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Gabriele Sorgo (Hrsg.): Starke Ordnungen und das schwache Geschlecht

Rezensiert von Prof. Dr. Jana Günther, 26.06.2023

Cover Gabriele Sorgo (Hrsg.): Starke Ordnungen und das schwache Geschlecht ISBN 978-3-7799-6418-6

Gabriele Sorgo (Hrsg.): Starke Ordnungen und das schwache Geschlecht. Herstellung weiblicher Unsichtbarkeit. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. 170 Seiten. ISBN 978-3-7799-6418-6. D: 24,95 EUR, A: 25,60 EUR.

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Thema

Der Unsichtbarkeit oder besser der gesellschaftlichen Unsichtbarmachung von Frauen, deren Arbeit und Leistungen geht diese Herausgabe von Gabriele Sorgo nach. Darüber hinaus machen Autor:innen des Bandes auch eine Negierung und Deklassierung von Weiblichkeit(en) in Gesellschaften aus, die sich zwar im Verlauf der Epochen unterschiedlich ausdrücken, aber in ihrer Persistenz weiterhin tradierten. Die Beiträge befassen sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit diesem Themenspektrum und stellen dabei dezidiert ‚alte Fragen‘ neu, diskutieren aktuelle empirische Befunde und betrachten soziale Ausschließungsprozesse auf einer Folie von Theorie und alltäglichen Praxen.

Herausgeberin

Gabriele Sorgo, PD Dr. phil., Kunsthistorikerin, ist in Lehre und Forschung an der Pädagogischen Hochschule Salzburg in der Geschlechterforschung tätig.

Aufbau

Der Sammelband vereint acht historisch informierte und theoretisch angereicherte Beiträge zum Thema „Herstellung weiblicher Unsichtbarkeit“. Die begrifflich fundierte Einleitung der Herausgeberin verschafft nicht nur einen Überblick über die hier versammelten Beiträge: Vielmehr vermag der einleitende Artikel, die theoretische und empirische Spannbreite des Themas zu entfalten. Die acht Beiträge folgen einer thematischen Logik, die sich quer durch erziehungswissenschaftliche Themengebiete und Handlungsfelder bewegen: Bildung und Sorge; Identität und Produktivität; geschlechtsspezifische Zuweisungen in Schul- und Lehrwerken; Kunst und ‚the male gaze‘; Biographiearbeit sowie Reproduktion asymmetrischer Geschlechterverhältnisse.

Inhalt

Bereits die inhaltlich sehr gehaltvolle Einleitung von Gabriele Sorgo verweist auf die Komplexität des Gegenstandes der Dethematisierung und Unsichtbarmachung ‚weiblicher‘ Leistungen. Dass in der Güter- sowie Wissensproduktion oftmals das ‚männliche‘ Maß galt und teilweise immer noch gilt, ist empirisch aus den unterschiedlichen Feldern bekannt. Die Autorin macht zwar deutlich, dass es während der Corona-Pandemie zu einer kurzen Unterbrechung der „Praxis des Übersehens“ (S. 8) kam, letztendlich hat sich im grundsätzlichen Machtverhältnis nicht viel geändert. Am Ende bleibt Sorgearbeit – als Teil der gesellschaftlichen Reproduktion – aber auch in aktuellen Aufmerksamkeitsräumen bzw. „Luminositäten“ (S. 12) marginalisiert. Diese Ausschließung perpetuiert sich als wirkmächtiges Dispositiv.

Anschließend geht Angela Häußler überzeugend und historisch gehaltvoll der Frage nach, inwiefern Care-Arbeit als Lebensführungskompetenz und Teil der Allgemeinbildung für alle Schüler:innen in der BRD aus den Schulplänen gestrichen und (wieder) in die Sphäre des Privaten verlagert wurde. Die Persistenz des normativen Leitbildes der bürgerlichen und patriarchal formierten Kleinfamilie (S. 26) wirkte dementsprechend vom 19. Jahrhundert bis in die 1970er Jahre. Die „Trennung der gesellschaftlichen Arbeitsbereiche“ (S. 25) und die dichotome Zuweisung der Privatheit an Frauen und der Öffentlichkeit an Männer spiegele sich bis heute im Bildungssystem auf problematische Art und Weise wider. Care-Arbeit bleibt nicht nur inhaltlich und strukturell verschleiert, im Schul-Alltag wird sie, wenn überhaupt, „nur negativ sichtbar“ (S. 32).

Auf ähnliche Prozesse macht die Beiträgerin Maria A. Wolf hinsichtlich des Themas Mutterschaft aufmerksam. Als theoretischer Begriffsapparat dient ihr Pierre Bourdieus Theorie der durch symbolische Kämpfe erzeugten sozialen Ordnung (S. 38). Daran anschließend sei die Vorstellung der Institution Familie und damit verbundene Praxen von (moderner) Elternschaft als doxa zu begreifen und der Wille des Einzelnen, diesen Logiken zu folgen, als illusio (S. 39). Dabei hebt die Beiträgerin im Besonderen die Rolle von Kindern und die widersprüchliche Institutionalisierung von Kindheit hervor. Als „Humankapital“ seien Kinder wesentlich für Staat und Gesellschaft, aber ihre „Versorgung, Erziehung und Bildung“ wird zunehmend privatisiert, d.h. bleibt vornehmlich von den Eltern abhängig. Das öffentliche Interesse am Kind, welches sich vormals durch geeignete Bildungs-, Sozial- und Familienpolitiken ausdrückte, bleibt bestehen, die Verantwortung und Arbeit verlagert sich wieder zunehmend in die Familien. Es sei hervorzuheben, dass Maria A. Wolf explizit auf die unterschiedlichen Umgangsweisen und Lesarten von Mutterschaft verweist, wobei die bürgerliche Vorstellung immer die hegemoniale blieb (S. 46 - 48).

Die feministische Diskussion rund um weibliche Produktivität und deren Naturalisierung, die in den 1970er und 1980er Jahren geführt wurde, zeichnet Katharina Lux in ihrem Artikel nach. Dieser dezidierte Blick in die Perspektiven jener Zeit zeigen aufschlussreiche Anknüpfungspunkte an die heutige Care-Debatte auf. Dabei geht sie insbesondere auf den Begriff der „weiblichen Produktivität“ (S. 72, S. 74ff, S. 81) ein, der unmissverständlich darauf verweist, dass Gesellschaft als Produktionsverhältnis zu verstehen sei. Die später oft als rein ‚differenzfeministisch‘ interpretierten Ansätze verweisen – und das mach die Autorin explizit – nicht nur auf Identität oder Identitätspolitik im heutigen Sinne, sondern auf Formen von vergeschlechtlichter Vergesellschaftung aufgrund kapitalistischer und patriarchaler Verhältnisse.

In ihrem Beitrag knüpft Gabrielle Sorgo an die macht- und diskursanalytische Theoretisierung, die sie bereits in ihrer Einleitung zum Sammelband u.a. mit Rückgriff auf Michel Foucault entfaltet hat, an. Die „kollektiven Tiefenstrukturen des Denkens“ (S. 85), die über Jahrhunderte bestehenden Denkschemata bzw. Episteme, stellen ebenso die Wissensordnung des Geschlechterverhältnisses dar. Diese Wissensordnung wirkt in die Bildungsbereiche hinein, was Sorgo empirisch auf der Grundlage einer Schulbuchanalyse nachweist: Die Aufmerksamkeitsräume bzw. Luminositäten in Physik- und Deutschlehrbüchern sind nach Geschlechterrollen (insbesondere hinsichtlich Care) segregiert. Wenngleich die Autor:innen von Lehrbüchern sich um mehr Geschlechterdiversität bemühen, was Sorgo hervorhebt, verbleiben sie doch überwiegend in stereotypisierenden Darstellungsweisen. Haus- sowie Sorgearbeit wird darüber hinaus kaum – und wenn überhaupt dann in problematischer Weise – dargestellt. (S. 99).

Der ersten deutschen Professorin für Erziehungswissenschaft zu Zeiten der Weimarer Republik Mathilde Vaerting widmet sich die Beiträgerin Andra Bramberger. Der Autorin ist es ein besonderes Anliegen, nicht nur die biografischen Notizen Vaertings zu referieren, sondern auch ihre spezifischen Ansätze zu Bildung und Geschlecht darzustellen und zu reflektieren. Brambergers Ziel ist dabei, das Denken und Wirken von Mathilde Vaerting auch in aktuelle Debatten der Erziehungswissenschaften einzubinden (S. 115). So zeigt die Autorin u.a. auf, dass sich Vaerting bereits früh mit dem ‚forschenden Blick‘ (S. 117, S. 124), also der Herausforderung des subjektiven Blicks der Forschenden, auseinandersetzt und damit eine entscheidende methodologische Frage der qualitativen Forschung schlechthin diskutiert.

Der Umgang mit Unsichtbarkeit in Kunst und Aktivismus steht im Mittelpunkt der Analyse Gerrit Höfferers. In ihrem auf dem kuratorischen Ansatz beruhenden Beitrag geht sie insbesondere der kunstwissenschaftlichen Idee des „Hyperimages“ (S. 131) nach, um Geschlechterwissen über Bilder zu analysieren und ideenreich zu diskutieren. Anschaulich zergliedert die Autorin das entwickelte „Hyperimage weiblicher Bildstrategien“ (Bildmontage der Autorin) und legt auf diese Weise Empowerment und Provokation (S. 143) von und durch Frauen als spezifische Bildstrategie offen.

Theoretisch gehaltvoll und abrundend schließt der Band mit einem Text von Tove Soiland. Aus der Rekonstruktion lacanscher Ideen heraus, entwirft Soiland u.a. einen differenzierteren Blick auf das Verhältnis Geschlecht und Kapitalismus. Aus der Begriffsarbeit und Exegese Lacanschen Denkens heraus, lässt sich lt. der Beiträgerin feststellen, dass erstens ‚der‘ Kapitalismus zwar mit der „sexuellen Differenz“ nichts anfangen kann (S. 163). Er aber zweitens etwas in irgendeiner Weise Patriarchales „unter dem Antlitz“ der Liberalisierung weiterführen muss (S. 164). Hier komme in der post-ödipalen Gesellschaft das Phantasma des mütterlichen Körpers ins Spiel.

Diskussion

Der Sammelband nimmt auf theoretisch wie empirisch vielfältige Art und Weise Stellung zum Geschlechterverhältnis, zu Weiblichkeit(en), Sorgearbeit, Mutterschaft und deren Darstellungen sowie zur De-Thematisierung und Unsichtbarmachung von Frauen und deren Handeln. Die Beiträge stellen dabei nicht nur machttheoretische Fragen nach Repräsentanz und Sichtbarkeit, sie erörtern auch den state-of-the-art neoliberal und kapitalistisch orientierter westlicher Gesellschaften. Die Autor:innen nehmen überwiegend und inhaltlich sinnvoll Bezug zu anderen Ungleichheitskategorien und Formen sozialer Ausschließung (u.a. Klassismus).

Fazit

Wenngleich der Bezugsrahmen ein erziehungswissenschaftlicher ist, sei dieser Band dezidiert – im Sinne einer transdisziplinär orientierten Geschlechterforschung – auch Forscher:innen anderer Disziplinen zu empfehlen. Die theoretischen Perspektivierungen auf der einen Seite sowie die empirischen sowie historischen Befunde auf der anderen Seite liefern interessante Befunde für beispielsweise politikwissenschaftliche und soziologische Forschungsarbeiten. Insgesamt sind die Beiträge anspruchs- sowie gehaltvoll und insbesondere innerhalb des Studiums für die Lehre in Masterstudiengängen geeignet.

Rezension von
Prof. Dr. Jana Günther
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Zitiervorschlag
Jana Günther. Rezension vom 26.06.2023 zu: Gabriele Sorgo (Hrsg.): Starke Ordnungen und das schwache Geschlecht. Herstellung weiblicher Unsichtbarkeit. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. ISBN 978-3-7799-6418-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30245.php, Datum des Zugriffs 03.12.2023.


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