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Moritz Baßler: Populärer Realismus

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 30.01.2023

Cover Moritz Baßler: Populärer Realismus ISBN 978-3-406-78336-4

Moritz Baßler: Populärer Realismus. Vom International Style gegenwärtigen Erzählens. Verlag C.H. Beck (München) 2022. 407 Seiten. ISBN 978-3-406-78336-4. 24,00 EUR.

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Liegestuhltaugliche Literatur?

Von Umberto Ecco stammt die Einschätzung, dass die Leser von Literatur auf eine „strukturelle Lüge“ hereinfallen, wenn sie den Eindruck haben und davon überzeugt sind, einen kunstvollen, anspruchsvollen Text vor sich haben, der in Wirklichkeit, weil ihnen die Schreibe es so suggeriert, nur übernommene, breitgetretene, längst bekannte Unterhaltungsliteratur ist: „Midcult“ als Grenzverwischung zwischen niveauvoller und populärer Erzählung. Es ist nicht die intellektuelle Falle, die Messlatte bei der elitären „Hochkultur“ anzulegen und „Trivialkultur“ als grundsätzlich primitiv, kitschig und marktgängig zu werten; vielmehr zeigt sich in der lokalen und globalen Literatur ein „International Style“; weil auch in der ‚seriösen‘ Gegenwartsliteratur überwiegend populär-realistisch geschrieben wird.

Der Literaturwissenschaftler und Germanist Moritz Baßler macht sich auf, mit Steigeisen, Seilen und Mountain Hardware das literarische Hochgebirge zu erklimmen. Dabei setzt er sich auseinander mit den Literaturbergen, die der lokale und globale Büchermarkt liefert. Dabei treiben ihn vor allem die intellektuellen Fragen um: „Was leisten diese Werke auf diesem literarischen Feld der Gegenwart? – Was reflektieren sie selbst, was machen sie für diskursive Angebote und in welcher literarischen Form?“.

Entstehungshintergrund und Autor

Es ist die „Traubenzuckerliteratur“, die sofort wirkt, ohne anspruchsvolle, nachdenkliche Denkaktivität. Es ist die „realistische Sprache“, die Ereignis, Entwicklung und Analyse benennt, mit Allerweltsbegriffen, die keiner Erläuterung bedürfen, keine Nachfragen benötigen und keine Verständnishürden aufbauen. Da werden scheinbar Beschreibungen unverständlich und unnötig, wie: „Suchend, in der Nacht der Strom, Wald wurde Braunkohle, Braunkohle bildete Flöze unter den Häusern, die Gruben-Maulwürfe wühlten sich vor und schürften die Kohle. Förderbänder ließen sie zu den Heizern wandern, in die Kraftwerke mit ihren Feuerschloten, in die Häuser, wo aus den Schornsteinen der saure Rauch stieg, der die Mauern zerfraß und die Lungen und die Seelen…“ (Uwe Tellkamp, Der Turm, 2008).

Der Literaturwissenschaftler von der Universität Münster, Moritz Baßler, stellt fest, dass die Zeiten und Leuchttürme der abendländischen großen Romane vorbei seien. Er vermutet „Midcult-Tendenzen“, in denen unklar wird, ob es in der aktuellen Literatur kein Wort mehr gibt, weil es seltener geworden ist, oder ob es seltener wurde, ein eigenes Wort zu haben. Fehlen literarische und künstlerische Kreativität und Kraft, oder bestimmen Markt und Mammon die Welt?

Aufbau und Inhalt

Die Studie wird in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil wird, neben den Vorbemerkungen und dem Epilog, „Populärer Realismus (als) eine Literatur für alle“ gekennzeichnet, „Midcult“ als Anspruch herausgestellt, Kunst sein zu wollen und „Populärer Realismus“ in den Vielfalten dargestellt. Im zweiten Teil wird nach dem „Neuen Midcult“ gefragt, „tentakuläres Erzählen“ diskutiert, „Autofiktion“ an literarischen Beispielen erläutert, und mit der Kennzeichnung „Kalkülromane“ werden Machart und Mittel von literarischen Erzähltexten seziert: „Jedes Ding der erzählten Welt, jedes diegetische Zeichen auf der Darstellungsebene (steht) immer für zweierlei gleichzeitig: für eine singulare Erscheinung… und für eine übergeordnete, allgemeine Gesetzmäßigkeit“.

Weil Auseinandersetzung mit literarischem Schreiben, Beschäftigung mit künstlerischer Literatur und Literaturkritik immer nur dann ganz und glaubhaft ist, wenn es gelingt, die Verbindungen und Distanzen zwischen Autor und Leserschaft klarzustellen, und die literarischen Aussagen als Angebote, Anregungen und/oder Aneignungen zu verstehen. Es ist der Umgang mit dem „Ich“ und dem „Wir“, der beim Schreiben und Lesen herausfordert – nämlich „Mut und Kraft zu haben, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen“ (Kant).

Diskussion

 „Noch nie war der Körper des Autors so präsent wie im Literaturbetrieb der Gegenwart“. Dieser Hinweis auf die Präsentation und Diskussion zum aktuellen Literaturbetrieb bei der Leipziger Buchmesse 2016 gibt Anlass, über kommunikative, literarische Formen nachzudenken. Albert Einstein wird die Feststellung zugeschrieben: „Es kommt darauf an, alles so einfach wie möglich auszudrücken. Aber nicht einfacher“. Dieses Bonmot lässt sich auch bei der Frage anwenden, wie genau und stimmig menschliches Verhalten erklärt, formuliert und beschrieben werden kann. Es sind die zusammengehörenden Theorie-Praxis-Verhältnisse, die Fakten und Fantasien, das individuelle und kollektive Denken und Tun, die Literatur als Lebens- und Fördermittel des Lebens macht (Jos Schnurer). Wir sind bei der Frage, was einen geschriebener oder medial veröffentlichten Text auszeichnet (oder fehlt), um als Literatur (und nicht nur als „literarisches Konsumgut“ und „Trivialliteratur“) zu gelten. Es sind die ungeklärten (und weitgehend verdrängten) Fragen, wie sich das Verhältnis zwischen Kunst, Kultur und Kommerz gestaltet, welche Bedeutung und Relevanz ein literarisches Thema im gesellschaftlichen Diskurs hat. Ist es das Wiederkäuen von bekannten, ausgehaltenen oder widersprüchlichen Entwicklungen? Soll ein Literat Unterhalter oder Unterstützer sein? Dient Literatur dazu, die Welt zu erklären? Ist Literatur „Vermessung von Welt“, (Daniel Kehlmann) oder ist sie Aufforderung zum Perspektivenwechsel? Moritz Baßler vermittelt in seinem literarischen Kramladen eine Fülle von Fundsachen aus den Regalen der unterschiedlichen populärrealistischen Literaturarten: Fantasy, Science Fiction, Krimis, Pop, Plots, Erzählungen, Romane. Es wird eine Tür geöffnet, wenn z.B. der Erfolgsautor Daniel Kehlmann ausdrückt: „Ich fand Literatur immer am faszinierendsten, wenn sie nicht die Regeln des Syntax bricht, sondern die der Wirklichkeit“. Es ist die als „Midcult“ bezeichnete „Doppelcodierung“ beim literarischen Schreiben: nämlich „eine unterhaltsame, leicht lesbare, gut verständliche Geschichte mit hohem Identifikationspotential“ zu liefern, „andererseits das Gefühl (zu vermitteln), dass dieser ‚im Genuss dieser Reize eine privilegierte ästhetische Erfahrung vervollkommne‘“.

Fazit

Es ist die kontroverse Frage – „Wann wird sie je beantwortet werden können?“ – wie sich das Verhältnis zwischen literarischer Aussage und dem Verstehen durch Leserinnen und Leser, zwischen Produktion und Rezeption gestaltet. Baßler kritisiert eine „Rezeptionsseite, die aufgrund ihrer dezidierten Erwartungshaltung immer schon zu wissen meint, welche Lektüren sich lohnen und welche nicht“. Er verweist damit auf einen „Neuen Midcult“, bei dem der Markt ein neuer Treiber für eine (erfolgreiche?) Rückkoppelung von kultureller Produktion und konsumtiver Rezeption ist.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1578 Rezensionen von Jos Schnurer.

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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 30.01.2023 zu: Moritz Baßler: Populärer Realismus. Vom International Style gegenwärtigen Erzählens. Verlag C.H. Beck (München) 2022. ISBN 978-3-406-78336-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30263.php, Datum des Zugriffs 28.03.2023.


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