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Stefan Kühl: Schatten­organisation

Rezensiert von Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf, 11.01.2024

Cover Stefan Kühl: Schatten­organisation ISBN 978-3-593-51732-2

Stefan Kühl: Schattenorganisation. Agiles Management und ungewollte Bürokratisierung. Campus Verlag (Frankfurt) 2023. 150 Seiten. ISBN 978-3-593-51732-2. D: 26,00 EUR, A: 26,90 EUR.

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Thema

Was ist Holokratie? Warum ist diese Organisationsphilosophie derzeit in Management-Diskursen so populär? Was bringt Holokratie Organisationen im Gegensatz zur „klassischen“ hierarchischen Organisationsform? Und gibt es auch Nachteile, die mit Holokratie einhergehen (können)? Dieser und weiterer Fragen nimmt sich Stefan Kühl in seinem Buch „Schattenorganisation“ an, in welchem er darlegt, dass viele der Ideen der Holokratie mitnichten neu sind. Sie werden via Rekurs auf einige vermeintliche Bilderbuch-Organisationen, in denen das Konzept perfekt funktioniert, aber bisweilen unzulässig verallgemeinert. Holokratie ist keinesfalls die eine immer gültige Best-Practice für alle Organisationen. Sie kann eine Good-Practice (vor allem für Klein- und Kleinstorganisationen) seien, mit ihrer Einführung und Praktizierung gehen aber mitunter auch ungewünschte Nebenwirkungen hervor. Diese können bewirken, dass Bürokratie und Verknöcherung, die mittels Holokratie eigentlich überkommen werden sollen, durch eine sich aus der Holokratie speisende Hyperformalisierung wieder neu hervorgebracht und reproduziert werden. Diese Paradoxie wird im Buch aufgezeigt.

Autor

Dr. Stefan Kühl ist Professor für Organisationssoziologie an der Universität Bielefeld. Er arbeitet zudem als Organisationsberater, Podacaster & Autor und ist ausgewiesener Experte für Fragen der Organisationsgestaltung-, -diagnostik und -entwicklung. Er hat zahlreiche Fachbücher, Aufsätze und Artikel in Fachzeitschriften und journalistischen Magazinen veröffentlicht.

Aufbau und Inhalt

Das 2023 bei Campus erschienene Buch hat 143 Seiten, wovon der eigentliche Textinhalt sich auf 105 Seiten erstreckt, die in 6 Kapitel unterteilt sind. Der Autor beginnt mit einem Vorwort, in dem er sich vermeintlich neuer Organisationsformen annimmt, bei denen es sich nicht selten um den sprichwörtlichen alten Wein in neuen Schläuchen handele (S. 7). Alle aktuellen Managementkonzepte seien, „lediglich kleinere Variationen und Erweiterungen von seit über hundert Jahren bekannten Prinzipien zur Ausrichtung von Organisationen“ (ebd.). Weil im Managementdiskurs die relativ gleichen Ideen oft in Zyklen propagiert würden, sei es für Organisationswissenschaftler:innen möglich, die Effekte der jeweils aktuell propagierten Konzepte zu bestimmen. Bei ihm habe sich ein pragmatischer Umgang damit ausgebildet, schreibt Kühl. Er hole dann seine „teilweise jahrzehntealten Texte über postbürokratische Organisationen heraus, ersetze lediglich die alten Begriffe durch die neuen und kann mir sicher sein, dass die Analysen nach wie vor zutreffen“ (ebd.). Das verbreitete Aufwärmen von bereits früher gedachten Ideen produziere leider keine neuen Erkenntnisse. Eine Aufgabe der Organisationswissenschaften sei es, dieses Wissen bei Praktikern wieder in Erinnerung zu rufen.

Eine Gefahr dieser Vorgehensweise sei jedoch, dass man als Organisationswissenschaftler:in kognitiv „gar nicht mehr in der Lage [sei], neue Entwicklungen wahrzunehmen, weil man davon ausgeht, dass alles, was in Bezug auf Organisationen vorstellbar ist, schon mehrfach ausprobiert und wissenschaftlich untersucht worden ist“ (S. 8). Sein Werk sei „das Ergebnis des schmerzhaften Eingestehens eines solchen selbst produzierten, abergläubischen Lernprozesses“, schreibt Kühl. Er habe angefangen, sich die Formalisierungsbestrebungen von unter dem Label der »Agilität« propagierten Organisationen näher anzuschauen und einen neuen Blick auf Organisationen zu werfen, die er bisher „unter dem Label der Postbürokratie abgelegt hatte“ (S. 9). Könnte es sein, so fragt der Autor, „dass sich unter dem Begriff der Postbürokratie eine besonders bürokratisierte Variante von Organisationen ausbildet?“ Diese Frage wird im hier vorgestellte Buch thematisiert.

Im ersten Kapitel geht Kühl auf das Konzept der Holokratie ein, das von diversen Consultants als Lösung für die Krise der Hierarchie angepriesen werde. „Statt, wie sonst üblicherweise der Fall, nur eine Stelle im Unternehmen einzunehmen, können Mitglieder in holakratischen Organisationen eine Vielzahl von verschiedenen Rollen einnehmen“, referiert Kühl (S. 11). Entscheidungsfindungen fänden nicht länger via Anweisungen statt. Vielmehr würden Mitarbeiter:innen eigenverantwortlich selbstständig(er) arbeiten und entscheiden. Der Hype, der in den letzten gut 10 Jahren um das Holokratie-Konzept gemacht wurde, stehe aber in keinerlei Verhältnis zu dessen realer Umsetzung. Denn, so erklärt Kühl, selbst „bei großzügigen Schätzungen muss man feststellen, dass das Konzept weltweit von maximal 0,0000001 Prozent aller Organisationen eingeführt und von einer Reihe dieser Organisationen nach wenigen Jahren wieder aufgegeben worden ist“ (S. 11). Von anderen Agilitätskonzepten unterscheide sich der holokratische Ansatz dadurch, dass er ein geschlossenes Organisationskonzept propagiere, in welchem „die einzelnen Elemente präzise aufeinander abgestimmt seien. Die Elemente griffen, so jedenfalls das Versprechen, so genau ineinander, dass eine neuartige Organisationsform ohne Silobildung und ohne Hierarchie geschaffen werden könne“ (S. 12).

Während in klassischen bürokratischen Organisationen die Veränderung von formalen Strukturen oder Prozessen häufig ein langwieriger Prozess sei, befänden sich formale Strukturen holakrotischer Organisationen in einem permanenten Veränderungsprozess. Jedes Organisationsmitglied könne die eigene Rollenbeschreibung jederzeit an aktuelle Anforderungen anpassen, wodurch eine formale Ordnung entstehe, die sich in einem permanenten Fluss befände (S. 13). Die formale Ordnung der Holokratie werde geschützt, indem sich Organisationen durch die Unterzeichnung einer umfassenden Verfassung auf die holokratischen Prinzipien festlegten. Hinzu komme oft eine holakratische Steuerungssoftware, ohne die die Komplexität ab einer Größe von etwa 20 Mitarbeitenden so massiv ansteige, „dass sich holakratische Organisationen ohne diese technische Unterstützung kaum mehr steuern“ ließe (ebd.). Das führe mitunter zu einer Hyperformalisierung, der inhärent sei, „jede noch so kleine Erwartung in einer Organisation formal festzulegen“, sodass Formalisierungen auf die Spitze getrieben werde. Hinzu komme, dass eine für Managementmoden übliche Form von Entkoppelung von Schau- und formaler Seite in holakratischen Organisationen nicht stattfände, meint Kühl.

Holakratische Organisationen funktionierten alle ähnlich nach einer festgelegten Blaupause, wobei konstitutiv für das Konzept sei, dass holakratische Organisationen den Zuschnitt der Rollen oder Kreise permanent veränderten. Für die Abweichung von holakratischen Prinzipien brauche es eine „Veränderung der Verfassung mit anschließender Anpassung der Steuerungssoftware. Überspitzt ausgedrückt: Wenn man eine holakratische Organisation kennt, kennt man alle“, schreibt Kühl (S. 17), der sich dann der Formen der Erwartungsbildung in hyperformalisierten Organisationen annimmt. Wenn man Organisationen betrachte, fielen divergente Formen der Erwartungsbildung auf. Die Erwartungsbildung finde „sowohl über Werte und Programme als auch über Rollen und Personen statt. Man muss diese Erwartungsformen in ihrem Zusammenspiel beschreiben, um eine Organisation im Detail zu begreifen“ (S. 19). Im Gegensatz zu Werten bildeten „Programme in Organisationen eindeutige Kriterien für richtiges oder falsches Entscheiden“ (ebd.). Programme funktionierten personenunabhängig, Rollen in Organisationen indes nicht. Die Erwartung knüpfe sich bei Rollen „nicht an eine spezifische Person, sondern eben an ein in einer Rolle zusammengefasstes Bündel von Erwartungen“ (S. 20).

Auch in holakratischen Organisationen fänden unterschiedliche Formen von Erwartungsbildung statt. Bei der Fokussierung auf Rollen lasse sich auch in holokratischen Organisationen nicht verhindern, „dass sich eine Erwartungsbildung über Personen ausbildet. Aber in der Holacracy werden bei der Erwartungsbildung eindeutige Schwerpunkt gesetzt. Wenn man das holakratische Konzept in der denkbar knappsten Form beschreiben will, dann ist es der Traum davon, dass es durch in eine rigide Verfassung gegossene Programme möglich wird, die Verhaltenserwartungen in Organisationen weitestgehend über präzise definierte Rollenerwartungen zu erreichen“, meint Kühl (S. 21). Generell sei es so, dass man sich, wenn man sich die Diskussion über neue Organisationsformen anschaue, erst einmal durch „semantischen Müll quälen“ müsse. Der Begriff agiles Management von Unternehmen beschreibe, so ein Beispiel für nichtssagende Worte, „eine Form der flexiblen und schlanken, innovativen sowie kundenorientierten, mitarbeiterkompetenzorientierten, sich auf neue Technologien stützenden Organisation, die Marktentwicklungen frühzeitig erkennt und sich bei den Strukturen und Prozessen wie bei den Personen und Kulturen schnell anpasst (Gunasekaran 1998)“ (S. 21 f.). Diese banalen Worthülsen hätten im Managementdiskurs einen verheerenden Effekt, gibt der Autor zu bedenken.

Übersehen werde bei all dem Wortgeklüngel nämlich, dass sich zwei grundlegend verschiedene Vorstellungen von Organisationen ausgebildet hätten. „In der einen Vorstellung wird versucht, Effizienz, Effektivität und Innovation durch ein Höchstmaß an Formalität zu erreichen, während in der anderen zur Erreichung dieser Ziele auf ein Höchstmaß an Informalität gesetzt wird“ (S. 22). Seit jeher würden die Schwerpunkte entweder auf Potenziale der Formalität oder auf Potenziale der Informalität gelegt, was einem Hin- und Herwechseln zwischen Abbau und Reduzierung von Hierarchien oder auch zwischen Exploration und Exploitation gleichkomme. Auch wenn Leser:innen bei Begriff der postbürokratischen Organisationen (den u.a. Dirk Baecker schon Anfang der 1990er Jahre verwendete) einen geringen Bürokratisierungsgrad vermuteten, scheine es, so kritisiert Kühl, „bei jeder Diskussion über neue Organisationsformen Konzepte zu geben, die entweder stärker auf Formalität oder auf Informalität setzen“ (S. 24). Anders als der Begriff der postbürokratischen Organisation vermuten ließe, gäbe es aber auch Ansätze, die „eine Reduzierung von Hierarchien und ein Aufweichen von Abteilungsgrenzen durch eine stärkere Formalisierung von Rollenerwartungen anstreben“ (ebd.). Holakratische Organisationen seien die radikalste Variante, in der via Rollenfestlegung eine »Agilisierung« angestrebt werde. Über Organisationen, die die Abflachung von Hierarchien und das Aufweichen von Abteilungen bei gleichzeitiger Hyperformalisierung versuchten, gäbe es aber erst wenig Erkenntnisse, so Kühl.

Das Reden über Holokratie polarisiere. Für deren Anhänger:innen sei diese quasi ein revolutionäres Management-System für unsere VUCA/BANI-Welt, Kritiker:innen verwiesen hingegen „darauf, dass die Holacracy zu bürokratisch, zu verfahrensorientiert, zu regellastig“ sei (S. 25). Für ihn als Organisationswissenschaftler seien „diese Kontroversen zwischen euphorischen Befürwortern und scharfen Kritikern als empirisches Material interessant“ (S. 25), meint der Autor, der schildert, seine Hoffnung sei, dass die im Buch reflektierten Darlegungen „letztlich näher an der Realitätswahrnehmung von Praktikern sind als die üblichen, auf Eingängigkeit getrimmten Managementbücher. Wenn man am Ende der Lektüre über Effekte hyperformalisierter Organisationen hinaus sogar ein genaueres Gefühl dafür bekommt, wie Organisationen insgesamt funktionieren – umso besser“, stellt Kühl klar (S. 27). Wie man sich die Bauart hyperformalisierter Organisationen vorstellen könne, ist das Thema des zweiten Kapitels.

Der Ausgangspunkt holokratischer Organisation sei ein »Ankerkreis«, der alle anderen Kreise umfasse. „Die Oberzwecke dieses Ankerkreises sind dabei identisch mit den Oberzwecken der gesamten Organisation“ und die Bildung „von Unterkreisen innerhalb dieses Ankerkreises dient dazu, verschiedene Rollen zusammenzuführen, die gemeinsam einen aus den Oberzwecken abgeleiteten Unterzweck erfüllen sollen“, heißt es im Text (S. 31). Bei der Bildung eines jeden Kreises werde eine Führungsgliedrolle geschaffen, die für den Kreis verantwortlich sei, „solang die Verantwortlichkeiten nicht durch andere Rollenträger im Kreis abgedeckt werden“ (S. 32). Welche Rollen zu besetzen seien, werde in den Kreisen selbst festgelegt. Vorgeschrieben sei nur, „dass jeder Kreis neben der vom übergeordneten Kreis besetzten Führungsgliedrolle auch eine Repräsentationsgliedsrolle hat, die die Interessen des Kreises im übergeordneten Kreis vertritt“ (ebd.).

Jedes Mitglied habe die Verpflichtung, „den Zuschnitt von Kreisen und Rollen auf ihre Sinnhaftigkeit sowie die Ausführung der Rollen anderer Organisationsmitglieder hinsichtlich des Erreichens ihrer Zwecke und der Erfüllung ihrer Aufgaben zu überwachen“, schreibt Kühl (S. 33). Probleme und Spannungen würden dann nach vorgegebenem Ablaufplan in Sitzungen des Kreises bearbeitet, wodurch peu a peu eine „Verbesserung der inneren Struktur als auch eine schnelle Anpassung an sich rasant ändernde Umweltanforderungen ermöglicht werden“ (ebd.). Dabei würden Veränderungen in der Formalstruktur indes nicht durch die Person in der Führungsgliedrolle entschieden, sondern via Konsensprinzip durch alle Rollenträger:innen im jeweiligen Kreis. Dies (und weitere Beispiele mehr) zeige, dass in holakratischen Organisationen versucht werde, die Effekte klassischer Organisationen zu vermeiden.

Im klassisch-bürokratischen Organisationsmodell sei die aufbauorganisatorische Aufgliederung in Abteilungen zentral. Der Vorteil dessen sei, „dass so die häufig widersprüchlichen Anforderungen aus der Umwelt in spezialisierten Abteilungen getrennt bearbeitet werden können“ (S. 35). Mit der Abteilungsausbildung gingen allerdings auch ungewollten Nebenfolgen einher. So könnten sich die jeweiligen Abteilungen wechselseitig nicht durchschauen und die Zuweisung zu einer Abteilung führe zu einer Verengung der Perspektiven. Dadurch ginge das Verständnis für die Anforderungen der gesamten Organisation größtenteils verloren, so die Kritik. In holokratischen Organisationen hingegen werde versucht, dies zu vermeiden, indem klassische Abteilungen durch Kreise ersetzt werden. „Anders als bei Abteilungen werden Kreisen nicht Personen mit all ihren organisationsspezifischen Rollenbezügen zugeordnet, sondern lediglich die von Personen entkoppelten Rollen“ (S. 36).

Der Vorteil von Hierarchien sei, dass Unsicherheit in Organisationen durch sie reduziert werde, zumal die Vorgesetzen Informationen an die Mitarbeitenden gefiltert weitergeben (oder bewusst nicht weitergeben). In dieser Filterung von Informationen läge aber auch „eine zentrale Schwäche der Hierarchie. Einerseits fällt in Organisationen ein Großteil der für Entscheidungen relevanten Informationen nicht an der Spitze der Organisation an, sodass Vorgesetzte trotz IT-gestützten Managementinformationssystemen permanent beklagen, dass sie nur unzureichend mit Informationen versorgt werden“, schreibt der Autor (S. 37). Andererseits würden sich Mitarbeitende beschweren, von „oben“ unzureichend informiert zu werden. Das habe mitunter eine Abnahme der Leistungsmotivation zur Folge. In der Holokratie werde das hierarchische Prinzip zur Strukturierung der Organisation zwar nicht komplett aufgegeben, es werde aber doch stark aufgeweicht. Es existiere nach Vorstellung der Holokrat:innen keine personengebundene hierarchische Führung mehr.

Stattdessen gäbe es „in jedem Kreis nur noch die vom übergeordneten Kreis eingesetzte Person in einer Führungsgliedrolle“, die „nur noch das Recht [hat], innerhalb des Kreises Rollen zu besetzen“ (S. 38). Anders als die Prinzipien der Abteilungen und der Hierarchien werde das Prinzip der Formalisierung in Holokratien allerdings nicht aufgeweicht. Denn jede Zuordnung zu einem Kreis werde in der holokratischen Steuerungssoftware der Organisation formal fixiert. Hierin läge der Unterschied „des holakratischen Organisationsmodells zu anderen postbürokratischen Organisationsmodellen, in denen neben der Aufweichung der Grenzen zwischen den Abteilungen und der Reduzierung der Hierarchie zusätzlich auf eine Entformalisierung der Erwartungen bei gleichzeitiger Ausbildung von informalen Erwartungen gesetzt wird“, stellt Kühl klar (S. 39). Der USP der Holokratie sei somit, „dass die über eine ausführliche Verfassung abgesicherte Hyperformalisierung der Organisation einen Rückfall in die klassische personalgebundene Hierarchie und übliche Silobildung von Abteilungen verhindert“ (ebd.)

Die formalen Strukturen holokratischer Organisationen befänden sich ständig in Veränderung. Es würden „permanent neue Kreise gebildet, Rollen neu zugeschnitten oder Aufgaben modifiziert werden. So entstände eine formale Ordnung, die sich in einem permanenten Fluss befände“, heißt es im Text (S. 40). Um Organisationen zu begreifen, sei es nötig, den Mechanismus von Formalisierung zu verstehen. Dieser werde geprägt durch eine Zeit-, Sach- und Sozialdimension. Der holokratischen Organisation zu eigen sei, dass sie ihre Formalstruktur permanent anpasse an die Erwartungen ihrer Umwelt. „Kreise und Rollen werden durch kontinuierliche Formalisierung gebildet, modifiziert oder entfernt. Die Formalstruktur eines holakratischen Systems ist deshalb in ständiger Veränderung“ (S. 42). Holokratie sei, so schreibt der Autor, nurmehr eine „hyperformalisierte Spielart eines seit Jahrzehnten bekannten und zeitweise weitgehend in Vergessenheit geratenen Managementkonzepts – der Soziokratie“ (S. 42).

Besonders auffällig sei dabei, dass die beschriebenen Bürokratisierungseffekte „bereits bei holakratischen Kleinstorganisationen einsetzen“ und dass „Holacracy überwiegend von Kleinstorganisationen praktiziert wird“ (S. 45). Ein Grund für den hohen Anteil von holokratischen Kleinstorganisationen könne sein, so mutmaßt Kühl, „dass nur Organisationen mit wenigen Mitarbeitern überhaupt in der Lage sind, die hohen formalen Anforderungen der Holacracy zu stemmen. Mit einem personellen Wachstum potenzieren sich die formalen Regelungen innerhalb der Organisationen, sodass diese irgendwann von der holakratischen Organisation nicht mehr prozessiert werden können“ (S. 45). Auffällig sei nicht zuletzt der paradoxe Effekt, dass zwar in Holokratien die „Fahne der Bürokratiekritik“ hochgehalten werde, es praktisch aber „zu einer verschärften Bürokratisierung postbürokratischer Organisationen kommt“ (S. 46).

Die Renaissance des zweckrationalen Organisationsmodells steht im Fokus des dritten Kapitels. Viele Verfechter:innen neuer Organisationsformen sähen darin eine sinnstiftende Ausrichtung der Organisation. „Es ginge darum – so der Tenor –, eine »soulful organization« – eine »beseelte Organisation« – zu schaffen. In diesen »beseelten Organisationen« würde eine Sehnsucht nach »einer radikal anderen Weise der Zusammenarbeit in Organisationen ihren Platz finden“, schreibt der Autor bezugnehmend auf Laloux (2014). Es würden, so das Idealbild, „Prozesse angestoßen werden, die die Umwelt schonen und natürliche Grundlagen erhalten würden und so eine »positive Entwicklung des gesellschaftlichen Umfelds« zur Folge hätten“, beschreibt Kühl (S. 49). Diese „Idee der »purpose-driven organization«“ sei heute im Mainstream angekommen. Man dürfe allerdings nicht den Fehler machen, von diesen wohlklingenden Idealvorstellungen auf eine reale Funktionsweise holokratischer Organisationen zu schließen.

Es handele sich bei der Purpose-Proklamation nurmehr „um abstrakte Wertformulierung, die lediglich einen groben Orientierungsrahmen geben, aber nicht bestimmen, was richtiges oder falsches Verhalten ist“ (S. 50). Holakrat:innen stünden durchaus in der Tradition des Scientific Management, denn letztlich gelte auch bei ihnen, dass am Ende die Aufgaben so miteinander zu verknüpfen seien, „dass es eine konsistente Anordnung von ganz oben nach ganz unten gibt“ (S. 51). Es werde indes „insofern mit dem klassisch-hierarchischen Aufbau gebrochen, als der übergeordnete Zirkel zwar den Lead-Link des untergeordneten Zirkels besetzen kann, die genaue Bestimmung des Unterzweckes jedoch dem zuständigen Zirkel selbst überlassen und die Erfüllung der Aufgaben durch den untergeordneten Kreis selbst überwacht wird. Der übergeordnete Zirkel kann lediglich Spannungen thematisieren, wenn die Aufgabenbestimmung nicht mit dem Oberzweck abgestimmt ist oder die festgelegte Aufgabe nicht erreicht wird“, stellt Kühl klar (S. 51). Anspruch der Holokrat:innen sei es, ein Managementkonzept zu entwerfen, mit dem sich die Schauseite und Hinterbühne von Organisationen (also das nach außen Präsentierte und der reale Ablauf) in Übereinstimmung bringen ließen.

Organisationskulturelle Überlegungen spielte dabei im Verständnis der Holokrat:innen keine Rolle, da diese ja den Anspruch hätten, „alle informalen Ziele, Rollen und Aufgaben in der organisationalen Steuerungssoftware formal abzubilden“ (S. 55). Das Ergebnis sei die beschriebene Hyperformalisierung der Organisation, bei der „jede Entscheidung in der für alle einsehbaren holakratischen Software erfasst“ und jede Verantwortungsübernahme in einer Rolle fixiert sei. Es handele sich somit, so schlussfolgert Kühl, „beim holakratischen Organisationsmodell letztlich um eine ausgefeilte Variante des Maschinenmodells der Organisation“, bei der davon ausgegangen werde, „dass eine Organisation aus genau definierten Einzelteilen besteht, die in genau bestimmten Verhältnissen zueinander stehen. Dabei sind alle Einzelteile auf den Zweck der Organisation ausgerichtet und werden erst im Zusammenwirken mit den anderen Teilen sinnvoll“ (S. 55). Damit, welche ungewollte Nebenfolgen der Bürokratisierung es im Rahmen postbürokratischer Organisationen gäbe, befasst sich der Autor im vierten Kapitel. Der Anspruch holokratischer Organisationsmodelle sei es, die formale Struktur immer besser an die an Organisation herangetragenen Erwartungen anzupassen.

„Zur Erfüllung dieser Erwartungen ist es nach Auffassung der Holakraten nötig, immer neue Kreise, Rollen oder Aufgaben zu bilden und diese wieder abzuschaffen, wenn sie zur Erfüllung eines Zweckes nicht mehr nötig sind. Wenn diese Annahme stimmt, müsste man in holakratischen Organisationen einen permanenten Fluss aus der Einrichtung und Abschaffung von Kreisen, Rollen und Aufgaben beobachten können“, schreibt Kühl, der ebenso feststellt, dass der reale Effekt allerdings häufig ein anderer sei (S. 58). Es würden zwar immer wieder neue Kreise, Rollen und Aufgaben geschaffen, die Abschaffung indes sei eine Ausnahme. Es ließe sich auch bei gleichbleibender Zahl an Mitarbeitenden beobachten, dass die Zahl der Kreise immer weiter zunähme und Rollen immer weiter ausdifferenziert würden, was auf eine Tendenz zur immer stärkeren Formalisierung schließen lasse, die Holokratien inhärent sei. Das bringe Formalitätsruinen mit sich. Auf ein Wuchern von Formalstrukturen reagierten holokratische Organisationen oft mit Verschlankungskampagnen, schreibt Kühl (S. 60). Paradox dabei sein aber, dass auf Probleme in der Organisation mit der Schaffung neuer formaler Strukturen reagiert werde. Entbürokratisierungskampagnen führten dann nicht zu weniger Bürokratie, sondern nur zu neuer (ebd.).

Das holokratische Organisationsmodell sei darauf ausgerichtet, dass Organisationsmitglieder stets die Möglichkeit hätten, selbst die Initiative zu ergreifen. „Holacracy sei, so die Position der Verfechter, »designed« worden, um die »einzigartige menschliche Fähigkeit« der Kreativität zu nutzen und zu ehren und einen Raum für Initiativen jedes einzelnen Organisationsmitglieds zu schaffen. Das Ergebnis für jeden einzelnen Menschen in einer »Holacracy-powered« Organisation sei die »zutiefst erfüllende Erfahrung«, ein »kreativer Partner« zu sein statt lediglich ein »Rädchen im System« (Robertson 2017)“, beschreibt Kühl (S. 64). Kritisiert werde allerdings, dass Holokratie nicht wirklich Personen empowere, sondern Rollen. Eine Gefahr sei, dass Mitarbeitende „nicht im Sinne eines »just do it« einfach loslegen, sondern warten, bis ihre Initiative holakratisch abgesegnet worden ist.“ Dienst nach Vorschrift sei dann ein mögliches Resultat, was wieder eine Paradoxie der Holokratie aufzeige (S. 66).

Der Anspruch des holokratischen Organisationsmodells sei es letztlich, formale Strukturen durch einen Bottom-Up-Formalisierungsprozess ständig anzupassen. „Durch die einfache Veränderung des Zuschnitts von Rollen und Kreisen sowie deren Aufgaben soll es möglich sein, sich schnell an verändernde Bedingungen anzupassen. Eine inkrementale Verbesserung der formalen Struktur auch angesichts sich permanent verändernder Rahmenbedingungen soll das Ergebnis sein“ (S. 70). Trotz der Flexibilität von Kreisen, Rollen und Aufgaben seien die Grundprinzipien der Holokratie indes nur mit hohem Aufwand zu modifizieren, da „die Organisationen nicht von sich aus die holakratische Verfassung anpassen können. Die Verfassung ist im holakratischen Verständnis der Garant dafür, dass die Organisation nicht schleichend wieder in eine durch Hierarchien und Abteilungen gebundene Organisationsstruktur zurückfällt“ – beschreibt Kühl die Problematik (ebd.). Kurzum sei auffällig, dass holokratische Organisationen Hyperstabilität in formalen Grundprinzipien via „Hyperflexibilität bei der detaillierten Ausgestaltung der formalen Strukturen im Rahmen dieser Grundprinzipien“ kombinierten (ebd.).

Im vorletzten Kapitel befasst sich der Autor mit informalen Korrekturmechanismen in holokratischen Organisationen. Er schildert, dass das Versprechen der Holakrat:innen sei, „dass in ihrem Organisationsmodell durch die formale und die informale Struktur weitgehend deckungsgleich gemacht werden könnten“, indem zentrale Erwartungen in der Organisation für alle sichtbar so formalisiert werden (sollen), „dass sich keine Schattenstrukturen ausbilden können“ (S. 73). Plausibel sei dies aber nicht, merkt Kühl an, zumal, so zeige die Organisationsforschung, „formale Erwartungsbildung immer durch eine informale Erwartungsbildung ergänzt“ würden und Erwartungen in Organisationen sich mitunter gar nicht formalisieren ließen, „sodass es zwangsläufig zur Ausbildung ergänzender und konkurrierender informaler Erwartungen käme“ (S. 74.). Komplexere Prozesse der Arbeitsteilung sollen in der holokratischen Organisation bearbeitbar gemacht werden, indem sie durch das Prinzip der Kreise ersetzt werden. „In der Vorstellung der Holakraten ist jeder Keis eine sich selbst organisierende Einheit mit eigenen Rechten. Sie werden dann gebildet, wenn eine Aufgabe nicht durch eine Rolle allein ausgeübt werden kann und eine systematische Koordination zwischen mehreren Rollen notwendig ist“ (S. 74).

Das Prinzip der Abteilungen werde formal unterlaufen, indem „ein Organisationmitglied mit ganz unterschiedlichen Rollen in verschiedenen Kreisen tätig sein“ könne (ebd.). So werde in der Vorstellung der Holokrat:innen eine in klassisch hierarchisch organisierten Unternehmen stattfindende Silobildungen unterlaufen. Gerade in projektbasierten Firmen, die über die holokratische Organisationskonzeption geführt werden, würden die Projektteams indes oftmals nur rudimentär in der holokratischen Organisationsstruktur abgebildet und stattdessen „vorrangig über eine eigene Projektmanagementsoftware koordiniert“ (S. 75). Die Silobildung, die in der Holokratie ja eigentlich vermieden werden soll, könne in holokratischen Organisationen paradoxerweise „durch die Steuerung über »Dashboards« – Management-Cockpits, in denen zentrale Kennziffern abgebildet werden – noch verstärkt werden“ (ebd.). Die informale Silobildung könne in der Holokratie aber aufgelockert werden, indem „Mitglieder zusätzlich zu den Aktivitäten, mit denen sie den Großteil ihrer Zeit verbringen, in fachlich orientierten Gemeinschaften zusammengezogen werden“, gibt Kühl zu bedenken (S. 76). Zwecks dessen würden Kreise gebildet (ebd.). Interessant sei dabei, „dass sich häufig im Schatten der holakratischen Formalstruktur eine personenbezogene Hierarchie ausbildet“ und dass diese Schatten gerade in kleineren holokratischen Organisationen oft unmittelbar wirkten.

Allerdings zeige sich eine Ausbildung von hierarchischen Schattenstrukturen durchaus auch in größeren holokratischen Organisationen. Auch führe die informale Zentralisierung der Macht in Holokratien dazu, dass die Organisationsleitung drohe, „mit Entscheidungsanforderungen überlastet zu sein. Deswegen bilden sich in größeren holakratischen Organisationen im Schatten einer hierarchiearmen formalen Grundstruktur eine auf Personen bezogene informale hierarchische Parallelstruktur aus“ (S. 77). Auch sei zu bedenken, dass in Holokratien mittels der genutzten Software alle Diskussionsprozesse und Entscheidungen der Organisation „für alle Mitarbeiter jederzeit einsehbar“ seien. Transparenz sei daher „in holakratischen Organisationen aufgrund der Steuerung über die Betriebssoftware fast idealtypisch umgesetzt“ und beschränke sich vielfach „nicht nur auf die durch die holakratische Verfassung vorgegebenen Prozesse, sondern wird nicht selten auch auf andere zentrale Prozesse ausgeweitet“ (S. 78). Letztlich gäbe es Hinterbühnen auch in Holokratien. Wichtige Entscheidungen würden auch dort oft nicht in der holokratischen Struktur diskutiert, sondern in geschlossenen Kanälen, beschreibt der Autor (S. 79). Es bildeten sich informelle Kulturen heraus, „in denen Abstimmungen nicht mehr in formalen, protokollierten Sitzungen, sondern nur noch in informalen, nicht dokumentierten Zirkeln stattfinden“ (ebd.). Ein paradoxer Effekt sei dabei, dass sich das Bemühen um Verstecken umso stärker ausbilde, je stärker die Transparenz in der Organisation eingefordert werde (S. 80).

Kurzum seien holokratische Organisationen „ein Musterbeispiel dafür, dass Organisationen gleichzeitig sehr viel transparenter und sehr viel intransparenter werden“ könnten (S. 81). Anspruch von Holokratien sei es, „über die Identifikation von Spannungen die Dysfunktionalitäten der formalen Struktur zu thematisieren und durch Entscheidungen in eine verbesserte Struktur zu überführen“, aber ausgerechnet an kritischen Punkten würden sich konstant auch entgegenlaufende informale Prozesse ausbilden. Hauptproblem abweichenden informalen Handelns sei, „dass es sich weitgehend der Rationalisierung entzieht“ und „Abweichungen von der holakratischen Formalstruktur“ oft nicht offen thematisiert würden (S. 83). Vor allem in Organisationen mit ausgeprägten Schattenhierarchien könne auf der Hinterbühne „über den weit über die Formalstruktur hinausgehenden Einfluss der Gründer und Kapitalbesitzer geklagt werden, dieser kann aber nur mit einem hohen persönlichen Risiko in größeren Runden angesprochen werden“, meint Kühl (ebd.). Wenn es passiere, dass sich in holokratischen Organisationen informale Abteilungen oder informale Hierarchien ausbilden (was oft so sei), gehörten diese gemäß holokratischer Logik abgeschafft.

Das Wissen darum habe allerdings zur Folge, dass dadurch „die häufig funktionalen informalen Mechanismen noch weiter in den Tabubereich gedrängt werden“ (S. 83). Die Idealvorstellung der holokratischen Praktiker:innen sei es, „dass die informalen Strukturen, die den holakratischen Prinzipien widersprechen, durch die Artikulation von Spannungen thematisiert und dann holakratisch in Ordnung gebracht werden sollten“ (S. 84). Allerdings wisse man aus der Organisationsforschung, dass Organisationen nie „als ein »vollständig formalisiertes System«“ existieren. Die Ausbildung informaler Strukturen sei eine notwendige Ausgleichsbewegung in der Organisation, mittels derer „die Lebensfähigkeit bei allen Formalisierungsbestrebungen“ aufrechterhalten werde (ebd.). „Vom Aufstieg und Niedergang einer Managementmode“ lautet der Titel des letzten Kapitels, in dem Kühl Kritik an modernen Managementmoden übt. Auch thematisiert er hier, wie sich Holokratie „in diesem unendlichen Strom von Managementkonzepten einordnen“ ließe (S. 88). Die Zeitdiagnosen der Managementmoden kennzeichne, dass es, so die Behauptung der Vertreter:innenn, „nie so grundlegende gesellschaftliche Veränderungen gegeben hat wie jetzt“. Ein gewisser Alarmismus sei bei Managementmoden nicht zu übersehen (S. 90).

Die heutigen Organisationen seien veraltet, so der Tenor von Consultants und Autor:innen. Gefordert werden von ihnen stattdessen eine Managementmode revolutionärer Veränderung, in welchem via Reifegradverfahren aber dann oft mit einem eher simplen Fortschrittsmodell gearbeitet werde. Modernen Managementmoden sei das Versprechen inhärent, dass von deren Umsetzung alle Stakeholder profitierten. Am Ende stünde „eine bessere Welt – mit mehr Wohlstand, weniger Umweltverschmutzung und weniger Konflikten“, so das Idealbild (S. 94). Die Realität sei indes wesentlich komplexer. In ihr gäbe es in Organisationen diverse Stellschrauben, „die in die eine oder andere Richtung gedreht werden können“, wohingegen bei einer Managementmode wie der Holokratie nurmehr „eine dieser bekannten Prinzipien prominent herausgegriffen und dann so getan, [wird] als wenn hier der Schlüsselfaktor für den Erfolg einer Organisation liegt“ (ebd.) Die Verkündung eines Erfolgsprinzips allein reiche nicht aus, schreibt Kühl (S. 95). Es brauche auch „die Versicherung, dass die Erfolgsprinzipien auch funktionieren. Für die Etablierung einer Managementmode ist es deswegen zentral, dass sie durch Organisationen illustriert wird, die durch das Prinzip erfolgreich geworden sind“ (ebd.).

Daher verwiesen Organisationsberater:innen zumeist auf die eigenen positiven Erfahrungen mit der „Anwendung einer Methode“, was als Beleg für deren Wirkung aber kaum ausreiche. Es werde zudem oft eine als fortschrittlich geltende Organisationen herangezogen „und dann die eigenen Rezepte als Ergebnis einer Analyse dieser Organisationen dargestellt“ oder es werde eine „Sammlung von Erfolgsrezepten präsentiert und dann am Beispiel von Organisationen, die beim Einsatz dieser Methoden erfolgreich gewesen sind, illustriert“ (S. 96). Häufig erfahre man aber gar nicht, „auf welcher Basis die Darstellung der Vorreiterorganisationen ruht“, gibt Kühl zu bedenken (ebd.). Es werde mitunter eine simple Kausalbeziehung zwischen dem vermeintlichen Erfolg einer Organisation und einem Managementprinzip hergestellt, wodurch sich die vermeintliche Erfolgsstory dieser Vorreiterorganisationen verbreite, was aber keineswegs bedeute, dass das gleiche System in anderen Organisationen mit anderen Kulturen, Schauseiten und Hinterbühnen auch funktionierte. Organisationen stünden immer „vor der Herausforderung, unter Bedingungen von hoher Unsicherheit Entscheidungen treffen zu müssen“, heißt es im Text (S. 99). Jede Entscheidung sei riskant, „weil sich später herausstellen kann, dass eine andere Entscheidung doch besser gewesen wäre“, wobei die Verantwortung für Entscheidungen bei den Entscheider:innen innerhalb der Organisation liege.

„Wenn sich abzeichnet, dass eine Entscheidung für die Organisation unter dem Strich als »falsch« wahrgenommen werden muss, setzt häufig die Suche nach Schuldigen ein. Es werden Personen identifiziert, die die Entscheidung damals getroffen haben und deswegen für sie verantwortlich gemacht werden können“ – beschreibt Kühl diesen Prozess der Scapegoat-Identifikation (ebd.). Eine Folge dessen sei der Versuch, Strategien zur Reduzierung von persönlich zurechenbarer Verantwortung zu (er)finden. Eine solche Strategie sei etwa, sich Consultants in Haus zu holen, auf die man die Verantwortung für Entscheidungen dann auslagern könne. Unabhängig davon, wie man zu so etwas stehe, sei zu konstatieren, dass Managementmoden eine wichtige Rolle in Unternehmen zwecks Unsicherheitsabsorption spielten. Weil die meisten Managementmoden sowohl einfach und klar als auch mehrdeutig und vage seien, herrsche bei Entscheider:innen in Organisationen eine hohe Unsicherheit, wie sie die Managementmode umsetzen sollen. Holokratie sei für viele Entscheider:innen attraktiv, weil sie exakt ausbuchstabiere, wie die Organisation zu funktionieren habe (S. 101). In der Holokratie werde der „Paketcharakter“ einer Managementmode deutlich. Das meine, dass „Managementwerkzeuge“ in einem Paket zusammengefasst und mit Labeln wie „»Total Quality Management«, »Lean Management« oder »holakratisches Betriebssystem« bedruckt“ würden (S. 102).

Dem Management werde versprochen, dass es das Paket nur auspacken müssen und dann sogleich von den Managementwerkzeugen profitierten, was so einfach freilich selten der Fall sei. „Die Tragik von Managementkonzepten, deren formalstrukturelle Grundlagen bis ins Detail ausdefiniert werden, besteht darin, dass sie nur sehr begrenzt auf die in der Praxis immer deutlich werdenden Nebenfolgen, das Scheitern ihrer Vorreiterorganisationen und die heftig werdende Kritik an dem Konzept reagieren können“, schreibt Kühl (S. 106). Übrig blieben oftmals nur euphorische Berichte über das Managementkonzept. Der Niedergang einer Managementmode bedeute allerdings nicht, so gibt der Autor zu bedenken, „dass dessen Strukturprinzip endgültig verschwindet. Die Vergesslichkeit im Managementdiskurs führt dazu, dass ein organisationales Strukturprinzip nach ein oder zwei Jahrzehnten eine Renaissance erleben kann“ (107). Der Gedanke der Hyperformalisierung werde mit der Zeit so wieder en vogue, wenngleich auch unter einem neuen Schlagwort. Manchmal sei es dabei so, dass das Hin- und Herpendeln „zwischen dem Extrempol der Erwartungsbildung über Personen und dem der Erwartungsbildung über Rollen sinnvoll“ sei, da es die Organisation in Bewegung halte, gibt der Autor zu bedenken (S. 108).

In anderen Fällen könne es aber funktional(er) sein, „statt des Setzens auf Extremvarianten genau auszutarieren, wie stark die Organisation durch ihre formale Struktur ein Rollenverhalten vorgeben soll und wie viel Platz sie für Erwartungsbildung über Personenkenntnis lassen möchte“. In jedem Fall helfe es, referiert der Autor zum Abschluss, ein möglichst genaues „Verständnis von der Wirkweise von Rollen- und Personenerwartungen zu haben“ (ebd.). Anstatt immer neuen Formulierungen zu feiern und dann wenig später doch wieder ein durch formale Rollen vorgegebenes Verhalten einzufordern, wäre es wichtiger, eine realistische(re) Sicht auf das Verhältnis von Rolle und Person in Organisationen zu erlangen.

Diskussion

Was lässt sich nun sagen zu dem hier vorgestellten Buch? Ist es lesenswert und erkenntnisreich? Wer ist die Zielgruppe und wer kann von der Lektüre profitieren? Der Rezensent hat diesbezüglich den nachfolgend skizzierten Eindruck gewonnen. Zunächst einmal ist hervorzuheben, dass das Werk Fachbuch-typisch gestaltet ist und sich problemlos in 2–3 Stunden lesen lässt. Das Buch richtet sich in erster Linie an Manager:innen, Organisationsberater:innen. Hochschullehrer:innen und Studierende von Fächern wie Organisationssoziologie, -psychologie, -pädagogik oder BWL können auch von der Lektüre profitieren. Der Rezensent hat das Werk zumeist als gut verständlich empfunden, es ist allerdings möglich, dass Leser:innen, die mit organisationswissenschaftlichen Fragestellungen wenig vertraut sind, mit der Lektüre überfordert sein könnten. Trotz dessen, dass der Autor seine Erkenntnisse nachvollziehbar begründet, bedarf es einiges an organisationswissenschaftlichem Vorwissen, um gewisse Begriffe und Konzepte nachzuvollziehen, auf die im Buch eingegangen wird. Wer keine solche Vorerfahrung mitbringt, dem/der kann Kühls Buch „Organisationen: Eine sehr kurze Einführung“ (2011) empfohlen werde.

Trotz der relativen Kürze von ca. 140 Seiten handelt es sich bei Kühls Werk um ein ungemein fundiertes Fachbuch, in dem Informationen in sehr verdichteter, erkenntnisreichen Form aufbereitet sind. Der wissenschaftliche Anspruch des Werkes, dem Kühl eindeutig gerecht wird, ohne ins hochtrabend Abstrakte abzugleiten, wird schon daran deutlich, dass das Werk 92 Fußzeilen aufweist und der Umfang des Literaturverzeichnisses ganze 21 Seiten umfasst. Kühl zeigt somit auf, dass das, was er im Text analysiert und beschreibt, mitnichten nur seine persönlichen Erfahrungen und Meinungen sind (was er auch im Nachwort zu der Methodik weiter ausführt). Er nimmt vielfach Bezug auf andere Fachliteratur aus dem In- und Ausland, deren Erkenntnisse er referiert bzw. zu seinen eigenen Darlegungen in Beziehung setzt. Ein Verdienst des Autors ist dabei, dass er sich anders als so manche Organisationsberater:innen, die über Holokratie schreiben, diesem komplexen Thema durchgehend wissenschaftlich fundiert und dennoch praxisrelevant annimmt. Kühl geht dabei kritischer und eindeutig informierter vor, als das in vielen anderen Büchern erfolgt, die in den letzten 12 Jahren über Holokratie geschrieben wurden.

Während in diversen anderen Publikationen zu dieser Thematik bisweilen lediglich Loblieder auf die Holokratie gesungen werden, blickt Kühl skeptisch und rational darauf. Er zeigt auf, dass – und warum – diverse Ideen, die mit Holokratie verknüpft sind, weder neu sind, noch dass es sich dabei per se um eine perfekte Organisationsform handelt, die immer für alle Organisationen passt. Ganz im Gegenteil: Holokratie ist sicher nicht in jeder Organisation geeignet. Das wird bei der Lektüre gut deutlich. Holokratie ist lediglich eine mögliche Organisationsform unter vielen, die funktionieren kann, mit der aber auch diverse potenzielle Nachteile und Fallstricke verbunden sein können. Dass – und warum – die bisweilen von Consultants verpönte klassische hierarchische Organisation, die noch immer in der riesigen Mehrzahl an Wirtschaftsunternehmen vorherrscht, keinesfalls ausgedient hat, sondern sehr wohl für viele Organisationen weiterhin Sinn macht, wird bei der Lektüre deutlich. Kühl geht dabei dergestalt vor, dass er zunächst erklärt, was eigentlich mit Holokratie gemeint ist.

Dieses definitorische Vorgehen ist schon insofern erkenntnisreich, als Holokratie in vielen Kreisen heute schlichtweg als unspezifisches, irgendwie positiv konnotiertes Modewort herhält, das ähnlich Ausdrücken wie „agil“, „ganzheitlich“ oder „systemisch“, die eine Aura vermeintlich heilsbringender Magie ausstrahlen, mit völlig unterschiedlichen, teils widersprüchlichen Konzepten aufgeladen wird. Im Anschluss an diese Definition analysiert Kühl vor dem Hintergrund seiner wissenschaftlichen und organisationsberaterischen Expertise systematisch, unaufgeregt und sachlich, was Holokratie auszeichnet, wobei er deren mögliche Paradoxien nachvollziehbar hervorhebt, ohne in Häme zu verfallen. Kühls Schreibstil ist klar und wenig redundant. Er zeigt, dass auch sehr komplexe Inhalte durchaus in verständlicher Sprache einleuchtend vermittelt werden können (als abschreckendes Gegenbeispiel sei aus Sicht des Rezensenten auf das Buch „Organisation und Entscheidung“ von Niklas Luhmann verwiesen, der mitunter sehr herausfordernd formulierte).

Summa summarum ist zu sagen, dass Leser:innen in „Schattenorganisation“ eine wissenschaftlich fundierte Analyse über das mögliche Für und Wider holokratischer Organisationsformen geboten wird. Wer sich das erhofft hat, wird von der Lektüre nicht enttäuscht. Wer hingegen ein weiteres Loblied auf die vermeintlich heilsbringende New-Work-Philosophie der Holokratie erwartet, könnte den Text ggf. als verstörend erleben. Im günstigsten Fall ist das eine positive Verstörung im Sinne einer konstruktiven Irritation, die zum Nachdenken anregt. Inputs dafür liefert der Autor mit seinem Werk zuhauf.

Fazit

Stefan Kühl legt mit „Schattenorganisation“ ein wissenschaftlich fundiert und gleichsam praxisrelevantes Buch vor, in dem er sich angenehm unaufgeregt mit dem Modewort „Holokratie“ auseinandersetzt und aufzeigt, dass die damit einhergehenden Ideen weder neu noch per se besser als klassische hierarchische Organisationsformen sind. Holokratie kann funktionieren, damit einher gehen aber auch potenzielle Fallstricke. Sie werden im Werk aufgezeigt.

Rezension von
Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf
Sozialwissenschaftler, Diplom-Sozialarbeiter/-pädagoge (FH), Sozial- und Organisationspädagoge M. A., Case Management-Ausbilder (DGCC), Systemischer Berater (DGSF), zertifizierter Mediator, lehrt Soziale Arbeit und Integrationsmanagement an der Hochschule der Wirtschaft für Management (HdWM) in Mannheim.
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Zitiervorschlag
Christian Philipp Nixdorf. Rezension vom 11.01.2024 zu: Stefan Kühl: Schattenorganisation. Agiles Management und ungewollte Bürokratisierung. Campus Verlag (Frankfurt) 2023. ISBN 978-3-593-51732-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30286.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.


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