Carlo Masala: Weltunordnung
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 02.02.2023

Carlo Masala: Weltunordnung. Die globalen Krisen und die Illusionen des Westens.
Verlag C.H. Beck
(München) 2022.
3., aktualisierte Auflage.
198 Seiten.
ISBN 978-3-406-79325-7.
16,95 EUR.
Reihe: C.H. Beck Paperback - 6249.
Irritation
Selbst informierte, gesellschaftspolitische, aufmerksame, aktive Menschen sind überrascht über die kürzliche Analyse, dass weniger als die Hälfte der Länder auf der Erde demokratieverfasst sind; die Mehrzahl der Staaten ist ein- und ausgerichtet auf politische Strukturen, die als demokratiefeindlich verstanden werden müssen: Diktatorisch, Fundamentalistisch, Autoritär, Anarchisch, Imperial. „Der Versuch, die Welt zu verwestlichen (und zu demokratisieren, JS), ist gescheitert“. Das ist die These des Politikwissenschaftlers von der Universität der Bundeswehr in München, Carlo Masala. Außer für anarchistische Denker, die menschengemachte Ordnungen als des Teufels betrachten, sind individuelle und kollektive, globale Ordnungen notwendig für ein gerechtes, gleichberechtigtes, friedliches und menschenwürdiges, soziales Leben. Weil die Welt kein Paradies ist – in dem sogar dort Versuchungen bestehen, Bestehendes, Paradiesisches zu verändern – kommt es darauf an sich bewusst zu sein, dass das Leben auf der Erde krisenhaft ist. Eine Weltordnung ist unordentlich! Die Hoffnungen, eine neue Weltordnung herzustellen, lassen sich nicht als „Aussitzen“ und dem “Ohne-Mich“-Standpunkt herstellen. Es sind Du und Ich, der Mann auf der Straße, am Schreibtisch und an der Werkbank, die Frau in ihrem Umfeld, Kinder und Jugendliche in ihren Entwicklungen, die ein Ordnungsdenken und -bewusstsein bedürfen. Carlo Masala geht diese Anforderungen als Politikwissenschaftler an – nicht im akademischen Elfenbeinturm, sondern als Gesellschaftsanalytiker, Politikberater und Publikator. Er meldet sich öffentlich zu Wort in den Medien, und er legt mit dem Taschenbuch „Weltunordnung“ Argumentationen und Denkanregungen vor, die sich gegen die „Vereinfacher“, die „Ohnmichels“ und die Fake Newser richten und zu der Frage führen: „Wie kann es gelingen, die Menschen davon zu überzeugen, dass sie in humanen Ordnungen leben wollen!“.
Aufbau und Inhalt
Neben der Einleitung und dem Fazit gliedert der Autor seine Argumentationen in drei Kapitel. Im ersten reflektiert er über die „Illusionen des Westens“, die er aufzählt als „Illusion der Demokratie“, „Illusion der militärischen Intervention“, Illusion der Institutionalisierung“ und „Illusion der Verrechtlichung“. Im zweiten Kapitel thematisiert er „Die großen Mähte in der Weltunordnung“, mit der Frage, ob das Ende des amerikanischen Jahrhunderts angebrochen sei, der Einschätzung über neue aufstrebende Mächte im 21. Jahrhundert, und den Überlegungen über Alternativen. Drittens schließlich geht es um „Neue Herausforderungen“, die Failed States, Staatszerfall verhindern, ego-, ethnozentristische, nationalistische und faschistische Entwicklungen stoppen, und mit der „Digitalisierung“ neues Ordnungsdenken schaffen. Gewissermaßen als Appendix und Resolutum greift Masala mit dem Schlusstext „Zeitenwende“ die aktuelle, kriegerische Konfrontation Russlands auf und ordnet sie ein in die globalstrategischen Machtverhältnisse.
Wenn Masala mit dem Begriff „Illusion“ den Marker seiner Welt(un)ordnungsanalyse setzt, verweist er damit auf Entwicklungen, die überdacht werden müssen; etwa die Annahme, dass bereits die globale, interdependente Entstehung der (Einen?) Welt Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit aller Menschen bringen würde; dass „Wandel durch Handel“ entstünde; und dass Machtbalance Konflikte verhindern würden. Nicht das Paradies kann Frieden in die Welt bringen, sondern Bipolarität.
Diskussion
Es sind die Rufe und Sehnsüchte nach individueller und kollektiver Freiheit, Unabhängigkeit und Selbstständigkeit, die Menschen immer wieder dazu bringen, sich aus den eingerichteten Idyllen und Selbstverständlichkeiten zu erheben, Blicke über den eigenen Gartenzaun zu richten und zusammen zu kommen. Es sind Anlässe zum Widerstand gegen Unterdrückung, Machtmissbrauch und Ideologie. Es sind Gegenwartswünsche nach einem guten, gelingenden, demokratischen Leben; und es sind Visionen für eine menschenwürdige Zukunftsgestaltung. Die afro-amerikanische Lyrikerin June Jordan (1936 – 2002) hat zum Aufbruch und Umdenken aufgefordert: „He! du dort/mach dich auf/wo immer du bist/wir müssen zusammenkommen unter diesem Baum/der nicht mal gepflanzt ist“. Es sind die Menschenrechts- und Gouvernance-Grundsätze, die Macht legitimieren, begrenzen und Gemeinwohl schaffen. Die Suche danach lohnt, etwa um neue Gemeinschaftsformen zu finden, als „Multitude“ (Michael Hardt/Antonio Negri:, Assembly. Die neue demokratische Ordnung, 2018,). Wie also umgehen mit der Unordnung? Der Historiker Michael Stürmer hat 2006 dazu die Frage gestellt: „Wer wird die Erde erben?“ (Welt ohne Weltordnung, 2006,). Der Jurist Matthias Herdegen zeigt auf, dass der Kampf um die Weltordnung nicht umsonst, sondern durch Anstrengung und Rechtsbewusstsein geführt werden muss (2019,). Und die PromotionsstipendiatInnen der Hans-Böckler-Stiftung, Dana Dülcke, Julia Kleinschmidt, Olaf Tietje und Juliane Wenke, haben 2016 aufgefordert, für ein eigensinniges, widerborstiges und selbstbehauptetes Denken und Handeln zu sorgen (Grenzen der Ordnung).
Fazit
Die Aufgabe und Herausforderung der Politikwissenschaft ist es, „wissenschaftliche Erkenntnisse oder Debatten um aktuelle Fragen der internationalen Politik in eine Sprache zu übersetzen, die ‚jeder versteht‘“. Es sind Blick- und Argumentationsrichtungen, die den grundlegenden Paradigmenwechsel hin zu „Singularitäten“ notwendig machen, Kompetenzen und Einsichten ermöglichen, nicht nur über den eigenen Gartenzaun zu schauen, sondern auch Illusionen in Visionen zu verwandeln, Krisen und Konflikte nicht wegzubeamen, sondern als tätige, aktive Herausforderungen anzunehmen (Andreas Reckwitz, Das Ende der Illusionen, 2019,). Carlo Masalas Essay wird mittlerweile in 5. Auflage als SPIEGEL-Bestseller ausgewiesen. Es ist ein Verstehens- und Argumentationshelfer, um die Macht der Sprache und der Fakten zu erkennen und mit ihr informiert und aufgeklärt umgehen zu können.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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