Alexandra Kauffmann: Wirkungsmacht unter dem intersektionalen Ansatz
Rezensiert von Angela M. Laußer, 05.04.2023

Alexandra Kauffmann: Wirkungsmacht unter dem intersektionalen Ansatz. Was bedeuten subjektive Unterdrückungserfahrungen im Ansatz der Intersektionalität für die Funktion Sozialer Arbeit?
MARTA PRESS
(Hamburg) 2022.
112 Seiten.
ISBN 978-3-948731-05-2.
D: 12,00 EUR,
A: 14,00 EUR,
CH: 16,00 sFr.
Reihe: Aspekte.
Thema
Der Untertitel des Buches benennt bereits die Kernfrage des Buches. Denn die zentrale These der Autorin ist, dass eine eindimensionale Sicht auf einzelne Diskriminierungsmerkmale nicht nur mit einer Ausblendung der strukturellen Mechanismen von Benachteiligung korrespondiert, sondern dadurch auch der individuellen Betroffenheit von Benachteiligung und Unterdrückung nicht gerecht werden kann. In Anlehnung an das Konzept der Intersektionalität versucht die Autorin daher den Verschränkungen mehrerer Dimensionen von Benachteiligungen und deren Auswirkungen auf die Spur zu kommen. Und sie geht der Frage nach, was kann und sollte Sozialarbeit tun, um nicht nur individuelle Anpassungsleistungen bei Menschen in prekären Lebenssituationen zu erwirken, sondern sie zu befähigen, dass sie ihre tatsächlichen Bedürfnisse erkennen und ihre Unterdrückung überwinden.
Autor:in
Alexandra Kaufmann ist gelernte Sozialpädagogische Assistentin, Erzieherin und Sozialarbeiterin. Sie lehrt in Hamburg und ist dort in der Jugendhilfe tätig. Neben ihrer Auseinandersetzung mit Themen der sozialen Ungleichheit engagiert sie sich für die Schaffung von Teilhabe und Schutzräumen im Bildungs- und Kulturbereich.
Entstehungshintergrund
In der Einleitung benennt die Autorin ihre an einer sozialen Gerechtigkeit orientierte Grundhaltung als Sozialarbeiterin, die sie zu dem vorliegenden Buch motiviert hat sowie ihre subjektiven Erfahrungen als „weiße, homosexuelle cis Frau, die in Armut aufgewachsen ist und able-bodied ist“ und der es nun aufgrund ihrer eigenen, teilweise schmerzlichen Anpassungsprozesse in der erreichten „Machtposition“ als Sozialarbeiterin ein Anliegen ist, Perspektiven zur Überwindung von gesellschaftlicher Benachteiligung und Unterdrückung zu entwickeln. Erwähnenswert ist noch, dass die Autorin nicht nur durchgängig eine gendergerechte Sprache verwendet, sondern auch rassistische Zuschreibungen meidet, indem sie das Wort „Schwarz“ groß und „weiß“ klein und kursiv schreibt, um zu verdeutlichen, dass es sich bei „Schwarz“ um eine unterdrückerische Konstruktion der Kategorie „race“ und bei „weiß“ um eine gesellschaftliche Machtkonstruktion handelt, die von Über- und Unterordnungsverhältnisse geprägt ist.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist inklusive der Einleitung in 6 Kapitel unterteilt, deren Kernaussagen im Folgenden skizziert werden:
- Einleitung: Alexandra Kaufmann benennt hier nicht nur ihre eigene Motivation für das Thema struktureller Benachteiligung, sondern rekurriert auch auf die Erfahrungen anderer Autoren wie z.B. Didier Eribon, der in seinem autobiografisch fundierten Buch „Rückkehr nach Reims“ den lebenslangen Prozess der Statustransformation beschreibt. Auf Basis ihrer Erfahrungen als Sozialarbeiterin, kommt sie zu der Ansicht, dass eine mehrdimensionale Perspektive notwendig ist, um Menschen in prekären Lebenssituationen gerecht werden zu können. Sie greift deshalb auf Literatur über den „Schwarzen Feminismus“ zurück und orientiert sich am Konzept des „praxeologischen intersektionalen Mehrebenenansatzes“ von Degele und Winker. Zugleich hat Alexandra Kauffmann den Anspruch, die Rolle und Funktion der Sozialarbeit in einem kapitalistischen System kritisch zu hinterfragen, um deren politische Kraft zu Gunsten der Menschen, die mehrfache Benachteiligungen erfahren, aufzudecken und zu mobilisieren. Eine Orientierung an die Befreiungspädagogik von Paolo Freire ermöglichen Ihrer Ansicht nach entsprechende emanzipatorische Handlungsoptionen sowohl für die Sozialarbeit als auch für ihre gesellschaftlich benachteiligten Adressat:innen.
- Was bedeutet Intersektionalität: die Autorin verortet die historischen Wurzeln des Konzeptes der Intersektionalität in den Stimmen von Schwarzen Frauen*, die in der Auseinandersetzung mit der feministischen Bewegung weißer (Mittelstands)Frauen* in den 70er Jahren, die ersten waren, die auf die Verschränkung mehrerer Unterdrückungsmechanismen aufmerksam machen. Welche besondere Wirkung eine mehrdimensionale, sich wechselseitig beeinflussende Intersektionaliät für die betroffenen Menschen bedeuten kann, zeigt sich in z.B. in der Frage: welche Erfahrung macht eine Frau, die lesbisch, aus dem Osten, Schwarz und Arbeiterkind ist? Es geht somit nicht um die Fokussierung auf einzelne Dimensionen von Mechanismen der Benachteiligung oder/und Exklusion sondern um die sich kreuzenden Verflechtungen mehrere Dimensionen und deren Auswirkungen auf die Subjekte, die Benachteiligung und Unterdrückung erfahren.
- Sichtbarkeit und Wirkungsweisen von Unterdrückung: in Anlehnung an Degele und Winker geht die Autorin davon aus, dass in einem System, in dem eine profitorientierte Ökonomie entsprechende hegemoniale Strukturen schafft Unterdrückung aus drei Perspektiven betrachtet werden muss: den gesellschaftlichen Strukturen inkl. Ihrer Institutionen (Makroebene), den kulturellen Symbolen (Repräsentationsebene) und den interaktiv hergestellten Prozessen der Identitätsbildung (Mikroebene). Sie beschreibt dann die drei Ebenen, die im intersektionalen Ansatz analysiert werden müssen und zwar: 1. die Strukturebene, auf der die soziale Lage der Gesellschaftsmitglieder sowohl hinsichtlich ihrer Erwerbsarbeit als auch ihrer Reproduktionsarbeit bestimmt werden kann. Besonders auf der Struktureben lässt sich über die vier Dimensionen – Klasse, Geschlecht, Race und Körper – die soziale Lage wie auch die Benachteiligungsmechanismen im Blick auf ungleiche Ressourcenverteilung bestimmen. Auf der zweiten, der „kulturellen Ebene“ sind die symbolischen Repräsentation (Normen, Werte, Ideologien) zu betrachten, die bestehende sozio-ökonomischen Bedingungen über die auf der 3. Ebene entwickelten Identitätskonstruktion, die in den Alltagspraktiken über interaktiven Prozessen entstehen, stabilisieren.
- Subjektive Sichtweisen auf Unterdrückung: in diesem Kapitel erörtert Alexandra Kauffmann wie sich die auf der strukturellen und kulturellen Ebene hergestellten sozialen Ungleichheiten und Unterdrückungsmechanismen auf das subjektive Erleben der Menschen auswirken, die über begrenzte Ressourcen verfügen oder die über Statustransformationen entsprechende individuelle Anpassungsleistungen erbringen müssen. Sie belegt diese Entwicklung allerdings ausschließlich mit Zitaten aus diversen autobiografisch fundierten Schriften wie z.B. von Lucien Eribon, der trotz seines sozialen Aufstieges, weder seiner Herkunft als Arbeiterkind entkommen noch sich dem neuen universitären intellektuellen Milieu zugehörig fühlen konnte. In den weiteren Abschnitten beschreibt die Autorin wie sich sowohl auf der kulturellen Ebene vermittelt über dominante Normen und Werte als auch über Identitätskonstruktionen die von Benachteiligung und Unterdrückung betroffenen Menschen sich diesem zugewiesenen Status fügen und allenfalls individuell aber nicht kollektiv aufbegehren. Sie erörtert zudem, wie aus intersektionaler Sicht zwischen benachteiligten Gruppen abgrenzende Positionen untereinander entstehen und damit bestehende Machtverhältnisse stabilisiert und reproduziert werden, z.B. selbst arme weiße Menschen grenzen sich von armen Schwarzen Menschen ab, da sie allein aufgrund ihrer Hautfarbe über ein Privileg verfügen, das sie in Konkurrenzsituationen nutzen können.
- Soziale Arbeit und ihre Zukunftsperspektiven: hier skizziert die Autorin einige Theorien zur Entstehung des Sozialstaates, um die Position und Funktion der Sozialarbeit bestimmen zu können. Bezogen auf die Gewährung sozialer Hilfen beschreibt sie dann die ökonomischen und politischen Bedingungen, die auf sozialstaatlicher Ebene den Rahmen bestimmen, welche benachteiligten Menschen, welche Art von Hilfe aufgrund systemrelevanter Bewertungen erhalten, also welche Individuen „verdienen“ die von staatlichen Instanzen definierten sozialen Hilfen. Was für die Sozialarbeit nicht nur bedeutet, dass sie immer in einem festen, sozialstaatlich definierten Rahmen agiert, ihre Hilfen somit begrenzt sind. Sie wird dadurch auch zu einer ausführenden Macht im Sozialstaat. Sozialarbeiter:innen sind somit allenfalls Krisenmanager:innen, indem sie Individuen in kritischen oder prekären Lebenssituationen dazu motivieren sollen Fertigkeiten zu erwerben, die zu einer (Re)Integration in das gesellschaftliche System führen oder wenn sie bereits dauerhaft aus dem System exkludiert wurden, sie soweit verwalten, dass sie die soziale Ordnung nicht stören. Im Blick auf die Perspektiven der Sozialarbeit kommt Alexandra Kaufmann zu der Ansicht, dass sie sich aufgrund ihrer Berufsethik und trotz der Begrenzungen, die sie durch den gesellschaftlichen Auftrag hat, von den systemstabilisierenden und unterdrückerischen Mechanismen lösen und im Sinne der „Pädagogik der Unterdrückten“ von Paulo Freire in einer „dialogischen Verständigung“ mit den Betroffenen tätig werden sollte. Sie erörtert auch Ansätze einer kritischen Sozialarbeit, die ihren Adressat:innen weniger Handlungsangebote offerieren, sondern sie „auf Augenhöhe“ dabei begleitet, dass sie ihre eigenen Ressourcen, wie auch ihre strukturelle Benachteiligungen erkennen, sie reflektieren und aktiv ihre eigenen Wege und Ziele finden.
- Fazit: im letzten Kapital resümiert Alexandra Kauffmann selbst ihre vorausgegangenen Darlegungen, hinsichtlich des Nutzens des intersektionalen Ansatzes für die Sozialarbeit und formuliert weitere Fragen, die sich für sie in der praktischen Arbeit als Sozialarbeiterin daraus ergeben. Letztlich ist ihr Fazit, dass Sozialarbeit ihren politischen Stellenwert als emanzipationsfördernde und nicht nur als die bestehende Herrschaftsverhältnisse stabilisierende Macht erkennen, reflektieren und zusammen mit ihren Adressat:innen in Aktionen der „Befreiung von Unterdrückung“ umsetzen sollte. Gleichwohl ist ihr bewusst, dass dies ein mühsames und langwieriges Unterfangen ist.
Diskussion
Das vorliegende Buch liefert einen bemerkenswerten Beitrag zur Rolle und Funktion von Sozialarbeit in der profitorientierten Gegenwartsgesellschaft, in der Subjekte vorrangig über ihre Erwerbsarbeit als vollwertiges Gesellschaftsmitglied anerkannt werden. Aus ihrer Argumentation wird erkennbar, dass es aus ihrer Sicht notwendig ist, dass die Sozialarbeit sich ihrer politischen Doppelrolle als Auftraggeber reglementierender staatlicher Institutionen einerseits und als politische Kraft im Sinne einer Aktivierung benachteiligter sozialer Gruppen wieder bewusstwerden sollte. Ihre Anlehnung an den intersektionalen Ansatz ermöglicht ihr den Blick nicht nur auf die strukturellen Rahmenbedingungen, sondern auch auf die über Normen und Werte vermittelten Anpassungen und Identitätskonstruktionen,die wenn sie misslingen, die Sozialarbeit als Krisenmanagement bzw. Reparaturinstanz auf den Plan rufen. Dieser systemkritische Blick ist an sich nicht neu, aber er scheint in den letzten Jahren im Zuge der Ökonomisierung des Sozialen und einer eher psychologisierenden Sozialarbeit, die vorrangig auf individuelle Hilfen fokussiert ist, etwas aus dem Blick geraten zu sein. Insofern ist die von Andreas Kauffmann vorgestellte intersektionale Analysestruktur ein anerkennenswertes Unterfangen, um sich der politischen Dimensionen der sozialarbeiterische Praxis bewusst zu werden. Einzig der etwas verkürzte Rekurs auf die Befreiungspädagogik von Paulo Freir erscheint mir etwas unvermittelt, zumal sie etwas plakativ vorgetragen wird und denkbare Umsetzungsschritte für die praktische Sozialarbeit nicht erkennbar werden
Fazit
Das vorliegende Buch ist sowohl Studierenden als auch Praktikern der Sozialarbeit zu empfehlen, die sowohl die Kernelemente des intersektionalen Ansatz entdecken als auch sich mit der gesellschaftspolitischen Relevanz der Sozialarbeit auseinandersetzen wollen.
Literatur
Degele, Nina und Winker, Gabriele (2007): Intersektionalität als Mehrebenenanalye. Quelle: http://portal-intersektionalität.de/theoriebildung/​ueberblickstexte/​delewinker/
Eribon, Didier (2016), Rückkehr nach Reims, Berlin Suhrkamp Verlag.
Freire, Paulo (1973) Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit. Stuttgart, Kreuz Verlag
Rezension von
Angela M. Laußer
Dipl. Soziologin, Beraterin, Trainerin und Coach
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Es gibt 15 Rezensionen von Angela M. Laußer.
Zitiervorschlag
Angela M. Laußer. Rezension vom 05.04.2023 zu:
Alexandra Kauffmann: Wirkungsmacht unter dem intersektionalen Ansatz. Was bedeuten subjektive Unterdrückungserfahrungen im Ansatz der Intersektionalität für die Funktion Sozialer Arbeit? MARTA PRESS
(Hamburg) 2022.
ISBN 978-3-948731-05-2.
Reihe: Aspekte.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30277.php, Datum des Zugriffs 23.09.2023.
Urheberrecht
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