Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Tilman Weigel: Alternative Fakten.

Rezensiert von Prof. Dr. René Gründer, 11.05.2023

Cover Tilman Weigel: Alternative Fakten. ISBN 978-3-8382-1366-8

Tilman Weigel: Alternative Fakten. Was darf ich noch glauben? ibidem-Verlag (Hannover) 2022. 240 Seiten. ISBN 978-3-8382-1366-8. D: 22,00 EUR, A: 22,60 EUR, CH: 25,80 sFr.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Kaufen beim socialnet Buchversand

Meinung und Fakten

Ukrainekrieg, Klimawandel, Homöopathie und Corona-Schutzimpfungen sind nur vier exemplarische Diskursfelder, an denen der gegenwärtige Strukturwandel öffentlicher Meinungsbildungsprozesse deutlich wird. Wenn „die Wissenschaft“ aufgrund ihrer Indienstnahme durch politische Interessen an Autorität verliert und die öffentlich-rechtlichen Medienanstalten als überwiegend regierungsnahe Verlautbarungsinstitutionen wahrgenommen werden, gewinnen alternative Akteure der Wirklichkeitsdeutung auf den digitalen Medienplattformen an Bedeutung für die Meinungsbildung. Der „Kampf um die Wahrheit“ (Anton/​Schink 2021) tobt heute nicht nur auf Social-Media-Kanälen, sondern auch auf dem Buchmarkt. Das zu besprechende Werk von Tilman Weigel reiht sich dabei in eine Reihe aufklärerisch-populärwissenschaftlicher und soziologischer Werke mit z.T. ähnlichen Titeln ein (vgl. Betsch 2022; Kumkar 2022), die sich mit der grundlegenden Verunsicherung gesellschaftlicher Sinnstiftungssysteme durch die Transformationen der Mediensphäre und den breiten Siegeszug manipulativer Informationskampagnen beschäftigen. Diesen Texten gemeinsam ist die Wahrnehmung, dass Konsensbildungsprozesse über nationale und globale Themen heute durch eine Vielzahl konfligierender Entwicklungen (Stichwort: neuer Strukturwandel von Öffentlichkeit) erschwert erscheinen. Weigels Ziel besteht nun in der Beantwortung der Fragen, ob bzw. inwiefern die Rede von „postfaktischen Zeiten“ eine brauchbare Gesellschaftsanalyse der Gegenwart darstellt und welche Folgen aus den Veränderungen des orthodoxen Wirklichkeitsregimes für Journalismus, Medienkompetenzbildung und Wissenschaftskommunikation erwachsen.

Autor

Tilman Weigel ist Dozent für empirische Sozialforschung an der EFH Nürnberg und betreibt ein populärwissenschaftlich ausgerichtetes Blog auf dem in loser Folge vertiefende Interpretationen zu öffentlichen Statistiken unterhaltsam aufbereitet werden.

Aufbau

Der Textteil des Buches umfasst 224 Seiten und gliedert sich in fünf Kapitel zu den Themen: Fakten und Relativität von Wahrheit, „Leben wir in postfaktischen Zeiten?“, Aufwertung von Wissenschaft, Alternative Fakten in der Corona-Pandemie sowie abschließenden Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unzutreffenden Pseudofakten im Diskurs. Im Fazit, das etwas sibyllinisch mit „Wir leben nicht in postfaktischen Zeiten, aber auch nicht in faktischen“ betitelt wurde, fasst Weigel die Erträge seiner Erörterungen zusammen.

Inhalt

Nach Ansicht des Autors gehen die aktuellen Verunsicherungen über die Geltung von Faktenwissen auf die Erschütterung des Aufklärungsprogramms durch die Erfahrung des Totalitarismus im 20. Jahrhundert und dessen Verarbeitung in der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule der Sozialwissenschaft zurück. Die an die Resultate des sog. Positivismus Streits (Popper vs. Adorno/​Horkheimer) anknüpfende „neue Linke“ habe sich letztlich auf Seiten der (französischen) postmodernistischen Philosophie geschlagen, um die Standort- und Kontextgebundenheit eines jeden etablierten Wissens für ihre Machtkritik fruchtbar zu machen. Diese Ersetzung von objektiven Geltungsansprüchen durch eine perspektivische Relativität von Faktenwissen bereitete nach Weigel die Grundlage für heutige ‚alternative Fakten‘. Deren bewusste Verbreitung sei mithin nichts anders als „angewandter Postmodernismus“.

Dabei positioniert sich der Autor erkenntnistheoretisch zwischen positivistisch-objektiver und postmodernistisch-relativer Wissensordnung: „Eine absolute Wahrheit kann nicht von uns Menschen erkannt werden. Wir können uns ihr aber annähern oder zumindest festlegen, welche Optionen mit größerer Wahrscheinlichkeit wahr sind.“ (S. 27). Hieraus spricht die vorsichtig-probabilistische Perspektive des Sozialstatistikers, in deren Licht die Themen im Buch verhandelt werden.

So werden im ersten Kapitel neben klassischen Fehlerquellen der menschlichen Psyche und Sinnesstruktur die methodologischen Grenzen wissenschaftlicher Faktenschaffung dargelegt. Wissenschaft kann nicht blind vertraut werden, aber sie kann dennoch eher Orientierung bieten als subjektive Bauchgefühle und Gruppenmeinungen (S. 71).

Im Kapitel zur „Postfaktizität“ unserer Gegenwart diskutiert Weigel den Strukturwandel der Mediensphäre und des Journalismus. Dabei rezipiert er die aktuellen kommunikationswissenschaftlichen Kontroversen um den Siegeszug alternativer Onlinemedien und den Niedergang klassischer Formate bzw. die „Abkehr vom Faktenjournalismus“ (S. 109). Filterblasen und Echokammern (S. 128) werden ebenso diskutiert wie Thesen zum Glaubwürdigkeitsverlust klassischer Medien und Parteilichkeit von Journalisten (S. 132).

Im Zwischenfazit (S. 156) bekräftigt der Autor seine Analyse, nach der es – namentlich an den führenden US-amerikanischen Universitäten – zu einer „Abkehr von empirischer Evidenz“ gekommen sei und im Zuge eines „angewandten Postmodernismus“ heute in vielen Disziplinen „nicht mehr die vorurteilsfreie Forschung im Mittelpunkt steht, sondern das Verkünden politischer Meinungen.“ (ebd.). In Referenz auf Helen Pluckrose und Alan Sokals berühmten „Realversuch“ zur Platzierung sinnfreier postmodernistisch formulierter Aufsätze in peer-reviewten Fachzeitschriften (Sokal-Hoax) wird abermals die verheerende Wirkung eines postmodern-epistemischen Relativismus (S. 164) herausgestellt, der letztlich als Ausdruck zeitgenössischer Gegenaufklärung (ebd.) einzuordnen wäre. Mit anderen Worten: Die Aufklärungskritik der Kritischen Theorie Adornos und Horkheimers hätte letztlich der postmodernen Gegenaufklärung die Tore der geisteswissenschaftlichen Fakultäten geöffnet über die sie zur Rechtfertigung aktueller Macht- und Herrschaftsstrukturen (von „Links“ bis „Rechts“ funktionalisiert werden konnte. (S. 165 ff.) Gleichzeitig sieht Weigel aber einen wachsenden Bedarf an verlässlichem, objektive Handlungsmöglichkeiten absichernden Wissen. Dieses Wissen kann nur aus einem positivistischen Wissenschaftsverständnis heraus generiert werden. Einer Zunahme gesellschaftlicher Relevanz von Wissenschaft und Expertise (Follow the Science!) steht mithin deren Vereinnahmung durch postmoderne/​weltanschaulich imprägnierte Gegenaufklärung gegenüber.

Als Handlungsvorschläge unterbreitet der Autor schließlich vier Ideen, um „Diskussionen faktenbasierter“ zu machen. Hierzu gehören Open News-Konzepte, die sich auf reine Nachrichtenmeldungen durch „unabhängige Anbieter“ beschränken (S. 198), größere Diversität journalistischer Persönlichkeiten (und Meinungen) in der Medienlandschaft sicherstellen (S. 200), Politische Bildung und Statistikkompetenzförderung in der Bevölkerung gezielter angehen sowie nicht zuletzt „Mehr Politik wagen“ (S. 205).

Im Fazit erkennt Weigel schließlich, dass die Frage nach dem Status einer faktischen oder postfaktischen Gegenwart nicht abschließend sinnvoll zu beantworten ist: „Denn es gab nie eine ‚faktische Gesellschaft‘.“ (S. 215). Soziologisch korrekt erkennt er die steigende Polarisierung der Gesellschaft als eine Ursache für zunehmende Faktenabstinenz einzelner Milieus sowie der Emotionalisierung von Diskursen zwischen den Gruppen. „Dass so viel über Alternative Fakten (sic!) geredet wird, hat (…) weniger mit deren Zunahme zu tun, sondern vor allem mit deren gestiegener Sichtbarkeit, einer geringeren Bereitschaft andere Meinungen zu akzeptieren und einem starken Wunsch nach Eindeutigkeit.“ (S. 217). Mit der Forderung nach Schaffung von „mehr sozialer Gleichheit“ (S. 222) und stärkerer Regulierung monopolistischer Datenunternehmen wie Google endet das Werk.

Diskussion

Tilmann Weigels Buch funktioniert recht gut als niederschwellige Einstiegslektüre in die wissenschaftstheoretischen und kommunikationswissenschaftlichen Ansätze zum Verständnis der Karriere ‚alternativer Fakten‘. Ob die vorgetragene These der postfaktischen Gesellschaft als Produkt postmodernistischer Aufklärungskritik in der Stärke trägt, die der Autor ihr bescheinigt, darf aber bezweifelt werden. Hierzu wären die thematisch ähnlichen Bücher von Betsch (2022) und Kumkar (2022) kontrastierend zu lesen. Gerade Kumkars Argumentation läuft der von Weigel entgegen: „Das Problem an „alternativen Fakten“ ist nicht, dass sie die Wirklichkeit verdrehen, sondern dass sie den politischen Diskurs verschieben.“ (Gess 2023). Wenig überzeugt auch die verkürzte Rezeption von Uwe Krügers (2016) Text zum Vertrauensverlust in die Mainstream-Medien, da Weigel auf dessen zentralen Befund der „Verantwortungsverschwörung“ von Journalisten und Politik nicht eingeht.

Aus Sicht des Rezensenten hätte Tilman Weigels Text ein Verzicht auf die eingestreuten Meinungskommentare des Autors (z.B. S. 27, 191) gutgetan, da diese sachlich entbehrlich wären. Das Kapitel zur Corona-Pandemie erscheint etwas bemüht, hierzu gibt es im selben Verlag (ibidem) mittlerweile gehaltvollere Analysen (vgl. Kostner/​Lieske 2022). Der Anmerkungsapparat ist verwirrend gestaltet – es gibt eine Kombination aus 255 Endnoten (aber kein Literaturverzeichnis!) und kommentierenden Fußnoten ohne Durchnummerierung. Das Inhaltsverzeichnis ist nicht numerisch gegliedert, was die Orientierung im Text etwas erschwert. Dem Verlag ist mit der billigen Druckqualität kein Meisterwerk gelungen, da die Druckerschwärze beim leichtesten Feuchtigkeitskontakt sofort verwischt, wodurch das Buch die Anmutung eines Tintenstrahldrucker-Produkts erhält.

Fazit

Tilman Weigel hat mit seinem Buch „Alternative Fakten“ einen diskussionswürdigen Beitrag zu Phänomenen und Hintergründen der gegenwärtigen Verschiebungen in der Mediensphäre und dem damit verbundenen neuen Strukturwandel von Öffentlichkeit im 21. Jahrhundert vorgelegt. Seine Kernthese, dass Kritische Theorie und postmoderne Philosophie als Wegbereiter eines „postfaktischen Zeitalters“ zu bewerten seien, dürfte ihrerseits einigen Anlass zur kritischen Würdigung liefern. 

Literatur

Anton, Andreas; Schink, Alan (2021): Der Kampf um die Wahrheit. Verschwörungstheorien zwischen Fake Fiktion und Fakten. Originalausgabe, 1. Auflage. München: Komplett-Media. Online verfügbar unter https://www.perlentaucher.de/buch/andreas-anton-alan-schink/​der-kampf-um-die-wahrheit.html.

Betsch, Tilmann (2022): Science matters! Wissenschaftlich statt querdenken. 1. Aufl. 2022. Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg. Online verfügbar unter http://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bsz:31-epflicht-2024528.

Gess, N. (2023). Blendgranaten der politischen Kommunikation: Rezension zu „Alternative Fakten: Zur Praxis der kommunikativen Erkenntnisverweigerung“ von Nils Kumkar. Soziopolis: Gesellschaft beobachten. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-85250-2.

Kostner, Sandra; Lieske, Tanya (Hg.) (2022): Pandemiepolitik. Freiheit unterm Rad? Eine interdisziplinäre Essaysammlung. ibidem-Verlag. Stuttgart: ibidem (Klartext. Schriften zu Politik und Gesellschaft, Band 1). Online verfügbar unter https://www.ibidem.eu.

Krüger, Uwe (2016): Mainstream. Warum wir den Medien nicht mehr trauen. Originalausgabe. München: C.H. Beck (C.H.Beck Paperback, 6232). Online verfügbar unter https://www.jstor.org/stable/10.2307/j.ctv1168gt6.

Kumkar, Nils C. (2022): Alternative Fakten. Zur Praxis der kommunikativen Erkenntnisverweigerung. Originalausgabe. Berlin, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. Online verfügbar unter http://www.content-select.com/index.php?id=bib_view&ean=9783518774731.

Rezension von
Prof. Dr. René Gründer
Duale Hochschule Baden-Württemberg Heidenheim, Fachbereich Sozialwesen. Homepage: https://www.heidenheim.dhbw.de/dhbw-heidenheim/ansprechpersonen/prof-dr-rene-gruender
Website
Mailformular

Es gibt 14 Rezensionen von René Gründer.

Besprochenes Werk kaufen
Sie fördern den Rezensionsdienst, wenn Sie diesen Titel – in Deutschland versandkostenfrei – über den socialnet Buchversand bestellen.


Zitiervorschlag
René Gründer. Rezension vom 11.05.2023 zu: Tilman Weigel: Alternative Fakten. Was darf ich noch glauben? ibidem-Verlag (Hannover) 2022. ISBN 978-3-8382-1366-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30271.php, Datum des Zugriffs 11.09.2024.


Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht