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Reiner Bahr: Igel-Kinder

Rezensiert von Dr. Richard Hammer, 21.07.2023

Cover Reiner Bahr: Igel-Kinder ISBN 978-3-8436-0330-0

Reiner Bahr: Igel-Kinder. Kinder und Jugendliche mit Asperger-Sydrom verstehen. Patmos Verlag (Ostfildern) 2022. 8., Auflage. 140 Seiten. ISBN 978-3-8436-0330-0. D: 14,99 EUR, A: 15,50 EUR, CH: 21,90 sFr.

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Thema

Der Autor beschäftigt sich in diesem Buch mit Kindern und Jugendlichen, die durch eine ganz eigene Art des Kontakts auffallen. Sie haben das Asperger-Syndrom, eine Störung aus dem autistischen Spektrum. Er beschreibt diese auf der Grundlage seiner persönlichen Erfahrungen als Leiter einer Förderschule für Jungen und Mädchen mit Sprach- und Kommunikationsbeeinträchtigungen, wo ihm „jeden Tag“ Kinder und Jugendliche begegnet sind, die vom Asperger-Syndrom betroffen sind.

Autor

Dr. Reiner Bahr hat Sonderpädagogik und Heilpädagogische Psychologie studiert. Er leitete eine Förderschule für Kinder und Jugendliche mit Sprach- und Kommunikationsstörungen und ist mit zahlreichen Veröffentlichungen und Vorträgen im In- und Ausland ein ausgewiesener Experte seines Fachgebiets.

Aufbau

Nach einer Einleitung, in der der Autor sein persönliches Interesse für dieses Thema vorstellt, wird zunächst das Asperger-Syndrom als eine Form des Autismus vorgestellt. Im Folgenden geht es um die besondere Situation der betroffenen Kinder im Vorschul- und danach im Schulalter. Im letzten Kapitel stellt der Autor seine pädagogische Perspektive dar: den „ganzen Menschen“ zu sehen und nicht die Behinderung.

Inhalt

Das 1. Kapitel befasst sich mit dem Asperger-Syndrom. Es geht zunächst ein auf die Darstellung von Asperger, der 1944 in einem Artikel Kinder beschrieben hat, die man heute als „Asperger-Autisten“ bezeichnen würde. Anschließend werden die Merkmale des Asperger-Syndroms aus heutiger Sicht mit all seinen Facetten differenziert dargestellt: Motorik, Sprache, Spiel, Intelligenz, soziale Interaktion, Begleitsymptome. Ergänzt wird dieses Kapitel um die Frage der Ursachen und der Bedeutung für die kindliche Entwicklung.

Das 2. Kapitel geht ein auf das Asperger-Syndrom im Kleinkind- und Vorschulalter, auf die Notwendigkeit der frühen Diagnostik und Förderung. Es gibt einen Überblick darüber, was bereits im Kleinkindalter auffällig ist und erleichtert damit den Weg zu einer frühzeitigen Diagnose. Im Folgenden werden Fördermöglichkeiten für die Arbeit im Kindergarten vorgestellt. Der Autor geht dabei ein auf die Entwicklungsphasen des kindlichen Spiels sowie auf Situationen der Kommunikation und Kontaktangebote. Als spezifische pädagogische und therapeutische Ansätze werden TEACCH, Wahrnehmungs- und Bewegungsförderung, Sprachtherapie und psychologische Verhaltenstherapie vorgestellt. Für die Gestaltung des Alltags mit ihren Kindern empfiehlt der Autor den Eltern Wege eine sichere Bindung aufzubauen, gute Bewältigungskompetenzen zu entwickeln, schwierige Situationen zu meistern, mit Spezialinteressen der Kinder umzugehen, das Spielen zu fördern und zur Aufklärung im Umfeld der Kinder (Kindergarten, Freundeskreis) beizutragen.

Das 3.Kapitel beschäftigt sich mit dem Asperger-Syndrom im Schulalter. Es geht zunächst ein auf die schwierige und bis heute ungelöste Frage, welche Schulform für diese Schüler in Frage kommen kann: ist es die Regelschule, welche eigentlich im Sinne der Inklusion die richtige wäre oder sind es doch Förderschulen, in denen diese Kinder intensiver betreut werden können. Sehr konkret wird beschrieben wie für die Schüler ein individueller Förderplan erstellt werden kann. Grundlage dafür ist eine sorgfältige Analyse, die aufgrund von Checklisten durchgeführt werden kann. Der Autor stellt drei Checklisten vor: Die „Australien Scale for Asperger's Syndrome“ (in deutscher Übersetzung), die „Marburger Beurteilungsscala zum Apergersyndrom“ und die „Checkliste für das Asperger-Syndrom in Schulen“ (vom Autor entwickelt). Zum Erstellen eines Förderplans wird ein Raster empfohlen, in dem Ziele, Maßnahmen und die Kontrolle für einen Schüler eingetragen werden können. Es werden im Folgenden weitere Hinweise gegeben und Maßnahmen vorgeschlagen, die für die Gestaltung des Unterrichts wichtig sind: professionelle Beziehungsarbeit, die Gestaltung des Klassenraumes, Möglichkeiten der Streitschlichtung, Schul- und Klassenregeln, das Asperger-Syndrom als Unterrichtsthema, Differenzierung und Nachteilsausgleich. Schließlich bietet der Autor auch den Eltern Hilfestellungen an, wie sie ihre Kinder unterstützen können: beim Umgang mit Fehlverhalten, in Situationen, in denen ihr Kind gemobbt wird, bei Schulunlust und Schulverweigerung und bei der Gestaltung ihres Alltags.

Das 4.Kapitel ist als Appell zu lesen, bei der Gestaltung des Alltags im Elternhaus, im Kindergarten und in der Schule im Kind immer den ganzen Menschen zu sehen und immer wieder zu versuchen, sich in die Situation des betroffenen Kindes hinein zu versetzen. Eindrücklich dargestellt wird diese Notwendigkeit mit Hilfe eines persönlichen Interviews, das der Autor mit einem 20-jährigen jungen Mann mit Asperger-Syndrom geführt hat.

Ein Ausblick rundet das Buch ab. Hier plädiert der Autor dafür „Kinder und Jugendliche mit Asperger-Syndrom pädagogisch mit „normalen“ Maßstäben zu messen und bei ihnen die gleichen Wege und Ziele zu verfolgen, wie bei anderen Kindern auch – vor allem, wenn es um die Entwicklung ihres Selbstwertgefühles geht“ (S. 133).

Diskussion

„Es geht mir dabei nicht um wissenschaftliche Vollständigkeit, sondern darum, allen, die mit dem Asperger-Syndrom zu tun haben, eine Orientierung zu geben, ob sie nun im Kindergarten, in der Schule, in einer Beratungsstelle oder in einer anderen Einrichtung arbeiten oder ob sie Eltern eines betroffenen Kindes sind“ (S. 10).

Dieses Anliegen ist dem Autor gelungen. Der Text des Buches bietet einen guten Überblick über das Asperger-Syndrom mit all seinen Facetten. Angefangen von der Entstehungsgeschichte 1944, als Asperger Kinder mit besonderen Auffälligkeiten beschrieb, bis hin zur aktuellen Einordnung, in Abgrenzung zum frühkindlichen und zum atypischen Autismus. Er geht ein auf mögliche Ursachen und die Abgrenzung zu anderen Störungsfällen. Der Verzicht auf wissenschaftliche Vollständigkeit macht sich hier aber immer wieder bemerkbar. So stellt er das Asperger-Syndrom „aus heutiger Sicht“ auf der Grundlage von Literatur aus dem Jahr 2006 und 2010 dar, was sich bei der Angabe von statistischen Daten bemerkbar macht. Wird die Diagnose wirklich durchschnittlich erst mit 11 Jahren gestellt?

Im 2. Und 3. Kapitel wird es dann konkret, es geht um praktische Anregungen in der Vorschul- und Schulzeit. Für das Kindergartenalter geht der Autor differenziert auf das Spielverhalten der Kinder ein. Die Anregungen, die Kindern mit Asperger-Syndrom helfen sollen, am Spiel der Kinder teilzunehmen sind jedoch sehr allgemein und zu wenig konkret. So ist es für die Förderung des Rollenspiels „hilfreich, das Kind an Situationen heranzuführen, in denen andere Kinder sich bereits intensiv dem Rollenspiel hingeben“ (S. 51). Aber wie soll dies gemacht werden, wenn sich Widerstände zeigen, wenn keine Motivation vorhanden ist? Oder zur Förderung der Kommunikation, die vor allem im kindlichen Spiel möglich ist, stellt der Autor fest: „Beim Kind mit Asperger-Syndrom liegt der Schwerpunkt auf einer Förderung des kommunikativen Aspekts der Sprache, also auf dem richtigen Sprachgebrauch im Zusammensein mit anderen“ (S. 52). Aber wie soll das gemacht werden?

Konkreter werden die Anregungen für das Schulalter. Hier zeigt sich die Erfahrung des Autors als Lehrkraft an einer Förderschule. Er problematisiert die Inklusion, die zwar wünschenswert ist, aber durch zu geringe Ausstattung für die betroffenen Schüler häufig zum Scheitern verurteilt ist. Wir finden nützliche Checklisten um eine erste Idee für das mögliche Vorliegen einer autistischen Problematik zu bekommen. Sehr ausführlich geht der Autor auf die Entwicklung eines Förderplans für das autistische Kind ein und auf die Bedingungen, die in der Klasse geschaffen werden sollten um die Beschulung der betroffenen Schüler zu erleichtern (Klassenraum, Klassenregeln, Autismus im Unterricht thematisieren, Streitschlichtung, Nachteilsausgleich).

Auch für die Eltern werden nützliche Anregungen gegeben, wie sie mit der Schulproblematik (oft Schulverweigerung) umgehen können – in intensiver Zusammenarbeit mit den Lehrkräften.

Schließlich stellt der Autor im Abschlusskapitel mit Hilfe eines Interviews mit einem jetzt 20-jährigen jungen Mann mit Asperger-Syndrom die Situation eines Betroffenen im schulischen Alltag dar. Wir kommen dadurch dem Erleben des damals 14-jährigen sehr nah und erfahren, wie wichtig es ist, sich immer wieder in die Situation dieser Betroffenen einzuspüren und ihr Handeln zu verstehen. Fraglich ist jedoch, ob bei Kindern mit Autismus das „Gewährenlassen“ zielführend ist. „Wenn also z.B. ein Kindergartenkind mit Asperger-Syndrom immer nur ein und dasselbe Bilderbuch anschauen möchte, bringt es damit zum Ausdruck, dass es noch dabei ist, die Bilder und die Geschichte zu verarbeiten und in seine eigene Gedankenwelt aufzunehmen. Nur das Kind kann selbst dann entscheiden, wenn es bereit ist, sich für ein neues Bilderbuch zu öffnen“ (S. 128). Ein Kardinalsymptom der Autismusspektrumstörung sind die sich wiederholenden und stereotypen Verhaltensweisen und es ist ein wichtiges Anliegen, diese Stereotypie zu unterbrechen. Auf Seite 74 schlägt der Autor selbst vor, wie dies gestaltet werden kann: „Damit das Kind Zeit für neue Erfahrungen gewinnt, ist es auch nützlich, einen zeitlichen Rahmen festzulegen, innerhalb dessen es sich mit seinem Spezialgebiet beschäftigen darf“. Es ist nicht nur nützlich, es ist erforderlich.

Zum Schluss sei mir noch die Anmerkung erlaubt: Ich finde den Begriff „Igel-Kinder“ für Kinder mit Asperger-Syndrom unpassend. Und wer kam auf die Idee, dieses Cover so zu gestalten um ein Kind mit Asperger-Syndrom zu symbolisieren?

Fazit

Dieses Buch zeigt die vielfältigen Facetten des Asperger-Syndroms. Es ist leicht verständlich geschrieben und liefert viele Anregungen für die Praxis und Hintergrundwissen, das es erleichtert Kinder und Jugendliche mit Asperger-Syndrom besser zu verstehen und daraus Handlungsmöglichkeiten abzuleiten.

Der 8. Auflage des Buches hätte man eine Aktualisierung gewünscht.

Rezension von
Dr. Richard Hammer
Dipl. Motologe
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Es gibt 34 Rezensionen von Richard Hammer.

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ISSN 2190-9245