Frank Kuhne: Marx und Kant
Rezensiert von Dr. Alexander Brandenburg, 22.11.2023

Frank Kuhne: Marx und Kant. Die normativen Grundlagen des Kapitals. Velbrück GmbH Bücher & Medien (Weilerswist) 2022. 600 Seiten. ISBN 978-3-95832-306-3. D: 49,90 EUR, A: 49,90 EUR, CH: 59,90 sFr.
Thema
Auf fast 600 Seiten geht es in der vorliegenden Arbeit um die Frage, ob das Kapital von Marx als materialistische Wissenschaft auch normative – außerhalb der Kompetenz der positiven materialistischen Wissenschaft und der Einzelwissenschaften liegende – Grundlagen hat. Ist es doch Marx selbst, der einerseits das Kapitalverhältnis mit großer moralischer Empörung kritisiert, andererseits eine materialistische Wissenschaft vertritt, für die Moral und Ethik nur als Gegenstand von Ideologiekritik taugen. Alle Diskussion über die vermeintlichen oder wirklichen normativen Grundlagen der Kapitaltheorie haben bisher kein Ergebnis gezeigt.
Unser Autor kommt letztendlich zu folgendem Ergebnis: Der moralische Begriff der Freiheit – Freiheit als Autonomie im kantischen Sinne – ist für die Kapitaltheorie als Kapitalkritik konstitutiv.
Autor
Frank Kuhne ist Lehrbeauftragter am Institut der Philosophie der Leibniz Universität Hannover. Seine Forschungsgebiete sind klassische deutsche Philosophie, Kritische Theorie und Marxsche Theorie. Er studierte Philosophie, Politikwissenschaft und Germanistik in Hannover und Braunschweig und wurde promoviert mit eines Arbeit über Marx, habilitiert mit einer Arbeit über Selbstbewusstsein bei Kant und Fichte.
Aufbau und Inhalt
Die Einleitung gibt uns einen Einblick in die Diskussionen der „Kritik der politischen Ökonomie“ unter den Leuten des Faches: Kautsky und Lenin, die sich mit ihrer objektivistischen Leseart auf Engels und Marx berufen können. Im Unterschied zu diesem orthodoxen Marxismus nehmen die sich Ende des 19., Anfang des 20 Jahrhunderts in die Diskussion einschaltenden Sozialisten der Marburger Schule die Frage nach den normativen Grundlagen der marxschen Lehre ernst. Vorländer, Stammler, Cohen und Staudinger mit ihrer „falschen“ Parole „Zurück zu Kant“ gehören dazu. Bernstein, Albert Lange, der Austromarxist Max Adler und die Begründer der Kritischen Theorie werden ebenfalls mit ihren Ansätzen der Auseinandersetzung mit dem Kapital vorgestellt. Es folgen weitere Interpreten des Kapitals: Lohmann, Wellmer, Wildt, Heinrich etc. Abschließend wird ein Blick auf die analytische Philosophie und auf die von Rawls’ „Theorie der Gerechtigkeit“ ausgehenden Diskussionen geworfen.
Teil 1 (Kant)
Thema des Kapitels 1: Die Wirklichkeit der Freiheit als Vermögen der Autonomie.
Als Adressaten einer unbedingten Forderung unserer eigenen reinen praktischen Vernunft sind wir im emphatischen Sinne frei.
Thema des Kapitels 2: Der Sinn der Moral.
Das nicht zu leugnende Bewusstsein unbedingter Verpflichtung konstituiert die Doppelnatur des Menschen als intelligibles Vernunftwesen und bedürftiges vernünftiges Wesen und damit die Differenz von kategorischem Sollen und Sein, von Kausalität aus Freiheit und Naturkausalität, unbedingtem Sollen und faktisch bedingtem Wollen.
Thema des Kapitels 3: Die Reduktion der Freiheit auf Autonomie.
Anhand der Interpretation der drei Kritiken – Kritik der reinen Vernunft, Kritik der praktischen Vernunft und Kritik der Urteilskraft – kommt Kant zu der Ansicht, dass die historische Entwicklung mehr als ein Naturgeschehen ist und insgesamt auf ein gutes Ende zuläuft. Die Idee einer wollenden, planenden und handelnden Natur konstituiert das planlose Aggregat menschlicher Handlungen zu einem systematischen Ganzen namens Geschichte.
Teil 2 (Exkurs zu Hegel)
Thema des Kapitels 1: Der Begriff des Willens als Wille des Begriffs.
Das Recht wird als Vernunftrecht verstanden, Vernunft als reines Selbstbewusstsein oder reine Subjektivität. Der Boden des Rechts – so heißt es in der Hegelschen Rechtsphilosophie – ist überhaupt das Geistige und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frei ist, so dass die Freiheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht, als ein zweite Natur ist.
Thema des Kapitels 2: Fragen an Hegel.
Die Weltgeschichte erscheint bei Hegel als eine formale Entwicklung eines abstrakten Prinzips in der Zeit, jedenfalls nicht im Zusammenhang mit den Begriffen Person, Moralität, Familie, Sittlichkeit, Staat, die der Entwicklung erst Sinn verleihen würden.
Hegel ist aufgrund seines Begriffs der Philosophie genötigt, die praktische Philosophie „theoretizistisch“ zu begreifen als die Wissenschaft, welche die vernünftigen Prinzipien der historischen, gesellschaftlichen Welt quasi aristotelisch auf den Begriff bringt, statt wie Kant aus reiner praktischen Vernunft Prinzipien abzuleiten, nach denen diese Welt sukzessiv und ins Unendliche verändert werden soll.
Ist der hegelsche Beweis des Begriffes des Staates angemessen? Der von Hegel hergestellte begriffliche Zusammenhang von bürgerlicher Gesellschaft und Staat ist sachlich falsch. Gleichwohl kann das von Hegel konstatierte Heraustreiben der bürgerlichen Gesellschaft über sich selbst als eine historisch erkannte Dialektik betrachtet werden.
Teil III ( Marx)
Kapitel 1: Über einige Selbstmissverständnisse der „materialistischen“ Wissenschaft
Für die Kapitaltheorie als Kapitalkritik ist Kants emphatischer Begriff der Freiheit des Willens konstitutiv. Feuerbach und Hegel prägen das Hauptwerk, ohne dass Marx davon ein adäquates Bewusstsein hat.
Die evolutionistische Deutung der Arbeit
Wird das Subjekt der Arbeit begrifflich nicht als Subjekt technisch-praktischer Vernunft gefasst, wird nicht gesehen, dass es sich bei der Arbeit um eine Handlung handelt. Handlungen sind vernunftgeleitet, sie unterliegen hypothetischen Imperativen, also Normen, die als solche nicht einfach in der Natur vorkommen.
Produktivkraftentwicklung als Befreiung von Naturzwängen
Marx nimmt die Unbedingtheit des geistigen Elementes des historischen Prozesses nicht ernst. Der Produktivkraft der Arbeit wird keine Selbständigkeit gegenüber dem historischen Prozess eingestanden.
Die Kritik der Philosophie
Die materialistische Geschichtsauffassung wird von Marx im Namen der Wissenschaft und ihres Wahrheitsanspruches propagiert. Erst auf ihrer Grundlage ist Wissenschaft statt Ideologie möglich und das heißt vor allem: Wissenschaft statt Philosophie möglich.
Die materialistische Wissenschaft fördert auch die Tendenz der bestehenden Produktionsweise zur Selbstauflösung zutage, die Errichtung der neuen Gesellschaft kann aber nur die bewusste Handlung der Arbeitenden sein. Was sich hinter dem Rücken der Arbeiter durchsetzt, kann nur theoretischer Natur sein, die Notwendigkeit der Revolution ist praktischer Natur.
Die Nötigung zur Philosophie
Marx Kritik der Philosophie versteht sich selbst nicht als philosophisch. Sie will philosophisches Denken von einem Standpunkt außerhalb der Philosophie kritisieren. Der propagierte Abschied von der Philosophie misslingt. Seinem materialistischen Programm entgegen wird Marx wieder philosophisch werden, um mit Grund von der nachkapitalistischen als der „höheren“ Gesellschaftsform sprechen zu können.
Überdies enthält die Kapitaltheorie keinen stichhaltigen Grund, der gegen die Möglichkeit einer kapitalistischen Gesellschaft spräche, in der die Arbeitsverkäufer subjektiv mit ihren Arbeitsbedingungen und ihrem Lebensstandard im Großen und Ganzen zufrieden wären.
Auch um diese Besprechung nicht ausufern zu lassen, will ich nunmehr die weiteren Kapitel kurz auflisten: Es folgen ausführliche Erläuterungen zur Kapitaltheorie, Überlegungen zum Ideologiebegriff, eine Abhandlung des Verhältnisses von Kapitaltheorie und praktischer Philosophie sowie Auslegungen über Die Darstellung im Kapital und zur Kapitaltheorie und Geschichtsphilosophie.
Ein ausführliches Literaturverzeichnis (Quellen und Sekundärliteratur sowie sonstige Literatur) und ein Personenverzeichnis schließen die Arbeit ab.
Diskussion
Das Opus bedarf eines Lesers/​einer Leserin, für den Kant, Hegel und Marx keine Fremdwörter mehr sind. Es ist in der Tat keine einfache Lektüre. Es wird erwartet, dass er/sie sich in vielen Fragen auskennt und in der Lage ist, auch komplexen Fragestellungen zu folgen und – nicht zuletzt – den Zusammenhang der ganzen Argumentation lebendig zu halten. Mir ist das nicht immer leicht gefallen. Zudem gibt es auch zahlreiche Längen in der Darstellung, die die 600 Seiten erklären helfen.
Die Entwicklung der kapitalistischen Verhältnisse befördert die Entwicklung von Klassenbewusstsein und Klassenhandeln und wird zum einzigen Weg für eine „materialistische“ Wissenschaft, welche die. bestehende Gesellschaft nicht durch philosophische Ideen und/oder bessere Gesellschaftsformen kritisieren will, sondern im Namen der Interessen der Mehrheit der Menschen und auf der Grundlage des real Möglichen. Was aber, wenn die Arbeitskraftbesitzer diesem Appell nicht folgen und mit der kapitalistischen Produktionsweise zufrieden sind? Dann bleibt die Aussicht auf die Vernunft des Menschen: …Aber er ist doch nicht so ganz Tier, um gegen alles, was Vernunft für sich selbst sagt, gleichgültig zu sein. Auch das ist eine der normativen Grundlagen des Kapitals, ohne die das Kapital wohl nicht abgeschafft werden kann.
Bleibt noch die Variante, dass das Kapital überhaupt keine Theorie der Revolution ist, sondern eine Theorie der Vorrangigkeit der industriellen Revolution und der Anpassung der arbeitenden Klassen an deren Notwendigkeiten. Hier würde ich unseren Autor ansiedeln.
Fast hätte ich diese Kleinigkeit vergessen: Unser Autor zitiert den für die sich formierende Arbeiterbewegung in Europa und Übersee und besonders auch für Marx bedeutsamen Wilhelm Weitling und unterstellt ihm, dass er die wirkliche Bewegung nicht kenne und moralisiere. Diese Einschätzung spricht nicht für eine Weitling – Lektüre und eine für unsere Thematik erforderliche Kenntnis der wirklichen geschichtlichen und sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts. Von Weitlings Zeit in Amerika will ich erst gar nicht sprechen! Die Beschäftigung mit Marx geht nicht ganz ohne Kenntnis der sozialen Bewegungen.
Fazit
Wer Lesefreude besitzt, Geduld mitbringt sowie Spaß am Nachdenken und Nachschlagen in der einschlägigen Literatur hat, findet mit „Marx und Kant“ ein anregendes, kritisches und zur Diskussion herausforderndes Buch.
Rezension von
Dr. Alexander Brandenburg
Leiter der Abteilung Gesundheitsförderung und Gesundheitsplanung bei der Stadt Herne
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