elementaren,Baustellen‘, die im Rahmen weiterer Prozesse der Profilentwicklung zu bearbeiten sind“ (S. 212).
Aber werfen wir einen Blick darauf, wie dieses Ergebnis eigentlich entstanden ist. Neben der quantitativen und der qualitativen Erhebung bildeten Diskursforen den dritten methodischen Bestandteil des Projekts. In den Diskursforen wurden besonders profilrelevante Themen für die Strukturen und Arbeitsweisen des ASD methodisch strukturiert erörtert, wobei jeweils thematisch relevante Ergebnisse aus den empirischen Erhebungen eingespeist und in den Debatten verarbeitet wurden. Es fanden insgesamt sieben thematisch spezifizierte Diskursforen statt, zu denen jeweils rund 20 Personen (Wissenschaftler:innen, ASD-Leitungspersonen, Fachkräfte aus ASD) gezielt eingeladen wurden und teilnahmen; darunter auch jeweils Mitglieder der Projektgruppe. In den Diskursforen wurden besonders profilrelevante Themen für die Strukturen und Arbeitsweisen des ASD methodisch strukturiert erörtert, wobei jeweils thematisch relevante Ergebnisse aus den empirischen Erhebungen eingespeist und in den Debatten verarbeitet wurden. Die – durch empirische Erkenntnisse angereicherten – Diskursforen eröffneten fachliche und fachpolitische Perspektiven, die in die Erarbeitung eines „Profilrahmens“ einmündeten. Die Themen der sieben Diskursforen, die in der begleitenden Projektgruppe diskutiert und festgelegt wurden, waren:
- Das Selbstbild oder die Selbstbilder des ASD: Ähnlichkeiten, Schnittpunkte, Differenzen
- Konzepte und Realisierungsformen für „Sozialraumorientierung im ASD“
- Das „Bild von Eltern“ zwischen fachlicher Norm und realer Haltung im Alltag: Umgang mit Widersprüchen und deren Spiegelung im ASD-Profil 34 Forschungskonzept und methodisches Vorgehen
- Digitalisierung im ASD: Realität und Gestaltungsperspektiven
- Inklusion im reformierten SGB VIII – Auftrag und Anforderungen an den ASD
- Professionalität im ASD: Was macht „Fachlichkeit“ im ASD-Handeln aus?
- Der ASD im fachlichen und fachpolitischen Profil: Erörterungen zum Entwurf eines ASD-Profilrahmens
An alle 576 ASD wurde zu Händen der Leitungskräfte ein qualitativer Fragebogen verschickt, wobei die Rücklaufquote 47,2 Prozent – das entspricht 272 Fragebögen – betrug. In einem zweiten Schritt wurde über die Leitungen ein Fragebogen für die Fachkräfte in den ASD-Teams verteilt. Hier gingen 1944 Antwortbögen ein, von denen nur die verwertet wurden, die mindestens zu einem Drittel ausgefüllt waren. So gingen dann letztlich 1429 Bögen in die Auswertung. Wenn man als Datengrundlage die Zahlen der 2018 im ASD beschäftigten Fachkräfte (knapp über 17.000) nimmt, ergibt sich eine Quote von rund 8,4 Prozent, die sich an der Datenerhebung beteiligt haben.
Ein spannender Aspekt, der untersucht wurde, ist die Fallzuordnung. Wie erhalten die Fachkräfte eigentlich Zugang zu ihren Familien? Hier zeigt sich wie auch in vielen anderen Teilbereichen der Daten auch, dass es ein sehr heterogenes Feld ist. Die Varianten sind zahlreich. Deutlich ergibt sich (in über 51 Prozent der Fälle), dass die Zuordnung nach Regionen (zum Beispiel Stadtteilen) erfolgt. Mit weitem Abstand in 10 Prozent der Fälle ist eine Mischung aus Region und Fallzahl für die Verteilung verantwortlich. Es folgen nicht weniger als 15 weitere Kriterien, die angewandt werden, um Fälle zu verteilen. Interessant dabei: Nur in knapp zwei Prozent der befragten ASD spielt die bereits vorhandene Fallzahl eine Rolle, in rund vier Prozent ist es eine Mischung aus Fallzahl und Eignung der Fachkraft. Überhaupt scheint Eignung (=Erfahrung?) in rund 20 Prozent eine Teilrolle bei der Vergabe von Zuständigkeiten zu spielen.
Diskussion
Das Buch beeindruckt durch seine Datenfülle, die schier umfassend zu sein scheint, und ein sehr gutes Zusatzmaterial, das Online zur Verfügung steht. Es ist neben dem hohen fachlichen Niveau der Autor:in ein großes Plus, dass Forschung und Veröffentlichung kontinuierlich von einer Projektgruppe begleitet wurde, die aus ASD-Fachkräften und Wissenschaftler:innen bestand. Das sorgt dafür, dass es sich nicht bloß um einen Berg voller Forschungsergebnisse handelt, die hier präsentiert werden, sondern um das „wahre Leben“ im ASD, das von erhobenen Daten mit einer großen Vielfalt beschrieben wird. Das trägt letztlich dazu bei, dass im Fazit die entscheidende Frage beantwortet werden kann: Hat der ASD ein ausreichend konturiertes Profil? Es bleibt zu hoffen, dass die kommunalen Verwaltungen, denen die ASD ja nun einmal unterstehen, sich offen und flexibel zeigen, für ihren individuellen Verantwortungsbereich aus den bereit gestellten Forschungsergebnissen die richtigen Schlüsse zu ziehen und sich im Zweifel auf den Weg der Profilschärfung begeben.
Fazit
Mit jeder Seite merkt man diesem Buch an, dass dort Expert:innen an einem Thema geforscht haben, von dem sie viel Ahnung haben. Die Dichte der Zahlen und Fakten ist beeindruckend und zeigt ein deutliches Bild von der Arbeit in den Allgemeinen Sozialen Diensten. Einziger Kritikpunkt: Es wäre an der einen oder anderen Stelle schön gewesen, wenn die Grafiken in einer höheren Auflösung gedruckt worden wären, was die Erkennbarkeit an einigen Stellen erheblich gesteigert hätte.
Rezension von
Wolfgang Schneider
Sozialarbeiter
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