Aladin El- Mafaalani: Wozu Rassismus?
Rezensiert von Dr. Hasan Gencel, 20.03.2023

Aladin El- Mafaalani: Wozu Rassismus? Von der Erfindung der Menschenrassen bis zum rassismuskritischen Widerstand.
Verlag Kiepenheuer & Witsch
(Köln) 2021.
195 Seiten.
ISBN 978-3-462-00223-2.
D: 12,00 EUR,
A: 12,40 EUR.
Reihe: KiWi - 1796.
Thema
Rassismus ist ein Phänomen, welches weltweit bis zu unserer Zeit nicht an Bedeutung verloren hat. Die Gesellschaft in Deutschland ist zwar offener geworden, aber Strukturen und Selbstverständlichkeiten sind bisher teilweise rassistisch geprägt. Diese Schieflagen und Diskriminierungserfahrungen werden häufiger in der Öffentlichkeit moniert und diskutiert, was als Zeichen für Öffnungsprozesse der Gesellschaft gedeutet werden kann. Allerdings führen diese stärkeren Diskussionen und Sensibilisierungen und schließlich daraus entstehende Liberalisierungsmaßnahmen zu Verharrungsverhalten und zu Gegenbewegungen bei einigen Gruppen, die wiederum sogar zu rassistisch motivierten Anschlägen und Morden geführt haben. Um diese Prozesse und Entwicklungen zu verstehen, sollte dieses hoch aktuelle Thema historisch, strukturell und multiperspektivisch sowie holistisch analysiert werden. Daher nimmt dieses Phänomen nicht nur politisch und gesellschaftlich, sondern auch wissenschaftlich an Bedeutung zu. Rassismusforschung befindet sich derzeit in Deutschland noch in der Anfangsphase.
Autor
Aladin El-Mafaalani ist Professor für Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft am Institut für Migrationsforschung und interkulturelle Studien an der Universität Osnabrück. Er studierte Politik-, Sozial-, Arbeits- und Wirtschaftswissenschaften sowie Pädagogik an der Ruhr-Universität Bochum.
Entstehungshintergrund
Der Autor hat die Intension mit dieser Veröffentlichung das Thema Rassismus für seine Leser:innen so aufzubereiten, dass sie einen Überblick, eine Systematik sowie diverse Deutungsangebote im Kontext auf die aktuellen (Rassismus-) Entwicklungen erhalten. Dabei sollen die Kriterien Komplexität, Multiperspektivität, Widersprüchlichkeiten und Paradoxien berücksichtigt werden.
Aufbau und Inhalt
Die Publikation besteht aus neun Kapiteln, welche systematisch aufeinander aufbauen.
Im ersten Kapitel wird der Frage „Was ist Rassismus?“ nachgegangen. Zunächst wird der Begriff Rassismus definiert und anschließend dessen Teilbereiche erläutert, um Zusammenhänge und Querbezüge zu den nachfolgenden Kapiteln in diesem Buch herzustellen. So wird beispielsweise die Ideologie, die Struktur und der Prozess in Zusammenhang der Bedeutung von Rassismus, kurz beschrieben. Auch die Folgen von rassistischen und anderen Formen von Diskriminierungen werden kurz skizziert. Es werden zudem in diesem Abschnitt diverse Rassismusarten sowie Intersektionalitäten dargelegt, d.h. Rassismuserfahrungen in mehreren Dimensionen, wie z.B. Merkmalkombinationen schwarze Hautfarbe und Muslima.
Das zweite Kapitel widmet sich dem Thema Rassismus als Ideologie. Hierbei werden die historischen Ursprünge und Entstehungskontexte insbesondere mit Blick auf Europa und Deutschland analysiert. Unter anderem wird ein Bogen von der Klimatheorie und Sklaventheorie des Aristoteles über Kolonialisierung von Amerika und Afrika bis zu Nationalsozialismus gespannt und die damit verbundenen Entwicklungen verdeutlicht. So wird konstatiert, dass die rassistische Ideologie nicht vom Volke, somit nicht von unten, ausging, sondern von Intellektuellen, Geistlichen und Herrschern, welche dann in den Schulen und Universitäten übernommen und gelehrt wurden. Paradoxerweise etablierte sich im 18. Jahrhundert mit der Aufklärung und dem damit verbundenem Streben nach Freiheit und Vernunft, die hierarchisch geprägte Rassismustheorie (Herrschaftsideologie).
Das dritte Kapitel beleuchtet den strukturellen Rassismus. Er wird historisch als gewachsen und überall in Kultur und Gesellschaft verankert beschrieben und hat weiterhin seine Wirkmacht nicht verloren. Der strukturelle Rassismus wird in kulturellen, sozioökonomischen und normativen Strukturen analysiert und formuliert. In den Schulbüchern, Kindergeschichten, Museen sowie bei Einrichtungsnamen können beispielsweise rassistische Spuren und Muster entdeckt werden. In der Sprache sind ebenfalls Herrschafts- und Ungleichverhältnisse ausgeprägt und es wird das Prinzip Othering angewendet. Besonders die PoC-Gruppe (People of Color) ist von kulturellen, sozioökonomischen und normativen Strukturen mehrfach benachteiligt, die jedoch von vielen in der Gesellschaft entweder nicht wahrgenommen oder als nicht veränderbar akzeptiert werden.
Im vierten Kapitel wird Diskriminierung als Prozess beschrieben. Dabei werden die drei idealtypischen Prozessphasen Kategorisierung, Abwertung und Ausgrenzung herangezogen. Zunächst wird das Individuum entindividualisiert und durch gewisse Eigenschaften, wie Hautfarbe oder Religion kategorisiert. Diese Kategorisierung wird im zweiten Schritt hierarchisiert bzw. abgewertet, sodass die Person „anders- oder fremd gemacht“ wird (Othering/Distinktion). Dies kann dann als Begründung für den Ausschuss von diversen materiellen oder nicht-materiellen Ressourcen dienen. In der Praxis können diese Phasen nur teilweise vorkommen, in einer anderen Reihenfolge ablaufen und bewusst oder unbewusst erfolgen. Hier sind sehr viele Rahmenbedingungen ausschlaggebend, wie z.B. herrschende Machtverhältnisse.
Der institutionelle Rassismus wird im fünften Kapitel thematisiert. Neben der Beschreibung wird auf die Tragweite des Phänomens eingegangen. Institutionen, wie Kitas, Universitäten, Unternehmen, Gerichte oder Medienhäuser, prägen stark den Lebensalltag, die Lebenschancen sowie den Lebenslauf der/des Einzelnen. Auch wenn die Benachteiligung bei den betroffenen Personen in allen Institutionen gering wäre, ist die Auswirkung in der Summe beträchtlich. In diesem Zusammenhang ist es aufschlussreich, die Einrichtungen unter diversen Aspekten zu beleuchten. So können die Einrichtungsspezifika Funktion, Prozesse, Qualifikation und Struktur des Personals, Klientel und spezifische Rahmenbedingungen relevant für institutionellen Rassismus sein. Abschließend werden in diesem Kontext die Institutionen Polizei sowie Schule ausführlicher betrachtet und mit aktuellen Ereignissen illustriert.
Das sechste Kapitel beschreibt rassistische Diskriminierung als persönliche Erfahrung. Der Rassismusbegriff ist in der Gesellschaft stark geächtet und wird als schwerwiegender Vorwurf betrachtet, wenn jemand als Rassist bezeichnet wird. So sind die meisten rassistischen Handlungen nicht offen oder schwer erkennbar. Weiterhin ist es entscheidend, ob und wie eine Person benachteiligte Handlungen als Diskriminierung wahrnimmt. Je prekärer die Lebensumstände sind und je geringer das Bildungs- bzw. Qualifikationsniveau ist, umso seltener werden Diskriminierungserfahrungen berichtet. Vor allem latenter und/oder nicht-intendierter Rassismus wird meist nur von hochqualifizierten Betroffenen wahrgenommen und problematisiert. Einige betroffene PoC suchen auch die Schuld bei sich, was zu Isolation, (Re-) Ethnisierung oder Krankheiten, wie Depressionen führen kann. Diskriminierungen können sich auch häufen, da Migrant:innen – vor allem in der Nachfolgegeneration – mehr mitgestalten und ihre Interessen in der Gesellschaft stärker vertreten wollen.
Im siebten Kapitel wird Rassismus als pädagogische Herausforderung betrachtet. Es wird die derzeitige Situation in Bildungseinrichtungen moniert. Die Pädagog:innen bzw. Lehrkräfte in den Kitas und Schulen sind für pädagogische Arbeit gegen Rassismus und Diskriminierung nicht hinreichend ausgebildet worden. Viele sind entweder nicht sensibel genug, um Rassismus zu erkennen oder sie sind mit den Vorfällen überfordert. Auch die Lehrpläne thematisieren dieses Thema nur kurz und oberflächlich. So werden Rassismus und Kolonialismus kaum und einseitig thematisiert. Weiterhin beinhalten Unterrichtsmaterialien teilweise rassistische Denkmuster und sind sogar vorher amtlich legitimiert worden. Die Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche sind enorm und können zu Passivität, Resignation oder zu Radikalisierung führen. Es gibt sehr vielversprechende Konzepte und Überlegungen, die jedoch in Bildungseinrichtungen nicht hinreichend umgesetzt und weiterentwickelt worden sind.
Rassismusthematisierung wird im achten Kapitel untersucht. Der Autor stellt dar, dass der Rassismus in Deutschland in der Vergangenheit auch nach vielen schrecklichen Attentaten und Vorfällen wie in Mölln, Rostock, Solingen etc. nicht in der Politik, Gesellschaft und in den Medien angemessen besprochen und aufgearbeitet wurde. Oft kam es zu diversen Dethematisierungs- bzw. Distanzierungsstrategien, um ihn zu verschleiern. So wurde beispielsweise im Alltag bei Rassismusereignissen skandalisiert, d.h. Täter-Opfer-Umkehr angewendet oder den Rassismusvorfall als einen extremen Einzelfall dargestellt, um ihn schnell abzuhaken. Die jüngsten Entwicklungen zeigen allerdings, dass die Gesellschaft offener und sensibler gegenüber Diskriminierungskritik geworden ist. Hierzu haben sehr viele Faktoren und Rahmenbedingungen beigetragen, wie etwa Allianz- und Vernetzungsbildung von diversen Minderheitsgruppen (PoC, LSBTIQ+ etc.) und Opferfamilien, Anstieg der hochgebildeten und statushohen Menschen in der PoC-Gruppe oder auch internationale Rassimusanschläge, wie etwa die Tötung von George Floyd in den USA, welche in Deutschland ebenfalls zu Black-Lives-Matter-Bewegung geführt hat.
Im neunten Kapitel wird dargestellt, wie Kritik am Rassismus geübt werden kann. Zunächst wird festgestellt, dass Rassismuskritik viele Ansätze enthält und häufig unterschiedlich verstanden wird. Sie ist zwar für die Gesellschaft wichtig geworden und hat auch den Mainstream erreicht, aber dennoch sollte sie als Schlüsselqualifikation für pädagogische Profession verstanden werden und weiterhin in Aus- und Fortbildungen Platz einnehmen. Dabei sollten u.a. die folgenden Erkenntnisse und Haltungen vermittelt werden: Rassismus ist strukturell in Kultur und Gesellschaft verankert, es muss ein Bewusstsein für Rassismusthematisierung geschaffen werden, Rassismuskritik bedeutet Mehrperspektivität und Perspektiverweiterung, sodass nicht nur Benachteiligungen, sondern auch Privilegien hinterfragt werden sollten. Somit ist sie eine dauerhafte Selbstreflexion und Reflexion der sozialen Ordnung, um Diskriminierung zu vermeiden. Abschließend wird für Rassismuskritik auch Geduld und Gelassenheit sowie Verständnis für Widersprüchlichkeit und Sinn für Komplexität benötigt.
Diskussion
Der Autor bearbeitet das komplexe Thema Rassismus beeindruckenderweise verständlich und einfach, aber auch tiefgründig und fundiert zugleich, sodass dieses Buch für viele Leser:innen bestimmt ist. Die Anmerkungen im Anhang tragen u.a. hierzu bei und verweisen auf andere Literatur oder Informationsstellen. Die Kapitel und die Teilthemen sind gut gewählt und bauen stimmig aufeinander auf. Die gewählten Metaphern und aktuellen Fallbeispiele illustrieren die gestellten Thesen sowie Deutungsaussagen angemessen. Insbesondere sind die Kapitel sieben (pädagogische Herausforderung) und acht (Rassismusthematisierung) von besonderer Bedeutung. Wichtig ist auch zu erwähnen, dass die Ausarbeitung Mehrperspektivität und Widersprüchlichkeiten sowie Paradoxien berücksichtigt. In einigen Stellen sind jedoch Wiederholungen zu finden, welche nicht nötig wären. Summa summarum kann konstatiert werden, dass der Autor in diesem Buch sich selbst gesteckte Ziele und Anforderungen vollständig erfüllt hat.
Fazit
Aladin El-Mafaalani ist es mit dieser Veröffentlichung gelungen, ein wichtiges und nicht einfaches Phänomen so zu bearbeiten, dass den Leser:innen nicht nur ein fundierter Überblick und eine Systematik, sondern zudem (aktuelle) Zusammenhänge und Herausforderungen aufgezeigt werden. Die Publikation ist zwar für alle Personen unabhängig von ihrer Profession und Vorerfahrung empfehlenswert, Pädagog:innen sollten hier aber stärker angesprochen werden.
Rezension von
Dr. Hasan Gencel
Mailformular
Es gibt 2 Rezensionen von Hasan Gencel.
Zitiervorschlag
Hasan Gencel. Rezension vom 20.03.2023 zu:
Aladin El- Mafaalani: Wozu Rassismus? Von der Erfindung der Menschenrassen bis zum rassismuskritischen Widerstand. Verlag Kiepenheuer & Witsch
(Köln) 2021.
ISBN 978-3-462-00223-2.
Reihe: KiWi - 1796.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30296.php, Datum des Zugriffs 28.05.2023.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.