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Herward Sieberg: Die Dichterin Irene Forbes-Mosse

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 29.12.2022

Cover Herward Sieberg: Die Dichterin Irene Forbes-Mosse ISBN 978-3-487-16137-2

Herward Sieberg: Die Dichterin Irene Forbes-Mosse. Enkelin der Romantik in stürmischen Zeiten. Georg Olms-Verlag (Hildesheim) 2022. 544 Seiten. ISBN 978-3-487-16137-2. 49,80 EUR.

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„Enkelin der Romantik“- „Naturleserin“ – „Europäerin“?

Wie armselig, wie öde, tröge, wie nichtssagend wäre unsere Welt, gäbe es nicht in der Menschheitsgeschichte Dichter, Denker, Künstler, Erfinder, Entdecker, Pfadfinder und Quellensucher (immer natürlich auch „gender“ gedacht), die das Schöne, Gute, das Wirkliche aufzeig(t)en. Die als Geschichtenerzähler und Chronisten über die Lebenswerke von allgemeinen und herausgehobenen Persönlichkeiten berichte(tete)n. Die aus Erinnerungen Wissen, Erkennen, Erleben machen. Es sind die Biographien, die von Menschen künden, die zu ihren Lebzeiten von ihrer Umwelt be- und ge-, aber auch missachtet wurden. Deren Werke nach ihrem Tod im „historischen Kanon“ gesichert, wie auch vergessen wurden. Zu loben und hervorzuheben sind die Kulturschaffenden, die Historiker, Wissenschaftler und Literaten, die als Rechercheure Fragen stellen, Neugier erwecken und daraus neue Fragen und Antworten entwickeln.

Entstehungshintergrund und Autor

Die Aufmerksamkeit soll hier auf Herward Sieberg gerichtet werden, der als Professor und Politikwissenschaftler an der Universität Hildesheim tätig war und nach der Emeritierung sein Forscher- und Dokumentationsinteresse auf zwei Nachfahren des berühmten Romantikerpaares Achim und Bettine von Arnim (geb. Brentano) richtete. Die Fragerichtungen- historisch und aktuell – verweisen auf die Imponderabilien von Gestern, Hier und Heute; etwa mit der Frage, wie das Denken und Handeln von Menschen Frieden und Krieg, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Gut und Böse bewirkt. Insbesondere die schriftstellerischen und dichterischen Werke deren Enkelinnen Elisabeth von Heyking (1861 – 1925; siehe dazu auch: www.socialnet.de/rezensionen/​13900.php) und Irene Forbes-Mosse (1864 – 1946) sind es, die es gilt, als Erinnerungsschätze, vielleicht sogar für die Ursachenforschung bereit zu stellen. In Jahrzehnte langer, unermüdlicher und konsequenter Weise machte sich Sieberg an die scheinbar unlösbare Aufgabe, über das Leben und Werk von Irene Forbes-Mosse mehr als lexikalisches Wissen zu erkunden. Denn: Obwohl die Dichterin ihre Nachlassverwalterin beauftragt hatte, sämtliche persönlichen Briefe und sonstigen Papiere – „Kisten und Kisten“ – zu verbrennen, entdeckte er doch einen bedeutsamen Restbestand im Privatbesitz einer Schweizer Familie. Für seine Biographie wertete er erstmals etwa 1000 Irene-Briefe sowie weitere Fundstücke aus, die heute in verschiedenen literarischen Archiven in Deutschland, in der Schweiz, England und USA aufbewahrt werden.

Aufbau und Inhalt

Neben dem Vorwort und dem Nachklang thematisiert Sieberg die Biographie in acht Kapiteln. Im ersten stellt er Irenes „Kindheit und Jugend im Großherzogtum Baden“ vor. Sie und ihre ältere Schwester Elisabeth wuchsen dort als Töchter des preußischen Diplomaten Albert Graf von Flemming und dessen Ehefrau Armgart, geb. von Arnim auf. 

Das zweite Kapitel titelt er mit „Verfehltes Glück“. Er schildert nach dem plötzlichen Tod der Mutter das unglückliche Leben der Schwestern, hebt im Vergleich deren unterschiedliche Charaktere hervor und verweist auf die eher unbekümmerten, freieren, offeneren Einstellungen Irenes. Ihre Besuche und Aufenthalte bei der Tante in Berlin und ihre Ferienfahrten nach Italien verstärkten das Selbstbewusstsein der jungen Frau. Ihre Heirat mit ihrem Vetter Roderich von Oriola führte bald zu der schmerzlichen Erfahrung, „dass ihre Ehe mit Vetter Rodi auf falschen Voraussetzungen beruhte und nicht das erhoffte Glück verkörperte“. Die Trennung war unvermeidlich. Und ein neuer Aufenthaltsort notwendig.

Im dritten Kapitel „Florenz“ wird der weitere Lebensweg Irenes erzählt. Sie heiratet als „unverheiratete Gräfin von Flemming“ am 1. Februar 1896 in der Londoner anglikanischen Kirche St. George den britischen, pensionierten, 26 Jahre älteren Kolonialoffizier John Forbes-Mosse. Sie wurde Engländerin. Weil sie aber die damalige britische Kolonial- und Rassenpolitik verabscheute, wollte sie nicht in England leben. Das Ehepaar zog nach Florenz. Irene lebte auf, verehrte die Künste und Lebensart der Stadt. Seit Anfang der 1880er Jahre versuchte sie sich immer wieder als Poetin. Dieses Interesse entwickelte sie immer intensiver in Florenz. Die Bekanntschaft mit Verlegern bewirkten, dass im Spätherbst 1901 ihr Erstlingswerk „Mezzavoce“ veröffentlicht werden konnte, für das sie als Illustrator auch den Jugendstil-Maler Heinrich Vogeler-Worpswede gewinnen konnte. Irene bekam Kontakt zu sozialdemokratischen Kreisen in Deutschland, und sie widmete sich in ihren Gedichten auch der „Frauenfrage“. Den Tod ihres Mannes John am 4. Januar 1904 vermochte die junge Witwe nur durch die innige Freundschaft mit der bekannten britischen Schriftstellerin Violet Paget (Pseudonym „Vernon Lee“) verwinden.

Das vierte Kapitel wird mit „Belastete Jahre“ getitelt. Irenes zeitweiliger erneuter Aufenthalt in Baden-Baden bedeutete zwar ein ausgedehntes literarisches Schaffen, z.B. zum Prosaband „Der kleine Tod“, jedoch auch Konflikte mit Vernon Lee. Die Situationen – Missverständnisse und Verständigung, Abschied und Wiederfinden – wie auch die nationalen und internationalen (europäischen und außerkontinentalen) Wirrnisse um die Jahrhundertwende, mehrere Reisen ins Baltikum, nach England und erneut nach Deutschland brachten nicht Wohlbefinden und Lebensperspektiven, sondern eher Resignation und Todessehnsucht; etwa, wenn sie für ihren möglichen Grabstein die Inschrift dichtet:

„In dem bebrigen Messina/​Starb die Enk’lin der Bettina,/Doch die Masern, nicht das Beben,/Endeten ihr zartes Leben“. Fünftes Kapitel: „Erster Weltkrieg“.

Irene befindet sich als Patientin im bayerischen Privatsanatorium von Dr. Josef Decker, wohl umsorgt, und in Blickweite des Hauses der Brentanos. Der Beginn des Weltkrieges, der auch zum Bruch zwischen Großbritannien und Deutschland führte, bedingte, dass Irene wieder die deutsche Staatsangehörigkeit annahm. Der briefliche Kontakt mit Vernon Lee verlief nunmehr nicht mehr direkt, sondern auf dem Umweg über neutrale Drittstaaten.

Auch der Besuch in ihrem „Häuschen“ in Florenz war nicht mehr möglich. Der pazifistische Einfluss der Freundin auf sie, und ihre Abscheu des Krieges zeigten sich eher in pessimistischen, denn optimistischen Einstellungen.

Die aktiven, realistischen und zukunftsorientierten Haltungen des Vetters Lujo und die Bekanntschaften und Kontakte mit Menschen, die friedliche und zukunftsweisende Perspektiven verbreiteten, ließen Irene zwar nicht zu einer aktiven Zeitgenossin werden; sie bewirkten jedoch auch, dass sie aufmerksam und informiert lebte, und Abscheu empfand gegen Einstellungen, die wie „Schafherden ( ) mit gedecktem Kopf warten bis das Gewitter vorübergetost ist“.

Ihr Wille, sich zu verändern, ihre Zweifel, ob sie je wieder in Florenz leben konnte und wollte, wurden übertönt durch die Absicht, Vernon Lee wiederzusehen. Die Hilfe und Vermittlung von Freunden ermöglichte dies, und zwar in Zürich in der Schweiz – und immer wieder die Sehnsucht nach Florenz. Sie landete schließlich in ihrer neuen Bleibe in Prien am Chiemsee, wo sie Zeit und Muße fand, sich den „Familienpapieren“, den Briefen und Hinterlassenschaften ihrer Großeltern und den Tagebüchern ihrer Mutter zu widmen. Ihre Fleißarbeit führte dazu, dass sie ihre Gedanken und Fundstücke in einigen Gedichten ausdrückte. Zu einer Veröffentlichung einer „Familiengeschichte“ jedoch kam es nicht.

Mit dem siebten Kapitel läutet Sieberg die „Zweite Schaffensperiode“ Irenes ein. Ihre Absicht, einen weiteren Band ihrer Novellen herauszugeben, ließ sich nicht realisieren. Krankheit, Inflation, Mittellosigkeit, Enteignung ihres Besitzes in Florenz, und eine von Vernon Lee an ihr immer wieder beklagte „deutsche Larmoyanz“ blockierten ihren Schaffenswillen. Erst Mitte der 1920er Jahre konnte Irene einen kleinen, weiteren Gedichtband veröffentlichen: „Laubstreu“.

Die Rezeption nahm das Büchlein begeistert auf: „Irene Forbes-Mosse ist heute vielleicht die größte Dichterin, die in deutscher Sprache schreibt“. Der (scheinbare) perspektivische Aufschwung bewirkte, dass Irene sich vornahm, endlich d e n Roman ihres Lebens zu schreiben; doch die „Sanduhr“ rieselt weiter. Ihren 60. Geburtstag verbrachte sie im Familienschloss Crossen an der Elster. Die Nachricht vom 4. Januar 1925 vom plötzlichen Tod ihrer Schwester Elisabeth von Heyking trug dazu bei, dass Irenes Lebens- und Schaffenswille sanken. Ein Lichtblick schien sich aufzutun durch die Freundschaft mit der fünfzehn Jahre jüngeren, wohlhabenden Berthy Moser aus Zürich.

Das achte Kapitel ist überschrieben mit: „Wahlheimat Schweiz“. Ab 1929 hielt sie sich an mehreren Orten am Genfer See auf. Sie lernte Emmy Ball-Hennings, den Künstlerkreis im „Cabaret Voltaire“ und den Dadaismus kennen. Im Weinort Chexbres, oberhalb von Montreux, fand sie schließlich ein Haus, in dem sie fortan mit Berthy Moser lebte. In der „Grand’Maison“ konnten beide zahlreiche Freunde, Bekannte und Verwandte empfangen. Die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland verfolgte Irene mit Entsetzen: „Nazipest“ – „In Deutschland muss nun wohl noch einmal das Höllenchaos losgehn, ehe die Bewohner vernünftig werden“.

Zu ihrem 70. Geburtstag, 1934, wollte sie sich mit ihrem letzten Buch aus der literarischen Welt verabschieden: Mit einem Band von sechs Novellen und Geschichten, die teilweise bereits in anderen Publikationen abgedruckt wurden. Zwar musste sie wegen der beginnenden nationalsozialistischen „Gleichschaltung“ auch des künstlerischen und literarischen Schaffens in Deutschland – auch wegen ihres jüdisch klingenden Namens „Mosse“ – mit Schwierigkeiten rechnen, doch der Band wurde dann doch herausgegeben.

Die Nachricht vom Tod der Freundin Vernon Lee am 15. Februar 1935 verstärkte ihre resignativen Einstellungen: „Aber ich – glaube an keine Götter mehr. Ich glaube nur noch an den redlichen Sinn einer kleinen élite, an die Empörung der Wenigen die sich nicht um des eigenen Nachteils wegen empören…“. Dieses freigeistige Denken bestimmte ihr weiteres Leben, die Fragen danach, was aus ihrem Werk – und vor allem den Hinterlassenschaften ihrer Vorfahren – werden würde. Ihre Kontakte, Verbindungen und ihr literarisches Schaffen lässt sich am besten zusammenfassen in ihren Grundüberzeugungen, „unser Gefühl für Recht und Unrecht – das ist’s was mich mit einem Menschen verbindet, nicht, ob er Deutscher oder Franzose oder Türke ist“.

Der erneute Krieg, der am 1. September 1939 mit dem deutschen Einmarsch in Polen begann, sich mit dem Menschheitsverbrechen des Holocaust in das öffentliche Gedächtnis einbrannte und der bedingungslosen Kapitulation 1945 zu Ende ging, minderte auch Irenes Lebenskraft. Ein Schlaganfall Im Mai 1945 führte zu einer linksseitigen Lähmung, sodass sie auf Pflege und Hilfe angewiesen war. Eine Lungenentzündung im Februar 1946 verstärkte ihr Leiden und ihre Ohnmacht. Sie starb am 26. Dezember 1946.

Diskussion

Irene Forbes-Mosse war eine Literatin und Poetin. Ihre Herkunft, ihre Motive und ihr Leben waren bestimmt vom Ahnen und Wissen über ihre Familientradition. Die „Enkelin der Romantik“ und ihr Einfluss auf das deutsche und europäische historische und literarische Erbe gerät vor allem in den faschistischen und nationalsozialistischen Zeiten in Vergessenheit. Es ist das Forschungsverdienst von Herward Sieberg, diesen Nebel zu lichten und gegen die ignoranten, ideologischen Entwicklungen ein „Trotzdem“ zu setzen. Es ist die Diskrepanz, die sich in der Rezeption und Auseinandersetzung mit ihrer literarischen, „etwas rückwärts anmutenden Dichtkunst und ihren überaus modernen politischen Anschauungen“ zeigt. Die Jahrzehnte langen Forschungen Siebergs über Leben und Werk der beiden Schwestern Elisabeth und Irene sind kein L’art pour l’art, auch nicht nur eine bedeutsame wissenschaftliche Leistung, sondern vor allem auch ein Statement für die Frage: „Wie sind wir geworden, was und wie wir sind?“ (vgl. z.B. dazu auch: Joachim Bauer, Wie wir werden, wer wir sind. Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz, 2022, www.socialnet.de/rezensionen/​29229.php) – und nicht zuletzt auch für die: „Wie wollen wir leben?“ (siehe dazu auch: Stefan Brunnhuber, Die offene Gesellschaft. Ein Plädoyer für Freiheit und Ordnung im 21. Jahrhundert, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/​25426.php). Ihr Vetter, Lujo Brentano, war ihr Stütze, Korrektor und Ansporn zugleich. Der damals berühmte Nationalökonom war z.B. der Doktorvater des ersten deutschen Bundespräsidenten Theodor Heuß. Zu Brentanos Studenten gehörte auch der später berühmte französische Europapolitiker Robert Schuman. Auch wenn es scheint, dass Irenes Werke, vor allem ihre Novellen, für heutige Leserinnen und Leser wenig Neues und Interessantes bieten könnten, und nur über Vergangenes und Vergessenes erzählten, sind die mit konkreten Lebenserfahrungen der Autorin gespickten Geschichten lesenswert; etwa die Erzählungen „Periwinkel und Valladah“ und „Die Last“. Es sind „stille Geschichten. Man muss ihnen so lauschen, wie man auf das Rauschen eines Brunnens horcht oder das Flüstern des Nachtwinds in den Bäumen“, wie dies Anna Siemsen in ihrem Vorwort zu dem 1948 geplanten Nachlass-Band von Irene Forbes-Mosse schrieb.

Fazit

Die umfangreiche Dokumentation und Biographie Herward Siebergs über die „Dichterin Irene Forbes-Mosse“ ist ein Lese- und Nachschlagewerk, das über Vergangenes erzählt, über eine bemerkenswerte, vergessene Literatin Auskunft gibt und ermöglicht, sich mit den Zeitläufen, Irrungen, Verwirrungen und Hoffnungen von Menschen in schwierigen Zeiten auseinanderzusetzen: Weil es „schwierige Zeiten“ immer gab und gibt. Es sollte in den öffentlichen Büchereien und Fachbibliotheken zur Verfügung stehen. Und sie kann Exempel sein für historisches und biographisches Arbeiten.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1695 Rezensionen von Jos Schnurer.

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ISSN 2190-9245