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Charles Benoy, Marc Walter (Hrsg.): Zwangsstörung

Rezensiert von Sebastian Kron, 28.04.2023

Cover Charles Benoy, Marc Walter (Hrsg.): Zwangsstörung ISBN 978-3-17-038732-4

Charles Benoy, Marc Walter (Hrsg.): Zwangsstörung. Grundlagen - Formen - Interventionen. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2022. 280 Seiten. ISBN 978-3-17-038732-4. 42,00 EUR.

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Thema

Das vorliegende Werk beschäftigt sich mit einer Störung, deren Vorkommen in den letzten Jahren enorm anstieg. Zwang und Angst sind Phänomene, die nicht trennbar voneinander zu betrachten sind. Zwangsgedanken und Zwangshandlungen füllen den Alltag der Betroffenen.

Ein Überblickswerk zur klinischen Psychologie von Davison, Neale und Hautzinger aus dem Jahr 2007 schreibt psychischen Störungen fünf Hauptmerkmale zu. Der Störungsbegriff wird mit der Erfüllung drei dieser Merkmale definiert:

  1. Statistische Seltenheit
  2. Verletzen der sozialen Normen
  3. Persönliches Leid
  4. Beeinflussung der Lebensführung
  5. Unangemessenes Verhalten

Grundsätzlich erfüllen Zwangserkrankungen mindestens drei der gegebenen Merkmale umfänglich. Durch das stetige Ausführen von immer wiederkehrenden Handlungen wird die Lebensführung der Betroffenen massiv beeinträchtigt. Mehrere Stunden verbringen erkrankte Menschen damit, den Handlungen nachzukommen. Gedanken, die sich stetig aufdrängen, haben schwerwiegende Folgen für Betroffene. Sie können nicht (mehr) ihren alltäglichen Aufgaben nachgehen, ziehen sich zurück und bauen in ihrer Leistungsbereitschaft in Beruf, Studium oder Ausbildung massiv ab. Sie leben also im negativen Sinne für ihre Störung. Aus meiner Sicht würde ich alltägliche Rituale von Zwangserkrankungen wie folgt trennen: Rituale sind alltagsfördernd, zeigen nicht das Merkmal, die Angst drohenden Unheils zu erwarten, wenn sie nicht ausgeführt werden. Zwänge zeigen sich mit tiefsitzenden Ängsten, wenn bestimmte Vorgänge nicht stetig wiederholt oder ausgeführt werden (können). Damit stellt sich, aus meiner Sicht, auch ein wesentliches Hauptmerkmal der Zwangsstörung heraus. Menschen leiden maßlos unter einer solchen Erkrankung. Anders als bei der zwanghaften Persönlichkeitsstörung liegt bei der Zwangsstörung keine Ich-Syntonie vor. Ich Sytonie bedeutet, dass Betroffene ihre Gefühlswelt zum eigenen Ich gehörend wahrnehmen. Menschen mit Zwangsstörungen erleben die Eigenschaften der Störung nicht zum eigenen Ich gehörend. Betroffene der zwanghaften Persönlichkeitsstörung erleben die Ausmaße ihrer Störung nicht als befremdlich, sehen sie also zum eigenen Ich gehörend. Punkt 5 ist voll erfüllt, da Zwangshandlungen für einen gesunden Menschen absurde, zweifelhafte und realitätsferne Züge annehmen können. Aus meiner Sicht ist Punkt 2 auch erfüllt, da andere charakteristische Merkmale dazu führen, dass die sozialen Normen „verletzt“ werden.

Angaben zu den HerausgeberInnen

Herr Dr. phil. Benoy ist Psychologischer Psychotherapeut an zwei unterschiedlichen psychiatrischen Kliniken in Luxemburg und Basel. Zudem ist er Vorstandsmitglied und Past-Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Zwangsstörungen.

Herr Prof. Dr. med. Walter ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Chefarzt und Klinikleiter der PDAG. Zudem hat er eine Professur für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Basel inne.

Über 35 Autor:innen wirkten an dem vorliegenden Buch „Zwangsstörung Grundlagen – Formen – Interventionen“ mit.

Entstehungshintergrund

Die Covid 19-Pandemie hat neben einen rasanten Anstieg von depressiven Erkrankungen und Angststörungen auch zu einer Zunahme der Zwangserkrankungen geführt. Eine Vermutung ist, dass insbesondere Waschzwänge, durch die mit Corona in Verbindung stehenden Hygienemaßnahmen, eine besondere Bedeutung einnahmen.

Aufbau

Die vorliegende Fachliteratur besteht aus vier großen Kapiteln:

Teil I: Grundlagen

Teil II: Diagnostik, Differenzialdiagnostik und Komorbidität

Teil III: Spezifische Perspektiven

Teil IV: Behandlung

Das Kapitel Grundlagen befasst sich mit Erscheinungsbild und Klassifikation sowie Epidemiologie und Verlauf. Des Weiteren werden theoretische Modelle der Zwangsstörungen diskutiert. Kognitiv-behaviorale, psychodynamische, systemische und neurobiologische Aspekte spielen eine Rolle.

Diagnostische Kriterien der Zwangsstörungen leiten das zweite Kapitel ein und zeigen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu verwandten psychischen Störungen auf. Zudem wird die zwanghafte Persönlichkeitsstörung beleuchtet. Differenzialdiagnostik und Komorbidität sowie Sucht und Zwang bilden den Abschluss des zweiten Kapitels.

Der Teil „Spezifische Perspektiven“ beleuchtet die Zwangserkrankung aus Sicht verschiedener Alterskohorten und kulturspezifischen Ausführungen. Relevante Merkmalsunterschiede zwischen Zwängen im Kindes- und Jugendalter sowie Zwängen im höheren Alter werden diskutiert.

Teil IV geht auf relevante Möglichkeiten der Interventionen ein. Zentral werden unter anderem die kognitive Verhaltenstherapie, die evidenzbasierte Behandlung, psychosoziale Möglichkeiten und die medikamentöse Intervention besprochen.

Inhalt

Teil I: Grundlagen

Rituale sind Teil unseres Alltags. Sie strukturieren ihn und geben uns einen geregelten Tagesablauf. Wenn allerdings bestimmte Rituale nicht beherrschbar werden, wenn sie sich quälend auf die Persönlichkeit legen oder Menschen drohendes Unheil erwarten, wenn sie diese nicht ausführen, dann spricht man von einer Störung. Vier zentrale Merkmale sind für Zwänge fundamental: a.) Betroffene erleben einen stetigen inneren Drang, bestimmte Verhaltensweisen auszuüben oder haben Gedanken, etwas stets und ständig ausführen zu müssen, b.) Betroffene wehren sich gegen die immer wieder auftretenden Gedanken und zeigen einen enormen Widerstand gegen diese, c.) die Person zweifelt Inhalt und Sinnhaftigkeit der Gedanken und Handlungen an und d.) Betroffene und Angehörige sind in ihrer Lebensführung massiv beeinträchtigt.

Zwänge können in dreierlei Formen auftreten: a.) Zwangsgedanken, b.) Zwangshandlungen oder c.) sowohl Zwangsgedanken als auch Zwangshandlungen. Zwangsgedanken sind immer wiederkehrende Gedanken, die Betroffenen stets und ständig in den Sinn kommen. Zwangshandlungen hingegen sind ritualisierte Handlungen, die den Alltag der Betroffenen bestimmen. Bei der Form c.) lösen zumeist die wiederkehrenden Gedanken bestimmte Handlungen aus.

Bei den ätiologischen Modellen der Zwangsstörungen werden a.) kognitiv-behaviorale, b.) psychodynamische und c.) systemische Aspekte diskutiert. Die kognitiv-behavioralen Annahmen gehen überblicksmäßig davon aus, dass bestimmte Intrusionen (z.B. Eingebungen) fehlgedeutet werden und daraus verschiedene krankhafte Störungen resultieren können. Aus psychodynamischer Perspektive kann gesagt werden, dass Zwänge einen a.) triebtheoretischen, b.) einen konflikttheoretischen oder einen c.) objekttheoretischen Hintergrund haben können. Bei den systemischen Annahmen spielen die Familie und andere gruppendynamische Aspekte sowie darin integrierte Erziehungsmuster eine Rolle. Aktuelle Forschungen befassen sich mit neurobiologischen Faktoren der Zwangsstörungen.

Teil II: Diagnostik, Differenzialdiagnostik und Komorbidität

Die Diagnostik gestaltet sich oft sehr schwierig, da manche Gedanken schambehaftet sein können. Sie kann mehrere Arbeitsabläufe beinhalten: a.) Je nach Kontext sollte ein Screening vollzogen werden. b.) Bei Verdacht auf eine Zwangsstörung sollten die Diagnosekriterien geprüft werden und ggf. ein strukturiertes Interview durchgeführt werden. c.) Bei Vorliegen einer Zwangserkrankung sollte der Schweregrad mittels Fremd- und Selbstbeurteilungsinstrumente erhoben werden. d.) Im vierten Schritt sollten andere Erkrankungen ausgeschlossen werden. e.) Inwieweit Teilhabe- und Lebensqualität eingeschränkt sind, müsse ggf. unter Einbeziehung der Angehörigen erhoben werden.

Zur Differenzialdiagnostik werden in einem Teil Zwanghaftigkeit und Impulsivität sowie in einem weiteren Zwangsspektrumsstörungen diskutiert. Im Anschluss an die Begriffserläuterungen werden Modelle diskutiert, die Zwanghaftigkeit und Impulsivität in Beziehung setzen. Diese sind a.) das dimensionale und b.) das Clustermodell, genauso wie c.) das orthogonale Modell. Das vorliegende Kapitel schließt mit einer Erörterung der gängigsten Zwangsspektrumsstörungen ab, wobei diese einen Oberbegriff über jene Störungen anzeigen, die im Kontext einer hohen Gemeinsamkeit zwischen Zwangssymptomatik und Impulsivität stehen.

Die zwanghafte Persönlichkeitsstörung ist eine Störung, die im Gegensatz zur Zwangsstörung durch eine Ich-Syntonie gekennzeichnet ist. Das Bild der zwanghaften Persönlichkeitsstörung zeichnet sich durch übermäßige Ordnung, Perfektion und zwischenmenschlicher sowie psychischer Kontrolle aus.

Zwänge treten selten allein auf. Sie stehen meist unter dem „Deckmantel“ anderer psychischer Störungen: a.) Affektive Störungen, b.) Angststörungen, c.) schizophreniforme Störungen, d.) Tic-Störungen, e.) Persönlichkeitsstörungen, f.) Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörungen und/oder g.) Autismus-Spektrum-Störungen.

Mit dem Satz „Süchte und Zwänge haben viel gemein, obwohl es sich klinisch und nosologisch um eigenständige Krankheitsbilder handelt.“ leiten die Autoren ein Folgekapitel ein und bieten damit auch eine zentrale Zusammenfassung für das Kapitel „Sucht und Zwang“.

Teil III: Spezifische Perspektiven

Der Teil „Spezifische Perspektiven“ diskutiert a.) das klinische Bild, b.) das Auftreten und c.) die Interventionen von Zwangsstörungen aus unterschiedlichen Alterskohorten. Kulturelle Aspekte schließen dieses Kapitel ab.

Teil IV: Behandlung

Maßnahmen der Interventionen und Behandlung bilden den Abschluss eines sehr interessanten Buches. Die evidenzbasierte Behandlung geht einem bestimmten Muster nach: a.) fundierte Diagnostik, b.) ausführliche Psychoedukation, c.) aktiver Einbezug von Angehörigen, d.) gemeinsame Festlegung und Überprüfung von Behandlungszielen, e.) ggf. Einbindung zusätzlicher medienbasierter und selbsthilfebezogener Aspekte, d.) bei Gefährdung, Verwahrlosung oder Vernachlässigung der Betroffenen ist ein stationärer Aufenthalt zielführend. In der psychotherapeutischen Behandlung hat sich insbesondere die kognitive Verhaltenstherapie bewährt, die sich a.) eine aktive Haltung der Betroffenen gegenüber ihrer Erkrankung, b.) die Verhinderung des Gefühls der Erkrankung ausgeliefert zu sein, c.) die Stärkung der Selbstwirksamkeit und d.) das Erzeugen einer Veränderungsmotivation als Ziele setzt. Grundsätzlich ist eine gute Verhaltensdiagnostik erstrebenswert, um anschließend psychotherapeutisch tätig zu werden. Das Konfrontieren mit diversen Ängsten bei Nichtausführen bestimmter Handlungen (Expositionstherapie) und das Umwandeln dysfunktionaler Gedanken (kognitiv) zählen zu den wichtigsten Behandlungspfeiler der kognitiven Verhaltenstherapie. Grundsätzlich ist für die Behandlung der Beziehungsaspekt zwischen Therapeut:in und Betroffenen wichtig. Die Akzeptanz- und Commitment-Therapie wird in dem vorliegenden Buch als „Dritte Welle“ der kognitiven Verhaltenstherapie umschrieben. Sie setzt eine besondere empathische Haltung zu psychischen Leiden und psychischer Erkrankung voraus und betont den Aspekt, dass eine psychische Erkrankung jeden Menschen treffen kann und nicht (immer) in dessen Ermessen liegt. Außerdem wird während der Behandlung die psychische Flexibilität zwischen dem Hier und Jetzt sowie der individuellen Persönlichkeit hergestellt und trainiert. Die psychopharmakologische Behandlung kann meist eine Psychotherapie nicht ersetzen, sondern unterstützt lediglich den Behandlungsprozess und berücksichtigt dabei den neurobiologischen Aspekt diverser Zwänge. Psychosoziale Behandlungsaspekte berücksichtigen das soziale Umfeld und haben damit im gewissen Maße einen systemischen Blick auf die Entstehung psychischer Störungen. Damit rücken gemeindepsychiatrische Aspekte, bestimmte unterstützende Wohnformen oder eine kunsttherapeutische Versorgung in den Fokus. Gruppentherapeutische Angebote sind hierbei nicht zu unterschätzen. Technikbasierte Methoden (z.B. Health Apps) werden diskutiert. Angehörige einzubeziehen ist in allen Behandlungsstrategien sinnvoll.

Diskussion

Den Diskussionsteil möchte ich dafür nutzen, seelische Not und Angst zu thematisieren. Seelische Not kann, ohne Frage, in Angststörungen münden, insbesondere dann, wenn sie unbehandelt bleibt. Sie zeigt sich bei jedem Menschen anders. Einige ziehen sich zurück, andere zeigen differenzierte Persönlichkeitszüge als zuvor, wieder andere neigen zu zwangsähnlichen Symptomen. Menschen mit Zwangsstörungen werden vielfach aus Gründen ihrer „unangemessenen“ Verhaltensweisen ausgelacht und gedemütigt. Sozialer Rückzug ist vorprogrammiert. Dieser führt dann meist zu weiteren schwerwiegenden seelischen Erkrankungen.

Daher muss Soziale Arbeit mit Zwangserkrankten, aus meiner Sicht, auf drei Säulen betrachtet werden: a.) Beziehungs- und Vertrauensgestaltung, b.) Ressourcenaktivierung und c.) Aufbau von Selbstakzeptanz. Beziehungs- und Vertrauensaufbau meint nicht nur den Aufbau einer guten sozialpädagogischen Beziehung. Es meint vor allem auch den Umgang mit sehr besonderen Zwangsgedanken der Betroffenen, den Umgang mit einer enormen seelischen Not und der Angst vor drohenden Unheil. Ressourcenaktivierung und Selbstakzeptanz haben zur Folge, dass Menschen sich, ihre Fehler, aber auch ihre Potenziale anders wahrnehmen und in Folge sich selbst anders sehen. Sie lernen Fehler als etwas Unvermeidbares kennen und bekommen das Gefühl, dass ihre Gedanken keinerlei Einfluss auf bevorstehende Situationen haben können.

Soziale Arbeit mit Zwangserkrankten fängt in der Einzelfallhilfe an, kann aber gleichzeitig auch in Gruppen mit Selbsthilfecharakter ausgebaut werden. Der offene Austausch kann helfen, mit „Gleichgesinnten“ ins Gespräch zu kommen, um dann zu hinterfragen, ob Gedanken allein Unheil auslösen können.

Fazit

Ein sehr komplexes, gut aufbereitetes Buch mit knapp 300 Seiten diskutiert seelische Not im Kontext des Störungsbildes Zwang. Es zeigt die besondere Bedeutung von Ritualen für die Tagesstruktur eines Menschen auf, thematisiert gleichzeitig jedoch das Problem, dass Rituale auch krankhaft werden können. Gleichzeitig werden ätiologische Ansätze und Interventionsmöglichkeiten der Zwangsstörung diskutiert und Zwänge in unterschiedlichen Alterskohorten betrachtet.

Fortführende Literatur

Davison, G. C./Neale, J., M./Hautzinger, M. (2007): Klinische Psychologie. Ein Lehrbuch. Beltz PVU. Weinheim u.a.. 7. Auflage

Rezension von
Sebastian Kron
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Zitiervorschlag
Sebastian Kron. Rezension vom 28.04.2023 zu: Charles Benoy, Marc Walter (Hrsg.): Zwangsstörung. Grundlagen - Formen - Interventionen. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2022. ISBN 978-3-17-038732-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30295.php, Datum des Zugriffs 04.12.2024.


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