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Heinz Meyer: Die afrikanischen Kultobjekte

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 17.02.2023

Cover Heinz Meyer: Die afrikanischen Kultobjekte ISBN 978-3-339-13212-3

Heinz Meyer: Die afrikanischen Kultobjekte. Eine anthropologische Analyse aus evolutionsbiologischer Sicht. Verlag Dr. Kovač GmbH (Hamburg) 2022. 557 Seiten. ISBN 978-3-339-13212-3. D: 139,80 EUR, A: 143,80 EUR.
Schriftenreihe Schriften zur Kulturgeschichte - Band 62.

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Kult, Rhythmus und Magie

Kunst ist… Darauf gibt es vielfältige Antworten: Kunst kommt von Können! – Kunst ist Gestalt! – Kunst ist Empfinden! – Kunst ist Berührung! (Karl-Josef Pazzini) – Kunst ist Verkörperung! (Nika Spalinger) – Kunst ist Konsum! -Kunst ist Inspiration! – Kunst ist Spiritualität! – Kunst ist Religion! (Silvia Henke, u.a.Hrsg., Kunst und Religion im Zeitalter des Postsäkularen, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14104.php). Etwas künstlerisch und ästhetisch darstellen ist individuell und vermittelt ein kollektives Signal!

Entstehungshintergrund und Autor

Die Auseinandersetzung mit Kunstobjekten ist Entdeckung von profanen und sakralen Dimensionen: „Aussagen über bestimmte Objekte können (.) unabhängig zu deren ‚wirklich‘ existierenden Eigenschaften, damit auch konträr zu deren ‚wirklich‘ existierenden Eigenschaften formuliert werden“. Dadurch chargieren Auffassungen über künstlerische Objekte von ästhetischen, außergewöhnlichen bis zu religiösen Empfindungen. Der Sozialwissenschaftler Heinz Meyer legt eine umfangreiche Analyse zum Verständnis von afrikanischen Kultobjekten vor. Es ist keine interreligiöse Auseinandersetzung, sondern eine psychologische, evolutionsbiologische Interpretation von Existenz und Welt im Kosmos des afrikanischen Denkens und Empfindens. Léopold Sédar Senghor bringt in der „Philosophie der Négritude“ (1964) zum Ausdruck, dass die afrikanische Religiosität darin bestehe, „im Natürlichen das Übernatürliche wahrzunehmen, im Sinn für das Übersinnliche und in der tätigen Hingabe … die liebende Hingabe“ zu empfinden: „Der Kult betrifft die Geister und die Ahnen“. Und es ist die Gemeinschaft der Lebenden, in der sich „Muntu“ – Lebenskraft – ausdrückt. Die Skulptur, die Maske, der materielle, handwerklich und geistig hergestellte Gegenstand ist Ritus, Magie und Verwandlung. Schnitzer, Töpfer, Schmied, Bronzegießer, Griots, Tänzer und Musiker werden zu Vermittlern des Göttlichen. Da ist kein Platz für externe, „primitive“ Einschätzungen und Höherwertigkeitsvorstellungen.

Aufbau und Inhalt

Heinz Meyer gliedert seine anthropologische Analyse, neben der ausführlichen Einführung und seinen Schlussfolgerungen, in die folgenden Kapitel: „Zum ‚Erkennen‘ numinoser Wirklichkeit“. Afrikanisches religiöses Denken und Handeln gestaltet sich durch den Kult nicht zur „Anbetung“ und „Spiegelung“, sondern zur „sinnlichen Rezeption“. So stellt sich „Wirklichkeit“ als mystische Erfahrbarkeit dar. Die christliche Bedeutung: „Gott ist unter uns“, wird im Kult und im Ritus erlebbar. Existentielle und Naturereignisse sind „Zwiesprachen“ (Paul Klee) und „Riten als berechnende Versachlichung der Beziehung von Gesellschaften und Individuen zum Numinosen“.

Im nächsten Kapitel setzt sich der Autor mit „Geographie, Gesellschaft und Geschichte Afrikas“ auseinander. Es sind skizzenhafte Notationen über den Kontinent, in dem die Entstehung der Menschheit datiert wird, in dem Kulturen entstanden, Macht ausgeübt wird, Unterdrückung und Kolonisierung sich vollzogen, und nicht zuletzt ethno- und eurozentristische Einstellungen vom „plumpen, ungeschlachten Riesen“ (Leo Frobenius, Kulturgeschichte Afrikas, 1933) eine eigenständige, afrikanische Entwicklung verhindert hat. In der abendländischen Klassifizierung wurde die kulturelle Entwicklung im Kontinent – ausgenommen der Alt-Ägyptens – als Infragestellung des Menschseins (Sklavenhandel, Kolonisierung) und Primitivisierung des kulturellen Denkens und Handelns gewertet. „Afrika hat keine Geschichte“, und damit eben auch keine Kultur (Hegel, u.a.). Ignoriert wurden dabei die (genuin) anderen Vorstellungen vom „Werk“ als „Ganzheit des Seins“, im Gegensatz zum westlichen Denken des „Habens“. Im philosophischen Diskurs sind es die Unterschiede zwischen dem mythischen und rationalen Bewusstsein.

Diese Diskrepanzen reflektiert der Autor im nächsten Kapitel: „Das mythische und das empirisch-rationale Denken“. Die diskriminierenden, hegemonialen Unterscheidungen als „wild, primitiv, animistisch“ auf der einen, und als „Hochkultur“ auf der anderen Seite bestimmen teilweise noch heute die mentalen, westlichen Einstellungen. Es sind die im alltäglichen Individuellen wie im kollektiven Kulturellen und Interkulturellen sich zeigenden Sehnsüchten und Erwartungshaltungen, das Ganze, Endgültige, Überirdische erkennen (und leben) zu können, die evolutionsbiologische Zugänge ermöglicht.

Mit „Ritus, Magie und Glaube“ thematisiert der Autor die ästhetische Auseinandersetzung. Die Einordnung, dass „fast alle traditionellen afrikanischen Figuren… religiösen Zwecken“ dien(t)en wird in vielfältigen Argumentationsketten und Fundsachen erläutert. Es sind gefühlsbetonte, religiöse, traditionelle und historisch überlieferte Motive und Anwendungen, die Gebrauch und Wirkung im mythischen Tun vereinen.

Im Kapitel „Rituelle Orientierung und Wiederbelebung der afrikanischen Gestaltung“ setzt er sich mit den Materialien, den Stilformen, den handwerklichen Riten und dem Rhythmus der Benutzung von Kultgegenständen auseinander. Die Unterscheidung in zeitweiser, generativer Verwendung und traditionell „ewig“-währenden Bedeutung verdeutlicht sich vielsagend im aktuellen, globalen Diskurs über die Restitution von afrikanischen Kultobjekten. Es sind die untrennbaren Verbindungen „von raumzeitliche(r) Gegenstandsbeschaffenheit einerseits und vergegenwärtigtem Sinn andererseits“, die bestimmte Symbole und Präsentationen hervorbringt: Fetisch, Orakel, Vaudou.

Das Kapitel „Sinnlich ansprechende Vergegenwärtigung relevanter Wirklichkeit“ konstatiert die im interkulturellen Vergleich wahrnehmbaren Gleichheiten und Ähnlichkeiten, wie auch Unterschieden. In der Anschauung, der Betrachtung, im Fühlen und Empfinden wird das (profane) Kunstwerk zum „Sinn-Objekt“. Die Herstellung und Ausstellung wird Stellung und Haltung.

Im Kapitel „Die Gestaltungskraft der afrikanischen Kultur“ verdeutlicht sich in den historischen Felsmalereien, wie in der Betonung von bestimmten Körperteilen und Funktionen: Form wird zum Fall und Fundament! In der (europäischen, westlichen) Kunstgeschichte lässt sich die Wahrnehmung und Übernahme von „primitiven“, künstlerischen Ausdrucksformen durchaus als Perspektivenwechsel verstehen.

Einen besonderen Interpretationsteil bei der Auseinandersetzung und Interpretation von afrikanischen Kult- und Kulturgütern nimmt das Kapitel „Die aus Metall gefertigten Kultobjekte“ ein. Die Schmiede- und Metallgießer-Kunst hat in Afrika eine lange Tradition. In diesem Zusammenhang soll verwiesen werden auf den Hildesheimer Kunsthistoriker Walter Konrad (1921 – 1983), der in den Jahren 1955/1962-63/1968 Forschungen über die Schmiede und deren Handwerk in der Republik Tschad unternahm und Berichte, Bild-Ton-Dokumente hinterließ. Es sind die Verbindungen von Handwerk – Funktion – Sendung, die „die zentrale kultische und ökonomische Bedeutung des Schmelzens, des Schmiedens und des Einsatzes der aus Eisen sowie ( ) aus anderen Metallen … gefertigten Objekte…“ verdeutlicht – und Einfluss, Begehrlichkeiten und Raubzüge von europäischen Mächten bewirkten.

Diese Entwicklung wird im Kapitel „Fremdkulturelle Rezeption und Säkularisation“ diskutiert. Missionierung und Kolonisierung bewirkten die Verleugnung des Natürlichen, Authentischen und Ästhetischen im afrikanischen Kultdenken und Kulturschaffen, was der ugandische Tänzer, Trommler und Kulturwissenschaftler Okot p’Bitek (1931 – 1982) in den Parabeln „Song of Lawino“ (1966) und „Song of Ocol“ (1970) zum Ausdruck brachte, nämlich die Besinnung der AfrikanerInnen auf ihre eigene, kulturelle Identität.

Im Kapitel „Originale, Kopien und Fälschungen“ setzt sich Meyer damit auseinander, wie – bei Sammlern, im Kunsthandel und bei Präsentationen – afrikanische Kultobjekte wahrgenommen und ihre eigentliche, kulturelle, religiöse, mythische Bedeutung genommen wird.

Diskussion

Es sind durchaus erlaubte und notwendige Fragen, ob „Geist“ beim Menschen immer religiös und überirdisch gedeutet werden muss, und ob künstlerisch eingeordnete Werke „Gleichnisse zum Werke Gottes“ und „heilige Handlungen“ sind, oder ob Auseinandersetzung mit Welt auch mit animistischem, natürlichem, primitivem Denken und Tun möglich und sinnvoll ist. Immerhin: Die in der Négritude Senghors und Aimé Césaires zum Ausdruck gebrachten Unterschiede zwischen dem Europäer und dem Afrikaner – „als Mensch des Willens, als Krieger, als Raubvogel mit dem klaren Blick“, und dem, der seinen Gegenüber nicht sieht, sondern fühlt und sagt: „Ich fühle den Anderen, ich tanze den Anderen, also bin ich“ – werden nirgendwo deutlicher als in den religiösen und profanen Kultgegenständen. Dabei sind es gar nicht in erster Linie religiöse Glaubensatteste und -fragen, sondern Mentalitäten, Einstellungen und kulturelle Identitäten. Der Autor fasst diese Unterscheidungen so zusammen: „Das Kultobjekt vergegenwärtigt im Erleben der dem Ritus Verpflichteten seine Verknüpfung mit dem religiösen Handeln nicht als affektiv indifferente Information, sondern … als es den Ritus als die obligatorische Beziehung der Stammesangehörigen zu der sie betreffenden numinosen Wirklichkeit … vor Augen führt“. Dilemma oder Fakt bleiben: Kultisches, religiöses Denken und Handeln ist individuell. Wenn es kollektiv zu einem Wollen und Sollen als Konfession wird, darf sie nicht fundamentalistisch verordnet werden; es gilt das liberale, freiheitliche Menschenrecht der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, wie es als „globale Ethik“ in der allgemeinverbindlichen, allgemeingültigen, nicht relativierbaren Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen in Art. 18 lautet.

Der vom Verlag kalkulierte Ladenpreis von 139,80 Euro wird sicherlich nicht dazu beitragen, dass die umfangreiche Studie auf den privaten Büchertischen landet; sie sollte aber in den universitären Bibliotheken und öffentlichen Büchereien zur Verfügung stehen! Besonders hervorzuheben sind die zahlreichen, auf Hochglanzpapier abgebildeten farbigen und Schwarz-Weiß-Fotos. Sie illustrieren und veranschaulichen Heinz Meyers Ausführungen.

Fazit

Meyer klärt im Appendix seiner Studie „die mentale Konstitution und die Genese religiösen Erlebens und Verhaltens“, indem er „animistisch“ ausgedrückte Weltanschauungen biologisch, mental, evolutionär und anthropologisch untersucht. Die Erkenntnis, dass religiöses Denken und Praktizieren affektiv und sinnlich erfolgt und nur bedingt rational erklärt werden kann, lässt sich (auch) bei den afrikanischen Stammesreligionen, Riten und Kulten nachweisen: „Die in den verschiedenen afrikanischen Stammesreligionen geteilte Annahme der Allgegenwart und Allwirksamkeit der Ahnen und der übrigen Geister bedingt die vitale Beziehung zu den Überirdischen als die integrale Voraussetzung für die Verwirklichung der menschlichen Anliegen“ -und zwar direkt! Das zeigt sich, gefühlt und gelebt, in der unverbrüchlichen, verpflichtenden Verantwortung für die Gemeinschaft.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1695 Rezensionen von Jos Schnurer.

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ISSN 2190-9245