Markus Eckl: Die disziplinäre Kommunikation der Sozialen Arbeit
Rezensiert von Prof. Dr. Wilfried Hosemann, 22.03.2023

Markus Eckl: Die disziplinäre Kommunikation der Sozialen Arbeit. Eine empirische Analyse wissenschaftlicher Kommunikation auf Grundlage ihrer Publikationen.
Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
(Wiesbaden) 2022.
227 Seiten.
ISBN 978-3-658-38281-0.
D: 56,07 EUR,
A: 61,67 EUR,
CH: 66,50 sFr.
Reihe: Kasseler Edition Soziale Arbeit - 26.
Thema
Es fehlt an empirischen Untersuchungen zum disziplinären Kern und den zentralen Themen der Sozialen Arbeit. Spannend ist also: Was kann man zur disziplinären Identität der Sozialen Arbeit herausfinden, wenn man sich nicht von den bisherigen Diagnosen von Unübersichtlichkeit und Komplexität leiten lässt, sondern sich an empirischer Forschung orientiert? Zu welchen Ergebnissen können neue Verfahren quantitativer Sozialforschung beitragen, z.B.: Wo sind Schwerpunkte, welche Texte spielen eine besondere Rolle, wie haben sich die Kooperationsstrukturen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler entwickelt?
Autor
Der Autor ist Professor für „Digitalisierung in der Sozialen Arbeit“ an der Hochschule Fulda.
Entstehungshintergrund
Die Grundlage des Textes ist die Dissertation des Autors am Fachbereich Humanwissenschaften der Universität Kassel.
Aufbau
Eckl bestimmt zunächst die Disziplin der Sozialen Arbeit als Beobachtungssystem der Profession und Publikationen als wesentliche kommunikative Strukturen der Wissenschaft. Als theoretische Basis seiner Untersuchungen legt er die Systemtheorie zugrunde, wie sie durch Luhmann, Nassehi und Dutra Torres präsentiert wird, und orientiert sich an den Sinndimensionen sachlich, sozial und zeitlich.
Auf der Ebene der Sachdimension werden zuerst die kommunikativen Strukturen auf der Grundlage von Zitationen untersucht und anschließend auf der Basis von Textanalysen. Für die Sozialdimension werden Co-Autor:innenschaften analysiert und der Zeitdimension wird über die Veränderungen in Zeitintervallen nachgegangen.
Die Datengrundlagen sind große Datensätze von Publikationen in der Sozialen Arbeit. Für die Analyse der Zitationen wurden von folgenden fünf zentralen Fachzeitschriften im Zeitraum von 1980 bis 2016 die Literaturlisten genutzt: Archiv für Wissenschaft und Praxis der Sozialen Arbeit, neue praxis, Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit, Zeitschrift für Sozialpädagogik, Soziale Passagen – Journal für Empirie und Theorie Sozialer Arbeit. Für die Textanalysen erstellt Eckl einen Korpus aus Abstracts über die Datenbank SoLit des Deutschen Instituts für soziale Fragen – DZI (diese verfügt über 200.000 Datensätzen aus Fachaufsätzen, Monographien und anderen Quellen) und Rezensionen von socialnet.de (anhand von 17.740 Rezensionen). Die Analyse der Co-Autor:innenschaften wurde auf der Basis von 60 Fachzeitschriften der Sozialen Arbeit vorgenommen, wie sie in der Datenbank SoLit zur Verfügung standen.
Durchgängig werden die erstellten Datengrundlagen und die eingesetzten Analyseverfahren reflektiert, variiert und die Ergebnisse nachvollziehbar interpretiert. Überlegungen zur Disziplin der Sozialen Arbeit schließen die Veröffentlichung ab.
Inhalt
In den ersten beiden Kapiteln werden die grundlegenden Fragen bestimmt. Die Forschungsarbeit orientiert sich an der Unterscheidung zwischen der Disziplin der Sozialen Arbeit als einem Beobachtungssystem und der Profession der Sozialen Arbeit, verstanden als gesellschaftliches Funktionssystem. Die Perspektive auf Gesellschaft löst sich von der Vorstellung einer Gesamtheit, sondern interpretiert sie als einen Vorgang, bei der sie als Entität „…nur noch als multipler Horizont unterschiedlicher Perspektiven“ (Nassehi 1994, S. 101) verstanden wird (Eckl, S. 15). Daraus ergeben sich Konsequenzen für die Positionsbestimmung der Sozialen Arbeit und den Wert Eckls Untersuchungen, da diese die Bedeutung und die Funktion von Kommunikation aufgreifen.
Die vorliegende Arbeit bestätigt die These, dass eine moderne Gesellschaft sich auf der Grundlage von empirischen Daten selbst beobachtet. Die digitale Transformation der Beobachtung verändert auch den Blick auf die Soziale Arbeit: „Institutionen, Adressat:innen oder die Profession werden nicht mehr primär im Rahmen von Großtheorien gefasst, sondern vielmehr als empirisch beobachtbare Einheiten“ (S. 36). Eckl interessiert sich dafür, wie und was aus der Perspektive der Disziplin der Sozialen Arbeit beobachtet und diskutiert wird und welche Veränderungen sich im Laufe der Zeit zeigen. Die Forschungsfragen im Einzelnen sind (S. 7):
- Welche kommunikativen Strukturen können auf der Grundlage wissenschaftlicher Publikationen der Disziplin der Sozialen Arbeit beobachtet werden?
- Zu welchen Themen wird geforscht und publiziert und welche Konjunkturen sind erkennbar?
- Welche Kooperationsstrukturen zwischen Wissenschaftler:innen und welche Entwicklungen sind zu beobachten?
Das Kapitel 3 bestimmt Publikationen als kommunikative Strukturen der Wissenschaft und präzisiert dies über die angewandten Methoden wie die Identifikation von Themen mithilfe der Co-Zitationsanalyse, das Topic Modelings und die Bedeutung der Co-Autor:innennetzwerke als Merkmal wissenschaftlicher Kooperation.
Im 4. Kapitel werden auf der Basis von Zitationsclustern in Fachzeitschriften zentrale Themen und Diskurse der Sozialen Arbeit identifiziert. Hier werden nur die ersten beiden Cluster pro Zeiteinheit präsentiert – die Analysen von Eckl sind weitaus differenzierter und bieten tiefergehende Einsichten.
Im Zeitraum 1980–1989 steht die Theorie des kommunikativen Handelns (Habermas) und die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (Luckmann) im Vordergrund. Zwischen 1990–2002 werden die Funktionsbestimmungen der Sozialen Arbeit anhand von Becks Risikogesellschaft behandelt und im Rahmen der Systemtheorie von Baecker, Merten, Luhmann. Weniger eingebunden sind Staub-Bernasconi und Lüssi. Auch im Zeitraum 2003–2008 spielt die Systemtheorie in Anlehnung an Luhmann eine besondere Rolle, z.B. Fuchs/​Schneider, Weber/​Hillebrandt, Kleve. Das zweite Cluster gruppiert sich um die historische Bestimmung der Sozialpädagogik (Niemeyer, Natorp). 2009–2016 zentriert sich das erste Cluster um die Publikation Sozialpädagogik der Lebensalter von Böhnisch und das zweite um die sozialpädagogischen Diagnosen und das professionelle Handeln (Uhlendorff, Heiner).
Im 5. Kapitel wird die Art der Beobachtung und der Beobachtungsgegenstand verändert. Über 79 Wortlisten, generiert mithilfe des Topic Modelings, die in 20 unterschiedlichen Clustern gruppiert werden, fasst Eckl fünf Themenfelder zusammen: Arbeitsfelder und AdressatInnen, Organisationale Soziale Arbeit, Profession und Hochschule, Forschung und interdisziplinäre Bezüge. Über die feingliedrigen Analysen hinaus kann Eckl zusammenfassend zeigen, dass die Bedeutung empirischer Forschung deutlich zugenommen hat und dass von einer forschenden Disziplin gesprochen werden kann (S. 173) in der sich Pluralität und zeitliche Schwerpunkte der Forschung widerspiegeln (S. 176f).
Im 6. Kapitel wird die soziale Dimension auf der Grundlage von Co-Autorenschaften untersucht. Die kommunikativen Strukturen bestätigen eine Erweiterung der Zusammenarbeit, den Matthäuseffekt (wer viel hat, dem wird gegeben), aber nur eine eingeschränkte Entwicklung von Small World Strukturen (Netzwerken). Entscheidend für die zeitlichen Veränderungen waren das Internet mit seinen Möglichkeiten der Zusammenarbeit und die Entwicklung zu kooperativem Verhalten in Forschungsvorhaben.
Kapitel 7 bietet eine inhaltliche Zusammenfassung, diskutiert die Grenzen der Arbeit und legt weiterführende Überlegungen vor, z.B. könnten mithilfe quantitativer Methoden die Textmengen bei Onlineberatungen hinsichtlich zentraler Themen analysiert und relationiert werden. Für die Entwicklung der Disziplin der Sozialen Arbeit ist die Sozial- und Kommunikationsstruktur der Scientific Community von Bedeutung – da die Menge der Publikationen nicht mehr individuell zu bewältigen ist, besteht ein Bedarf an neuen Analyseformen. Aus der Sicht des Rezensenten sind die Ergebnisse von besonderer Bedeutung: „Die Disziplin richtet ihre primäre Beobachtung auf das Funktionssystem aus“ (S. 203) und es „… konnte gezeigt werden, dass im Laufe der Zeit die disziplinäre Kommunikation selbstreferenzieller wurde“ (S. 205).
Diskussion
1. Ein bedeutender Schritt für die Reflexionsbasis der Sozialen Arbeit
Das Buch ist eine präzise wissenschaftliche Arbeit, die begründete Reflexionen und Diskussionen ermöglicht und gibt nicht vor, zum wissenschaftlichen Diskurs beizutragen, weil sie sich akademischer Begriffe bedient. Eckls Big Data Analysen bieten eine neue Beobachtungs- und Reflexionsbasis der Sozialen Arbeit – in dieser Form erstmalig.
Für die Theorie- und Praxisentwicklung sind empirische Grundlagen von unschätzbarem Wert. Debatten erweitern die Reflexionsräume aussichtsreich, wenn sie auf der Basis von Analysen geführt werden, die überprüfbare Praxisthemen ausweisen. Im Gegensatz dazu verleiten Theorieübersichten, die auf Zustimmung oder Ablehnung hinauslaufen, zu komfortablen Reduktionen. Schaut man in Handbücher und Theoriedarstellungen der Sozialen Arbeit wird deutlich, dass sich aus ihnen die Bedeutung von Theorien/Ansätzen für die Soziale Arbeit, wie sie sich in der Breite und der Nachhaltigkeit der Publikationen in Fachdebatten widerspiegeln, nicht ergibt. Besonders Übersichten im Stile von Listen (z.B. Hammerschmidt/Aner) suggerieren eine vergleichbare Relevanz von theoretischen Ansätzen in der Sozialen Arbeit und tragen so zur Differenz von Disziplin und Profession bei.
2. Daten bedürfen einer theoriegeleiteten Interpretation
Bei einer empirischen Arbeit liegen die Beschränkungen im methodischen Design und dessen Nachvollziehbarkeit. Eckl liefert Begründungen und diskutiert die Grenzen des Vorgehens. Er macht darauf aufmerksam, dass Daten interpretiert werden müssen und aus quantitativen Ergebnissen nicht automatisch qualitative Schlüsse gezogen werden können. Aus den Themenübersichten und ihren Zeitverläufen ergeben sich keine Theorien der Sozialen Arbeit. Die Untersuchung bestätigt so in indirekter Form die Notwendigkeit theoretischer Diskurse und übergreifender Theorieentwürfe.
Die quantitativen Analysen von Publikationen der Sozialen Arbeit schaffen neue Möglichkeiten, inhaltlich verbindende Muster zu entdecken. Damit werden die Klagen und die preiswerten Entlastungen obsolet, man könne keine zusammenhängenden Herausforderungen auf der praktischen Ebene und keine miteinander verbundenen Betrachtungen auf der wissenschaftlichen Seite der Sozialen Arbeit erkennen.
3. Die Effekte auf Disziplin und Profession sind folgenreich
Die vorgelegten Analysen bieten mehrfache Grundlagen: Erstens stellen sie einen Einstieg in neue Formen der Selbstbeobachtung und Möglichkeiten der Reflexion der Sozialen Arbeit dar, und zweitens eröffnen die Ergebnisse Hinweise auf thematische Zusammenhänge sowie Lücken und erleichtern so Anschlüsse für das disziplinäre wie das professionelle Handwerk. Die Unterschiede zwischen Disziplin und Profession werden bei Eckl berücksichtigt, aber nicht verwischt. Dies unterstützt, Beziehungen zu entdecken und Brückenschläge zu präsentieren.
Die Bestätigung der Sozialen Arbeit, über empirische Forschungsarbeiten und einen breiten eigenständigen Diskurs zu verfügen, kann Vertrauen im politischen Raum schaffen und helfen, mehr mediale Aufmerksamkeit zu gewinnen. Ebenso wird es leichter, zwischen der Lautstärke der Beiträge und der nachvollziehbaren Relevanz für die Diskussionen in der Sozialen Arbeit zu unterscheiden. So haben die Analysen insbesondere für Studierende einen hohen Wert.
4. Perspektiven
Es lassen sich zahlreiche disziplinäre und professionelle Themenfelder entdecken und korrespondierend zu gesellschaftlichen Entwicklungen diskutieren. Dass die Ergebnisse der Untersuchung nicht in kontroverseren Formen dargestellt werden, mag verschiedenen Gründe haben. Entlang der Sinndimension Raum (Ost/West oder Stadt/Land), den Themen Gender oder Identitätspolitiken ließen sich sicherlich interessante Auseinandersetzungen führen. Wünschenswert wäre es, die Datensätze könnten auch von anderen Forschergruppen genutzt werden (z.B. wie bei Piketty).
Fazit
Eckl arbeitet auf der Basis großer Datensätze von Veröffentlichungen der Sozialen Arbeit. Es gelingt ihm eine wichtige wissenschaftliche Analyse zur Bestimmung disziplinärer und professioneller Identität der Sozialen Arbeit. Sie hilft, zentrale inhaltliche Diskussionsverläufe nachzuvollziehen und in ihrer Bedeutung einordnen zu können und Perspektiven zu entdecken.
Rezension von
Prof. Dr. Wilfried Hosemann
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