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Harold James: Schockmomente

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 03.01.2023

Cover Harold James: Schockmomente ISBN 978-3-451-39325-9

Harold James: Schockmomente. Eine Weltgeschichte von Inflation und Globalisierung 1850 bis heute. Verlag Herder GmbH (Freiburg, Basel, Wien) 2022. 544 Seiten. ISBN 978-3-451-39325-9. D: 35,00 EUR, A: 36,00 EUR, CH: 47,90 sFr.

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Globale Welt

Die interdependente, entgrenzende Entwicklung der Welt bewirkt für die Menschheit zwei konträre Situationen: Während einerseits Globalisierung die Menschen zusammen bringt, die Unterschiede und Vielfalten augenscheinlich macht und dazu beitragen kann, dass bestehende Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten sich verringern, bewirkt sie andererseits, dass die vernetzte Welt ins Wanken gerät, durch Klima-, Wirtschafts-, politische Krisen und Pandemien. Anstatt zusammen zu wachsen und auf Friedens-, Glücks- und Humanmomente zu setzen, entstehen ego- und ethnozentristische Entwicklungen. Die bereits Wohlhabenden, Besitzenden und Machhabenden werden reicher und mächtiger; die Habenichtse ärmer und ohnmächtiger.

Entstehungshintergrund und Autor

Der Blick in die vergangenen, menschlichen Entwicklungen der Menschheit ist getrübt: Es ist die Janusköpfigkeit von Gut und Böse, von Hölle und Paradies, von Modernisierung und Fortschritt und von Zerstörung und Krieg, die aus Hoffnungen Verzweiflung macht. Der britische Wirtschafts-, Politikwissenschaftler und Historiker von der Princeton-University, Harold James, ist aufgrund seiner persönlichen, familiären Herkunft prädestiniert (seine Mutter stammt aus Norddeutschland), sich wissenschaftlich mit der neueren deutschen und europäischen Geschichte zu beschäftigen. Für seine Forschungsarbeiten erhielt er zahlreiche Preise und Ehrungen. Mit seiner umfangreichen und detaillierten Weltgeschichte wendet er sich Fragen zu, ob, warum und wie die globale, ökonomische Entwicklung positive und negative Verläufe genommen hat und nimmt: „Nicht jede Krise zerstört oder revidiert Globalisierung“.

Aufbau und Inhalt

Neben der Einleitung, in der James die Interdependenzen und Äquivalenzen des modernen Wirtschaftswachstums rekurriert, auf die innovativen und systemrelevanten Projekte verweist, auf Zusammenhänge und Unterschiede aufmerksam macht, die Marktmechanismen verdeutlicht und Perspektiven aufzeigt, gliedert der Autor die von Andreas G. Förster und Sigrid Schmid ins Deutsche übertragene Studie in sieben Kapitel.

Im ersten Kapitel setzt er sich auseinander mit der „großen Hungersnot und dem großen Aufstand“. Durch die in der neueren Zeit, seit den 1840er Jahren eingetretenen Versorgungsengpässe entstanden in Europa und Übersee einerseits Hungerkrisen, Ausbeutung und Not, andererseits vollzogen sich durch Industrialisierung und Globalisierung kapitalistische und spekulative Entwicklungen.

Im zweiten Kapitel thematisiert James „Krach an den Grenzen“, indem er die Marxschen und Leninschen Widerworte und Kontroversen verdeutlicht, und die „Große Depression“ von 1870 in den Widersprüchen erläutert. Eisenbahn und Warenverkehr verwiesen auf Fortschritt und Mentalitäten, die sich ausdrückten in: „The Way We LifeNow“, die im deutschen Duktus als „Sturmflut“ übersetzt wurde; sowohl als Können und Herrschaft über Welt, als auch als Warnungen vor einer übertriebenen Ökonomik. Die Nomenklatur setzte William Stanley Jevons (1835 – 1882) mit der „Theorie der politischen Ökonomie“.

Es sind die heute beinahe modern und aktuell anmutenden ökonomischen Analysen, die vor fast einem halben Jahrhundert diskutiert wurden: „ Unsere Bedürfnisse sind vielfältig. Schon kurzes Nachdenken lässt erkennen, dass wir im Allgemeinen nur ein Weniges von jederart Ware möchten und es vorziehen, ein Stück von dieser und ein Stück von jener Ware unser Eigen zu nennen“.

Im dritten Kapitel widmet sich der Autor den Folgen und Entwicklungen, wie sie der „Erste Weltkrieg und die Große Inflation“ mit sich brachte, mit Mangelwirtschaft, Kriegskosten und Hyperinflation. Woher kann die Rettung kommen? Welche Theorie und Praxis können aus der Katastrophe führen? Der Ökonom Karl Helfferich meinte, einen Ausweg zu kennen: Geldpolitik als nationales Interesse. Sein Widerstand gegen die Weimarer Republik ebnete schließlich den Weg hin zu nationalistischer, faschistischer, egozentristischer Wirtschaftspolitik.

Im vierten Kapitel geht es um die Entstehung, den Verlauf und die Wirkungen der „Weltwirtschaftskrise“. Die Melange der Ausgelassenheit und Euphorie der (europäischen) „wilden Zwanziger“ und die katastrophalen Auswirkungen von Firmenzusammenbrüchen, Börsencrash und Arbeitslosigkeit beförderten und begünstigten in Europa die faschistischen und nationalistischen Entwicklungen. Das „Friedensdiktat“, das die Siegermächte des Ersten Weltkriegs gegen den Verlierer Deutschland erhoben, fand nicht bei allen Ökonomen Zustimmung. Der britische Wirtschaftswissenschaftler John Maynard Keynes (1883 – 1946) votierte mit seinem Traktat „Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages“ (1919) gegen die Pressionen, konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Als Liberaler trat er gegen Zölle und Konkurrenz ein. Eine internationale Harmonie könne erreicht werden, „wenn die Länder nicht mehr um den Handel konkurrierten“. Anders der österreichische Nationalökonom Joseph Schumpeter (1883 – 1950) mit seiner Kritik am Kapitalismus. Die bei der Internationalen Währungskonferenz der Vereinten Nationen in Bretton Woods (1944) beschlossene Einrichtung der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF) bewirkten zwar eine (un-)verbindliche, globale Finanzordnung,: „Bretton Woods war ein Produkt des Bewusstseins der globalen Verbundenheit und gegenseitiger Abhängigkeit, aber es zielte nicht darauf ab, eine Welt der Globalisierung wiederherzustellen“.

Das fünfte Kapitel thematisiert „die große Inflation der 1970er Jahre“. Sie entstand in den USA als „Great Inflation“ und breitete sich weltweit aus. Harold James sieht die Ursachen und Folgen im „Überfluss und Übermut“. Die Überschätzung eines „business as usual“ und „anything goes“ führten zu Angebotsbeschränkung und Angebotsschock, aber auch zu einem Perspektivenwechsel, der von fortschrittlichen Denkern (Friedman u.a.) als Alternative zum neoliberalen Denken eingeleitet wurde.

Im sechsten Kapitel ist es die „große Rezession von 2008“, die als „Weltfinanzkrise“ bezeichnet wird. Es sind die kapital- und ökonomisch veränderten Entwicklungen, wie sie mit dem machtvollen Auftritt von Global Playern auf dem Weltmarkt, wie China, Indien, Russland, sich vollziehen, die die traditionellen, angestammten westlichen Mächte angreifen. Die Dilemmata, Verunsicherungen und Konfrontationen wurden beim Washingtoner G20-Gipfel im November 2008 überdeutlich. Die Entwicklung eines neuen „Wirtschaftsnationalismus“ war nicht aufzuhalten – und bestimmt bis heute den globalen Dialog. Die „Distributionslogik“, die sich ökonomisch, ökologisch und menschenrechtlich mit dem Slogan ausdrückt: Global denken, lokal handeln, verdeutlicht die lokal- und globalpolitischen, hegemonialen Veränderungsprozesse.

Mit dem „großen Lockdown: 2020 – 2021“ setzt sich der Autor im siebten Kapitel mit dem Zusammenhang von Covid und Globalisierung auseinander. Es sind die Einflüsse von Krankheiten und Pandemien auf die Ökonomie, wie auch die konkurrierenden, wissenschaftlichen Innovationen, die zu einem „Impfstoffnationalismus“ führen, die lokalen und globalen Ungleichheiten vergrößern, die Ungerechtigkeiten verstärken und das Sicherheits-, Macht- und Kontrollstreben erhöhen.

Diskussion

Es ist das Bedürfnisbewusstsein, wie dies der US-amerikanische Psychologe Abraham H. Maslow (1908 – 1970) mit der „Bedürfnispyramide“ veranschaulicht und in der Theorie der Humanistischen Psychologie verdeutlicht hat (Abraham H. Maslow, Jeder Mensch ist ein Mystiker, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/16223.php). Das Marktgeschehen wird von Angebot und Nachfrage bestimmt. Humanes ökonomisches Denken und Handeln freilich darf sich nicht als Egoismus und Gier darstellen (Paul Collier/John Kay, Das Ende der Gier. Wie der Individualismus unsere Gesellschaft zerreißt – und warum die Politik wieder dem Zusammenhalt dienen muss, 2021, www.socialnet.de/rezensionen/28719.php), sondern soll bestimmt sein von einer verantwortungsbewussten, sozialen Bildung (Reinhold Hedtke, Konzepte ökonomischer Bildung, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/11329.php). Die menschliche Geschichte, das ist eine Tautologie, ist bestimmt von Zufälligkeiten (Jörg Link, Schreckmomente der Menschheit. Wie der Zufall Geschichte schreibt, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/22145.php) und Machenschaften. In den Zeitenwenden sind Krisen und Misswirtschaft immer auch Anzeiger und Aufforderungen zum Paradigmenwechsel. Er zeigt sich in Systemveränderungen wie z.B. als „New Green Deal“ (Ann Pettifor, Green New Deal. Warum wir können, was wir tun müssen, 2021, www.socialnet.de/rezensionen/27787.php): „Krisen treiben eine stärkere und technisch transformierte Globalisierung voran“. Sie wird nicht möglich durch Ego-, Ethnozentrismus, Populismus und Rassismus, sondern durch Aufklärung und Bildung.

Die umfangreiche, umfassende Studie „Schockmomente“ eignet sich nicht als „Nebenbei-Lektüre“; das wird bereits deutlich in den 21seitigen Literaturhinweisen und in den 826 Anmerkungen. Sich mit „Schock“-Situationen auseinandersetzen ist kein Wühlen im Morast, sondern eine notwendige Herausforderung für ein gutes, gelingendes, menschenwürdiges Leben aller Menschen auf der Erde. Globalisierungsschub oder Globalisierungsschock – neoliberale, kapitalistische oder ökologische, nachhaltige Entwicklung? Es liegt an uns Menschen, Hier und Heute, die von Harold James identifizierten und ermittelten Krisen aus der Vergangenheit der globalen, ökonomischen Verläufe für gegenwärtiges und zukünftiges Humanum zu bedenken: Vergangene, negative, schädliche, globale Krisen sind keine Blaupausen, sondern Wissensstrukturen für zukünftige Globalisierung – Negative Angebotsschocks verweisen auf globale Handels- und Marktvorgänge und bedürfen einer verantwortungsbewussten, faktischen, theoretischen und praktischen Wirtschaftspolitik – Negative Nachfrageschocks verführen zu autarken, egozentristischen Reaktionen – Deflationäre oder inflationäre Politiken sind Ordnungs- und Steuerungsinstrumente, die ein demokratisches, freiheitliches Bewusstseins erfordern.

Fazit

In dem allerdings bis heute nicht verwirklichten Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa (20. Juni 2003) wird selbstbewusst und dezidiert darauf hingewiesen, dass „der Kontinent Europa ein Träger der Zivilisation ist und dass seine Bewohner, die ihn seit den Anfängen der Menschheit in immer neuen Schüben besiedelt haben, im Laufe der Jahrhunderte die Werte entwickelt haben, die den Humanismus begründen: Gleichheit der Menschen, Freiheit, Geltung der Vernunft“. Die Janusköpfigkeit der Entwicklung in Europa und global jedoch bewirkt, dass es Schockmomente immer wieder gab und weiterhin gibt. Sie zu kennen und zu überwinden braucht historische und anthropologische Kenntnis. Mit der „Weltgeschichte von Inflation und Globalisierung“ verdeutlicht Harold James die weitgehend menschengemachten Entwicklungen und regt an zum Perspektivenwechsel!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 03.01.2023 zu: Harold James: Schockmomente. Eine Weltgeschichte von Inflation und Globalisierung 1850 bis heute. Verlag Herder GmbH (Freiburg, Basel, Wien) 2022. ISBN 978-3-451-39325-9. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30247.php, Datum des Zugriffs 10.11.2024.


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