Julius Daven, Andreas Schrenk (Hrsg.): Ehrenamtliche Wegbegleitung in der Kinder- und Jugendhilfe
Rezensiert von Prof. Dr. Claudia Schellenberg, 09.11.2023

Julius Daven, Andreas Schrenk (Hrsg.): Ehrenamtliche Wegbegleitung in der Kinder- und Jugendhilfe. Auftrag, Inhalte, Herausforderungen. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2023. 208 Seiten. ISBN 978-3-497-03192-4. D: 33,00 EUR, A: 34,00 EUR.
Thema
Das Buch richtet sich an alle an der ehrenamtlichen Wegbegleitung von jungen Menschen, die in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe aufwachsen, Interessierten. Das Herausgeberwerk umfasst theoretisches und praktisches Wissen zur ehrenamtlichen Begleitung von Jugendlichen mit schwierigen familiären Hintergründen, eignet sich für Fachkräfte aus den Bereichen soziale Arbeit, Bildungsarbeit, Jugendarbeit und Psychologie und für Personen, welche selbst den Weg als Wegbegleiter:in beschreiten und entsprechende Aufgaben übernehmen möchten.
Autor:in oder Herausgeber:in
Julius Daven ist selber ehrenamtlicher Wegbegleiter und ehrenamtlicher Vormund (u.a. für minderjährige Flüchtlinge) und bringt daher praktische Erfahrung zum Thema mit. Zudem hat er ein Forschungsprojekt zur ehrenamtlichen Begleitung von Jugendlichen durchgeführt (Daven, 2021), engagiert sich in den sozialen Hilfen und ist auch als freier Autor tätig.
Prof. Dr. Andreas Schrenk ist diplomierter Pädagoge und Sozialpädagoge (FH), hat über 25 Jahre Erfahrungen in Leitungstätigkeit und Jugendhilfepraxis im komplexen und hochdynamischen Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendhilfe und ist Führungskräfteentwickler.
Am Buch haben sich 15 weitere Autor:innen beteiligt, welche theoretisches und praktisches Wissen aus verschiedenen Bereichen und Fachgebieten (z.B. soziale Arbeit, Psychologie, Recht) mitbringen.
Entstehungshintergrund
Das Buch hat zum Ziel, den Diskurs zu Chancen und Risiken von ehrenamtlicher Wegbegleitung weiterzuführen – eine erste Diskussion fand bereits im Buch von Julius Daven „Bist du tot oder bin ich tot. Wegbegleitung für Kinder und Jugendliche“ (Daven, 2021) statt. Dabei wird die Idee verfolgt, genau anzudenken, wie das System einer ehrenamtlichen Wegbegleitung das bestehende Angebotssetting der Heimerziehung ergänzen kann, damit die soziale Teilhabe von jungen Menschen und ihr persönliches Leben verbessert werden kann.
Aufbau
- Vorwort und Einleitung: Hier wird in das Buch eingeführt und dabei auch der Aufbau genauer erörtert.
- Teil I: Grundlagen und theoretische Ansätze: 9 Autor:innen schaffen die theoretische Einbettung des Themas aus verschiedenen Blickwinkeln – wie z.B. Gelingen der pädagogischen Wegbegleitung aus der Sicht von Resilienz, Trauma, Kinderrechte, Empowerment, Selbstwirksamkeit, Zusammenarbeit von ehrenamtlichem Engagement und sozialer Arbeit.
- Teil II: Umsetzung und Initiierung von Wegbegleitung. In diesem Teil beleuchten 8 Autor:innen zentrale Themen zur konkreten Umsetzung von Wegbegleitung, wie z.B. Schaffung von Schutzkonzepten, Chancen und Risiken einer ehrenamtlichen Tätigkeit, Standards für die professionelle und organisatorische Umsetzung, Durchführung von Supervisionen.
- Zum Abschluss folgt ein Literaturverzeichnis der erwähnten Quellen, ein Sachregister mit Schlagworten zu zentralen Begriffen, sowie eine Übersicht über alle beteiligten Autor:innen.
Inhalt
Zu Beginn (1) beleuchtet Kiaras Gharabaghi im Vorwort (S. 12 -13) das Potenzial des Konzeptes der Wegbegleitung und die Grenzen, damit ehrenamtlich Tätige nicht überfordert werden und die Beziehungen positiv (z.B. ohne vorzeitige Abbrüche) verlaufen. Die beiden Herausgeber Andreas Schrenk und Julius Daven zeigen in der Einleitung (S. 14 ff.) kurz und schlüssig, welche Ziele das Buch verfolgt und wie es aufgebaut ist. Sie möchten „ein praxistaugliches und für alle Beteiligten tragfähiges Konzept in den deutschsprachigen Ländern zur Verfügung stellen“ (S. 16).
Teil I der Grundlagen und theoretischen Ansätze (2) (S. 18 ff.) startet mit einem Beitrag von Christoph Steinebach und Ursula Steinebach zur Beziehung zwischen ehrenamtlicher Wegbegleitung und Förderung von Resilienz der Jugendlichen. Wichtig ist die beratende Begleitung der Jugendlichen, welche hilft, schwierige Fragen des Lebens zu lösen. Gute Mittel sind dabei beispielsweise Lob und die Stärken des Jugendlichen in den Vordergrund zu rücken. Es wird auch die Idee von Fallbesprechungsgruppen skizziert, wo sich Ehrenamtliche gegenseitig unterstützen.
Der Beitrag von Josephin Martin beleuchtet das Thema aus Sicht der Bindungstheorie und schafft Verständnis dafür, wie Jugendliche in stationären Jugendhilfeeinrichtungen oft in der Vergangenheit negative Bindungserfahrungen gemacht haben. Zentral in der Begleitung der Jugendlichen ist, dass sie durch die Unterstützung der Wegbegleiter:innen korrigierende Bindungserfahrungen machen können, was einen positiven Einfluss auf die psychosoziale Entwicklung der jungen Menschen haben kann.
Ralph Kirscht behandelt das Thema Trauma und zeigt unter anderem, welche Ereignisse für Trauma verantwortlich sein können (z.B. gibt es neben „Big Trauma“ auch weniger bewusste „Small-Trauma“, S. 43). Regelmässige Treffen mit einer Begleitperson können korrigierende Beziehungs- und Bindungserfahrungen schaffen. Voraussetzungen sind, dass Wegbegleiter:innen auch über traumapädagogisches Fachwissen verfügen, selbstreflektiert sind (z.B. bezüglich eigener Geschichte) und eine gute Haltung haben („Mitgefühl anstatt Mitleid“, S. 50).
Im Beitrag von Volkert Augustyniak werden Kinderrechte detailliert vorgestellt und Bereiche aufgezeigt, in denen Kindern und Jugendlichen Unterstützung zusteht; so unter anderem das Recht auf Bildung, Spiel oder Freizeit. Ehrenamtliche Wegbegleiter:innen vergrössern die Chance, dass durch die Kinderrechte festgeschriebenen Möglichkeiten im Leben ausgeschöpft werden können.
Andrea Warnke und Vaida Lindemann schaffen die Grundlagen für die Begriffe Empowerment und Partizipation – Kinder und Jugendliche sollten noch stärker als bisher in die Planung und Gestaltung von Unterstützungsprozessen einbezogen werden. Ressourcen und „Dinge die funktionieren“ stehen im Mittelpunkt, und „Kinder und Jugendliche sind die ExpertInnen, um Lösungen für ihre Belange zu formulieren“ (S. 70).
Andreas Schrenk beleuchtet in seinem Betrag, welche Einflüsse (z.B. familiäre aber auch aktuelle Begebenheiten wie Corona, Kriegsgeschehen) auf junge Erwachsene haben, welche Rolle die Selbstwirksamkeit bei der Bewältigung von Krisen spielt und wie Wegbegleiter:innen mit diesem Wissen umgehen können.
Der Beitrag von Aaron Schulze adressiert die Lücke, welche ehrenamtliche Begleitung ausserhalb der Jugendhilfeeinrichtungen ausfüllen kann. Wenn beide Hilfesysteme parallel arbeiten, kann das von grossem Nutzen sein. Er beleuchtet auch die Voraussetzungen, dass dies gelingen kann, indem etwa ehrenamtlich Tätige Aspekte wie eigenes Menschenbild, persönliche Erfahrungen, Einschätzung des Benefits des Mentorings (z.B. als soziale- oder Karrierefunktion oder Selbstwertfunktion) kritisch hinterfragen.
Teil II der Umsetzung und Initiierung von Wegbegleitung (3) (S. 91 ff.) beginnt mit einem Beitrag von Gregor Hensen über die Entwicklung von Schutzkonzepten, welche bei der Gestaltung der ehrenamtlichen Begleitung, zusammen mit allen Beteiligten, herausgearbeitet werden sollten. Dabei muss neben dem Recht auf Schutz des jungen Menschen auch über „Verwirklichung von Beteiligungs-, Förderrechte und Teilhaberechte diskutiert werden“ (S. 103).
Matthias Schwabe zeigt weitere Bausteine einer gelingenden ehrenamtlichen Begleitung auf: Grundlegend ist auch eine gute Passung, welche zwischen den individuellen Bedürfnissen des Kindes und dem Angebot der wegbegleitenden Person vorliegen muss.
Menno Baumann beleuchtet die unterschiedliche Chance von unbezahlte gegenüber bezahlter Begleitung. So bleiben z.B. Beziehungen auch nach Übergängen (z.B. Schulabschluss, Heimwechsel, selbstständig werden ab 18 Jahre) bestehen und freiwillige Begleiter:innen können in verschiedene Alltagssituationen spontan einspringen (z.B. Begleitung zu Festen, Sportanlässen, etc.).
Der Beitrag von Roswitha Maria Burri befasst sich mit Leaving-Care – dem Übergang vom Heim in die Selbstständigkeit und der wichtigen Rolle, welche eine Wegbegleitung in dieser Phase spielt.
Julius Daven beschreibt, welche Voraussetzungen Wegbegleiter:innen mitbringen sollten, welche Aufgaben auf sie zukommen und welche Rechte und Unterstützungsmöglichkeiten sie haben. Es wird eine Aussage eines Jugendamtarbeiters zitiert: „Gerade besondere Jugendliche brauchen nicht immer nur pädagogische Fachkräfte um sich herum, sondern bisweilen einfach nur ganz normale Menschen, die ohne fachliche Erwartungen und Erklärungen an die Arbeit gehen. Natürlich kann das kein Ersatz für ausgebildete Fachkräfte sein, aber eine Ergänzung durchaus“ (S. 145).
Im folgenden Kapitel stellen Julius Daven und Andreas Schrenk Standards der Wegbegleitung vor, die von einem guten Auswahlprozess über eine optimalen Passung zwischen Jugendlichen und Wegbegleiter:innen bis hin zu einer professionellen Begleitung der Ehrenamtlichen reicht.
Anke Höhne betont in ihrem Kapitel die wichtige Bedeutung der Supervision von Ehrenamtlichen während der Wegbegleitung und gibt Anregungen zur gelingenden Umsetzung. Alicia Sailer schließt Teil II mit einem Kapitel zur Einbindung digitaler Technologien (z.B. im Bereich der Information, Aus- und Weiterbildung, Kommunikation) in die Gestaltung von Prozessen der Wegbegleitung ab.
Im letzten Teil (4) (S. 181 ff.) befindet sich ein Literaturverzeichnis, Angaben zu den verschiedenen Autor:innen und Herausgeber:innen sowie ein Sachregister mit Seitenangaben, wo verschiedene Themen im Buch zu finden sind.
Diskussion
Ehrenamtliche Wegbegleitung kann eine sehr sinnvolle Ergänzung zu bestehenden Angeboten in der Kinder- und Jugendhilfe sein und eine wichtige Lücke schliessen, junge Erwachsene in schwierigen Lebenssituationen (und zum Teil bisher unbegleitet – „Leaving Care“) sinnvoll zu unterstützen. Das „individuelle 1:1-Setting ergänzt die Betreuung von Kindern und Jugendlichen durch eine Betreuungsperson ausserhalb des unmittelbaren Heimumfeldes, exklusiv, individuell und dauerhaft“ (S. 15). In verschiedenen Ländern gibt es bereits ehrenamtliche Mentor:innen-Programme, welche mit dem Ansatz der Wegbegleitung teilweise vergleichbar sind. Allerdings strebt die ehrenamtliche Wegbegleitung zudem an, konzeptionell in bestehende Angebote der Jugendhilfe eingeplant zu werden, um fruchtbare Zusammenarbeiten und gegenseitige Entlastung zu ermöglichen. Das Potenzial dieses Ansatzes wird in diesem Buch sowohl aus theoretischer als auch aus praktischer Sicht umfassend dargestellt, wobei auch auf die Grenzen reflektiert Bezug genommen wird. Die 18 Autor:innen beleuchten unterschiedliche Aspekte der Wegbegleitung, welche sehr hilfreich sind, um die Bedürfnisse der Jugendlichen in Heimeinrichtungen besser zu verstehen, Einstellungen und Haltungen als Wegbegleiter:in zu überdenken und vielfältige Unterstützungsformen (im Bereich Supervision, Zusammenarbeit mit der sozialen Arbeit) kennenzulernen. Projekte, die sich mit einer wissenschaftlichen Begleitung (z.B. Evaluation, Längsschnittstudien) des Ansatzes der ehrenamtlichen Wegbegleitung befassen, liegen im Buch nicht vor, da es hierzu auch kaum Studien gibt. In der Forschung zu verschiedenen Übergängen (z.B. Schule-Beruf, Beruf-Erwerbsleben) zeigt sich immer wieder, dass es Jugendliche mit besonderen Problematiken gibt, welche „durch die Maschen fallen“ und bestehende Angebote nicht ausreichend sind (z.B. bei Abbrüchen der Berufsausbildung, bei der Unterstützung von Übergängen nach der Ausbildung ins Erwerbsleben) (Sabatella & von Wyl, 2018). Ansätze der ehrenamtlichen Wegbegleitung könnten hier wichtige Lücken schliessen und Jugendliche längerfristig und unabhängig von bestehenden Angebots-Strukturen auf eine niederschwellige Art sinnvoll unterstützen.
Fazit
Sehr empfehlenswertes Buch für alle, welche sich für die ehrenamtliche Begleitung von Jugendlichen in schwierigen Lebenslagen interessieren. Neben fundierten Einblicken in die theoretischen Grundlagen einer ehrenamtlichen Wegbegleitung werden auch viele praktische Anregungen gegeben, wie die Umsetzung gelingen und das bestehende Angebotssetting der Heimerziehung sinnvoll ergänzt werden kann.
Literatur
Daven, J. (2021). Bis du tot bist, oder bis ich tot bin. Wegbegleitung für Kinder und Jugendliche. Hamburg: Tredition.
Sabatella, F. & von Wyl, A. (2018). Jugendliche im Übergang zwischen Schule und Beruf. Psychische Belastungen und Ressourcen. Berlin: Springer.
Rezension von
Prof. Dr. Claudia Schellenberg
Professorin für die berufliche Integration von Jugendlichen mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik, Zürich; Berufs- und Laufbahnberaterin FSP
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Zitiervorschlag
Claudia Schellenberg. Rezension vom 09.11.2023 zu:
Julius Daven, Andreas Schrenk (Hrsg.): Ehrenamtliche Wegbegleitung in der Kinder- und Jugendhilfe. Auftrag, Inhalte, Herausforderungen. Ernst Reinhardt Verlag
(München) 2023.
ISBN 978-3-497-03192-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30264.php, Datum des Zugriffs 11.12.2023.
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