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Michael Schröter: Auf eigenem Weg

Rezensiert von Prof. Dr. Peter Theiss-Abendroth, 09.06.2023

Cover Michael Schröter: Auf eigenem Weg ISBN 978-3-525-45028-4

Michael Schröter: Auf eigenem Weg. Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland bis 1945. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2022. 856 Seiten. ISBN 978-3-525-45028-4. D: 60,00 EUR, A: 62,00 EUR.

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Thema

Auch wenn bereits zahlreiche historische Darstellungen der Psychoanalyse existieren, gelingt es dem Autor, eine genuin neue Perspektive hinzuzufügen, indem er die Geschichte ihrer Professionalisierung schreibt. Die Leserschaft findet bei ihm eine Antwort auf die Frage, wie aus einer Psychotherapieschule eine Bewegung und schließlich ein erlernbarer Beruf wurde. Dabei konzentriert Schröter sich auf die Entstehung der deutschen Psychoanalyse, die natürlich nur im erweiterten Rahmen der deutschsprachigen Entwicklung Konturen gewinnt. Zudem liefert er Einblicke in benachbarte Disziplinen wie die Geschichte der Psychiatrie, der Sexualmedizin, der akademischen Psychologie – zunächst noch als Subdisziplin der Philosophie – und vor allem der Psychotherapie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Autor

Michael Schröter, einer der profiliertesten Psychoanalysehistoriker der Gegenwart, ist selbst kein Praktiker der Psychoanalyse, sondern Soziologe und schreibt aus einer betont soziologischen Perspektive über sie. Er ist bekannt als Mitherausgeber von Luzifer-Amor, einem der auch international seltenen Periodika zum Thema, als ehemaliger Veranstalter des jährlichen Symposions zur Geschichte der Psychoanalyse sowie als Gastwissenschaftler am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin an der Charité.

Entstehungshintergrund

Im Lauf der letzten Jahrzehnte hat der Autor eine nahezu unüberschaubare Anzahl von Beiträgen kleineren und mittleren Formats über das Themenfeld veröffentlicht; im nun vorliegenden Band, an dem er mehrere Jahre lang gearbeitet hat, fasst er nicht nur seine Erkenntnisse in ein zusammenhängendes Narrativ, sondern fügt noch zahlreiche neue und unbekannte Forschungsergebnisse hinzu.

Aufbau und Inhalt

Formal gliedert sich der Band in fünf von den jeweiligen historischen Abschnitten definierte Kapitel; sie werden jedoch von einer Einleitung, einem Präludium und abschließend einem Epilog eingerahmt und einem umfangreichen Literaturverzeichnis sowie einem Personen- und einem Sachregister ergänzt. Schröters präziser und flüssiger Stil und seine weitgehende Vermeidung von Redundanzen führen zu einer hohen Informationsdichte seines Textes, der an dieser Stelle nur in einem Überblick wiedergegeben werden kann.

Im Präludium beschreibt der Autor den spezifischen Entstehungsort der Psychoanalyse in der nervenärztlichen Praxis des ausgehenden 19. Jahrhunderts und illustriert, wie sich die Neuro(patho)logie, als deren Adept Freud sich verstand (nicht Psychiatrie, wie oft fälschlich gesagt wird!), zwischen Psychiatrie und Innerer Medizin entwickelte. Genau dort, wo Freud sich im medizinischen System befand, also in der ambulanten Praxis, außerhalb von Universitäten oder psychiatrischen Anstalten, wurde das Bedürfnis nach Behandlungsmethoden für die organisch nicht begründbaren Nervenkrankheiten, die sogenannten funktionellen Neurosen, am deutlichsten sichtbar. Schröter spricht hier vom „psychological turn“ (S. 57). Freud stand nicht als einziger dieser Herausforderung gegenüber, doch anders als seine zeitgenössischen Kollegen suchte er nicht nach symptomatischen Behandlungstechniken wie Hypnose, elektrische Ströme oder Badekuren, sondern nach einer kausalen Methode.

Das erste reguläre Kapitel widmet sich der frühen Institutionalisierung der „Freud-Schule“, wie Schröter gerne formuliert, bis 1908. Es schildert die zunehmende Isolation Freuds in seiner lokalen scientific community, die Suche nach ersten außenstehenden Gesprächspartnern bis hin zum Durchbruch bei den Psychiatern der Züricher Universitätsklinik Burghölzli, Eugen Bleuler und Carl Gustav Jung.

Erst mit dem zweiten Kapitel und dem Auftritt von Karl Abraham richtet sich der Blick wirklich auf die deutsche Psychoanalyse, die mit dessen Praxiseröffnung Ende 1907 in Berlin ihren Anfang nahm. Detailliert untersucht Schröter die disziplinären Organisationsprozesse und Publikationsstrategien außerhalb des damaligen Mainstreams, die erlebten Ausgrenzungen, aber auch die Selbstisolierung von den sich damals ebenfalls etablierenden ärztlich-psychotherapeutischen Strukturen mit deren „ökumenischer Ausrichtung“ (S. 142). Dies kam auch in einer wachsenden Nicht-Berücksichtigung der nicht von psychoanalytischen Autoren stammenden Fachliteratur zum Ausdruck (S. S. 171). Der Autor lässt die frühen Psychoanalysekritiker ausführlich zu Wort kommen, darunter auch den Freiburger Psychiater Alfred Hoche, einen zentralen Vordenker der nationalsozialistischen Krankenmorde. Schröters Sympathien gelten sichtbar der heute nur noch wenig bekannten mittleren Gruppe damaliger Psychotherapeuten. Der Abschnitt schließt mit einer Darstellung der partiellen Rezeption psychoanalytischer Theorieelemente in der Behandlung traumatisierter Veteranen des Ersten Weltkriegs.

Kapitel drei widmet Schröter der Schilderung des Aufbaus einer spezifisch psychoanalytischen Ausbildung in Berlin während der Weimarer Republik, nachdem die zwischenzeitlichen Hoffnungen auf eine Akzeptanz im akademischen Betrieb sich auch im liberaleren Klima der Nachkriegszeit nicht bestätigt hatte. Die Gründung des Berliner Psychoanalytischen Instituts mit angeschlossener Poliklinik und die international vorbildhafte Errichtung des Drei-Säulen-Modell, aus Theorieunterricht, Lehranalyse und supervidierten Behandlungen (damals Kontrollanalysen) bestehend, stellte die den spezifischen Anforderungen an eine analytische Qualifikation angemessene Alternative zur Universität dar. Als Zeichen der Öffnung fanden Frauen und auch akademisch gebildete Personen ohne Medizinstudium als sogenannte Laien hier ihren Ort. Zahlreiche bedeutsame Analytikerinnen und Analytiker der zweiten Generation lehrten oder lernten an einem bestimmten Punkt ihrer Laufbahn in Berlin. Darunter befanden sich mit Melanie Klein eine der innovativsten Theoretikerinnen und mit Karen Horney eine zentrale Figur der feministischen Psychoanalyse – neben vielen anderen, die frei von persönlichen Loyalitäten zu Freud relevante Neuerungen einbringen sollten. Doch schon seit Ende der 20er Jahre lässt sich ein Niedergang des Berliner Instituts feststellen, der mit einem Verlust seiner besten Köpfe einherging.

Auch das vierte Kapitel behandelt die Zwischenkriegszeit, diesmal mit Blick auf die immer breitere Rezeption psychoanalytischer Ideen in Psychiatrie und Psychotherapie, wofür Freud den Begriff der „pénétration pacifique“ gefunden hatte. Die Psychoanalyse wurde zum allgegenwärtigen Diskussionsgegenstand, und, wie Schröter ausführt, enthielten bereits 1924 die damaligen ärztlichen Gebührenordnungen erste Abrechnungsmöglichkeiten für einzelne psychoanalytische Sitzungen, wenn auch nicht für ganze Behandlungen.

Besonderes Interesse verdient das fünfte Kapitel, das die Zeit des Nationalsozialismus behandelt und von der ethischen Frage begleitet wird, in welchem Maße die Ausgrenzung jüdischer Analytikerinnen und Analytiker zur „Rettung“ im nationalsozialistischen Machtgefüge unumgänglich war und in welchem Maße Karrierismus, Opportunismus oder sogar antisemitische Motive zum Tragen kamen. Dabei fällt auf, welch geringes Gewicht Schröter der schon im Frühjahr 1933 einsetzenden generellen Verfolgung jüdischer Ärztinnen und Ärzte beimisst (S. 574-575, Fußnote 16). Er beschreibt die am Berliner Institut betriebene (Selbst)Gleichschaltung, das Sich-Andienen an das Regime unter Betonung der eigenen therapeutischen Leistungsfähigkeit und die Integration in das von Matthias Göring, dem Neffen Hermann Görings, 1936 gegründete und geleitete Deutsche Institut für Psychologische Forschung und Psychotherapie, einen Ort der schulenübergreifenden Integration verschiedener Richtungen unter Elimination ihrer vermeintlich jüdischen Elemente (v.a. Triebtheorie und Religionskritik) im Dienste einer Neuen Deutschen Seelenheilkunde. Damit hatte sich einerseits die Psychotherapie in Deutschland endgültig außerhalb universitärer Einrichtungen etabliert und auch Psychologinnen und Psychologen erstmals einen offiziellen Status garantiert, andererseits ihren einstigen aufklärerischen Anspruch der Vernutzung des Subjekts im nationalsozialistischen Kriegsbetrieb geopfert.

In einem Epilog skizziert Schröter die Entwicklung der Nachkriegsanalyse. In deren Mittelpunkt stand zunächst mit Harald Schultz-Hencke eine problematische Figur, die sich zuvor den Machthabern besonders offensiv angedient hatte und mit seiner Neo-Psychoanalyse glaubte, die freudianische Tradition zugunsten einer klinisch orientierten Amalgamierung tiefenpsychologischer Theorien als überholt zurücklassen zu können. Als dies zu Widerstand und zur Neugründung der konsequent an Freud orientierten Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV) führte, die im Protest zur althergebrachten Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG) stand, war eine Spaltung der deutschen psychoanalytischen Landschaft festgeschrieben, die heute zwar an Schärfe verloren hat, doch keineswegs überwunden ist. Im historischen Rückblick billigt Schröter beiden Kräften ihre Verdienste zu: der DPG die gelungene Integration in die nationale Krankenversorgung, der DPV den Anschluss an den internationalen Diskurs.

Diskussion

Kein Zweifel: Mit seiner beeindruckend kenntnis- und materialreichen Studie, elegant geschrieben und klar gegliedert, ist Schröter ein Opus Magnum gelungen, das wohl bald zum Standardwerk in seinem Gebiet avancieren und in Zukunft hoffentlich nicht nur deutschsprachigen Leserinnen und Lesern zur Verfügung stehen wird. Er bewahrt trotz seiner inhaltlichen Vertrautheit intellektuellen Abstand zur Psychoanalyse und ihrem Begründer, wovon der Text überwiegend profitiert. In zwei Themenfeldern hält der Rezensent den Autor jedoch für übermäßig kritisch. Das erste betrifft die Darstellung der Konstitution der neuen Wissenschaft in den Jahren vor dem Weltkrieg, wo Schröter die Selbstabgrenzung mit eigener Organisation, eigenen Publikationsorganen und eigener Terminologie negativ darstellt. Er denunziert Freuds „Ideal des wissenschaftlichen Schreibens (als) vielfach von einem missionarischen Impuls getragen“ (S. 169) und moniert, man wollte sich „in möglichst glänzendem Licht zeigen“ (S. 170). Doch darf man nicht mit Ludwik Fleck (2015), auch er ein brillanter jüdischer Arzt, knapp noch Zeitgenosse Freuds und einer der Begründer der Wissenschaftssoziologie, annehmen, dass gerade diese Charakteristika die Formierung eines „Denkkollektivs“ ausmachen, wie einer von Flecks wichtigsten Begriffen lautet? Haben die frühen Psychoanalytiker (Frauen waren noch kaum unter ihnen.) denn wirklich etwas anderes getan als jene Gruppe um August von Wassermann, die zur Serodiagnostik der Syphilis forschte, an deren Beispiel Fleck seine Wissenschaftssoziologie paradigmatisch entwickelt?

Der zweite Einwand wiegt schwerer und betrifft die Frage nach der Rolle des Antisemitismus bei den dargestellten Ab- und Ausgrenzungsprozessen. Schröter kommt immer wieder darauf zu sprechen und liefert auch eine Reihe von Zitaten. So war der Topos vom jüdischen „Amoralismus“, der „Zersetzung“ oder des Angriffs auf die vermeintlich „gehasste christliche Kulturordnung“ (alle S. 563) in der Psychoanalysekritik auch vor 1933 geläufig. Dennoch kommt der Autor in einem Unterkapitel (S. 219-222), das er ausschließlich den möglichen antisemitischen Motiven in der Diskussion widmet, zu dem überraschenden Ergebnis, dass es an Belegen für den von Freud behaupteten Antisemitismus bei der schwierigen Rezeption der Psychoanalyse für die Zeit vor der ausgehenden Weimarer Republik weitgehend fehle, während er Freuds Verweise darauf als Versuch versteht, die innerjüdische Solidarität im Dienste der Sache zu aktivieren. Auch wenn Schröter vorsichtige Formulierungen verwendet, erscheint seine Interpretation hier problematisch. Denn sie fußt auf einer isolierten Betrachtungsweise der überlieferten Quellen und dekontextualisiert die Entstehung der Psychoanalyse von ihren Ursprüngen als jüdischen Bewegung, wie Klein (1985) sie dargestellt hat. Ihre ersten 17 Mitglieder, rechnet Klein vor, waren Juden, von denen viele wie auch Freud selbst massive Diskriminierungen innerhalb wie außerhalb des akademischen Milieus erfahren hatten. Klein weist nach, wie sich die Psychoanalyse als Produkt einer von einem jüdischen Ethikideal geprägten Aufklärung in einem spezifischen Milieu entwickelte. Hier werden die Grenzen des rein professionsgeschichtlichen Ansatzes, der in anderen Bereichen neue Einsichten erlaubt, sichtbar. Auch für die Zeit von 1933 bis 1945 scheint der Autor den Verfolgungsdruck dem jüdische Ärztinnen und Ärzte generell ausgesetzt waren, zu unterschätzen.

Fazit

Mit beeindruckenden Detailkenntnissen ausgestattet, beschreibt der Autor im hier vorliegenden Werk die Geschichte des Berufsstandes, zu dem sich die Psychoanalyse in den ersten etwa 50 Jahres ihres Bestehens in Deutschland entwickelt hat. Mit der Wahl dieser spezifischen Perspektive vermag er einem schon gut untersuchten Thema überraschende Einsichten abzugewinnen. Seinem Opus Magnum ist die baldige Übersetzung ins Englische zu wünschen.

Literatur

Ludwik Fleck (2015 [1935]): Die Entstehung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Mit einer Einleitung. Herausgegeben von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle. 10. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Dennis B. Klein (1985): Jewish Origins of the Psychoanalytic Movement. Chicago: University of Chicago Press.

Rezension von
Prof. Dr. Peter Theiss-Abendroth
Psychiatrie, Psychotherapie, Psychoanalyse (DGPT, DPG)
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Es gibt 2 Rezensionen von Peter Theiss-Abendroth.

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Zitiervorschlag
Peter Theiss-Abendroth. Rezension vom 09.06.2023 zu: Michael Schröter: Auf eigenem Weg. Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland bis 1945. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2022. ISBN 978-3-525-45028-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30293.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.


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