ogsa AG Migrationsgesellschaft (Hrsg.): Soziale Arbeit in der Postmigrationsgesellschaft
Rezensiert von Moritz Niklas Frietzsche, 19.05.2023
ogsa AG Migrationsgesellschaft (Hrsg.): Soziale Arbeit in der Postmigrationsgesellschaft. Kritische Perspektiven und Praxisbeispiele aus Österreich.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2021.
450 Seiten.
ISBN 978-3-7799-6447-6.
D: 39,95 EUR,
A: 41,10 EUR.
Buchreihe der ogsa. Österreichische Gesellschaft für Soziale Arbeit.
Herausgeber:innen
Der Sammelband „Soziale Arbeit in der Postmigrationsgesellschaft. Kritische Perspektiven und Praxisbeispiele aus Österreich“ wird von der AG Migrationsgesellschaft (im Folgenden: ogsa AG) der Österreichische Gesellschaft für Soziale Arbeit (ogsa) herausgegeben. Als Herausgeber*innen fungieren Heiko Berner, Doris Böhler, Tina Füchslbauer, Manuela Hofer, Anne Kühne, Irene Messinger, Anna Riegler, und Martina Tißberger. Das Buch ist zugleich der erste Band der „Buchreihe der ogsa“, welche von den Vorstandsmitgliedern der ogsa Johanna M. Hefel und Gabriele Krohnberger et al herausgegeben wird.
Thema und Aufbau
Die Buchreihe der ogsa soll aktuelle und relevante Themen der Sozialen Arbeit und der Sozialarbeitswissenschaft aufnehmen und diskutieren. Ziel ist „den sozialarbeitswissenschaftlichen Diskurs [zu] aktivieren und sie als Leser*in [zu] inspirieren, sich an diesem Prozess zu beteiligen“ (ogsa AG 2021, S. 6). In diesem Sinne gibt die ogsa AG Migrationsgesellschaft einen ausführlichen, vielfältigen und kritischen Sammelband heraus, der für sich beansprucht Wissenschaft, Theorie und Praxis Sozialer Arbeit in Bezug auf die Postmigrationsgesellschaft Österreich zu beleuchten. Die Herausgebenden begründen ihre spezifische Perspektive „Soziale Arbeit in der Postmigrationsgesellschaft“ in Abgrenzung zu anderen Perspektiven wie etwa „Soziale Arbeit und Migration“ damit, dass die Soziale Arbeit anerkennen muss, dass die Differenzkategorie der Migration viel weitgehender wirkmächtig ist als bloß in Bezug auf tatsächlich migrierende Menschen. Darüber hinaus ist der Titel des Buches weitgehender gemeint: „Soziale Arbeit in der (Post-)Migrationsgesellschaft lässt sich nicht als ‚Arbeit mit Migrant*innen‘ bzw. mit denjenigen Menschen, denen dieses Label angeheftet wird, übersetzen“ (ogsa AG 2021, S. 11). Der Sammelband soll dazu anregen, auf den postmigrantischen Charakter der österreichischen Gesellschaft und der damit verbundenen Bedeutung für die Soziale Arbeit zu reflektieren: „Das Postmigrantische verweist also nicht nur auf das ‚Nach-der-Migration‘ sondern vor allem provokativ auf eine Gesellschaft, die versäumt, ihre Realität anzuerkennen, nämliche eine Postmigrationsgesellschaft zu sein“ (ogsa AG 2021, S. 12). Dieser Blick auf Migration soll einen ermöglichen, Differenzstrukturen zu reflektieren, die diskriminierend und rassistisch wirkmächtig werden und Fragen an die Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit stellen, wie sie sich kritische positionieren und einen professionellen Umgang entwickeln kann, der jenseits gut gemeinter Verstetigung ‚kultureller Differenzen‘ liegt.
Für den Zweck des Wissenschaft-Theorie-Praxis-Transfers kommen zu jedem Thema sowohl eine theoretische wie eine praktische Perspektive zu Wort. Dieses Tandemprinzip zieht sich als methodischer Aufbau durch den Band. Behandelt werden die Themen: Differenz und Macht, Rassismus, Critical Whiteness, Postkoloniale Theorien, Intersektionalität, (Post-)Migrationsgesellschaft, Empowerment, Menschenrechtsorientierung, Social Justice, Chancengleichheit contra Integration, Kritische Diskursanalyse, Subjekt und Biographie, Anerkennung, Border Struggles und Critical Citzenship. Das Buch umfasst 450 Seiten.
Inhalt
Es wird ersichtlich, welche breite und komplexe Themenauswahl „Soziale Arbeit in der Postmigrationsgesellschaft“ behandelt. Im Folgenden sollen zur Verdeutlichung dieser Diversität zwei Beiträge exemplarisch vorgestellt werden. Zuerst wird der in Bereich der Praxis fallende Beitrag von Anne Kühne und Tina Füchslbauer, der „Von den (Un-)Möglichkeiten einer Sozialen Arbeit mit obdachlosen EU-Bürger*innen“ (Kühne/Füchslbauer 2021) handelt, vorgestellt werden. Als zweites wird dann der theoretische Beitrag „Der Preis der Anerkennung“ von Heiko Berner (Berner 2021) präsentiert.
a) Kühne, Anna/Füchslbauer, Tina (2021): Von den (Un-)Möglichkeiten einer Sozialen Arbeit mit obdachlosen EU-Bürger*innen.
Tina Füchslbauers und Anna Kühnes praktischer Blick ist Teil des Kapitels „Menschenrechtsorientierung“. Die Autorinnen skizzieren die Versorgungsstrukturen und Zugänge von obdachlosen EU-Bürger*innen in Österreich. Hierfür bedienen sie sich eines intersektionalen Ansatzes, um die Vielfalt der Ausschlüsse, die obdachlose EU-Bürger*innen erleben müssen, vor Augen zu führen. Die Autorinnen wollen ihr Nachdenken über (Un-)Möglichkeiten von Sozialer Arbeit mit obdachlosen EU-Bürger*innen verstanden wissen als ein Beitrag, die Normalisierung von rassistischen und nationalistischen Politiken zu überwinden, da diese der Menschenrechtsorientierung der Sozialen Arbeit fundamental widersprechen. In der Menschenrechtsorientierung finden Füchslbauer und Kühne Perspektiven für die Überwindung sowohl der de-facto Nichtversorgung durch rassistische und nationalistische Politiken als auch der Normalisierung jener Politiken in der Gesellschaft. Ausgehend von den wenig genutzten Möglichkeiten der Anrufung der UN-Ausschüsse zu Menschenrechten, erinnern die Autorinnen im Anschluss an Nivedita Prasad (2021; 2011) an die vielfältigen Möglichkeiten der Nutzung der UN-Menschenrechte und ihrer Institutionen für die Soziale Arbeit. Diese könnten helfen bei der Überwindung der Trennung von „Anspruchsberechtigten“ und „Nichtanspruchsberechtigten“.
Angesichts der reinen Notversorgung im Rahmen der Winternothilfe „Winterpaket“ zeigen Füchslbauer und Kühne, welche Versorgungslücken strukturell vorliegen. Anhand der privaten und studentischen Initiativen diese zu überwinden wird deutlich, dass in der Wiener Stadtpolitik, die Theorie der „Pull-Faktoren“ als Begründung nationalistischer Migrationspolitik vorherrscht und damit die Menschenrechte nicht verwirklicht werden. Ebenso werden strukturell die Menschenrechte besonders vulnerabler Gruppen auf der Straße nicht berücksichtigt, was sich im fehlenden Angebot von intersektionalen Einrichtungen geltend macht. Auch allgemeinere gesellschaftliche Kontexte nehmen die Autorinnen in den Blick, wenn sie racial profiling, Antiziganismus und, am Beispiel von Ungarn, die Bedeutung des Rechtspopulismus für die (Nicht-)Versorgung wohnungsloser Menschen kennzeichnen.
Zum Abschluss des Beitrags werben die Autorinnen dafür aus den Menschenrechten als berufsethischem Prinzip in der Praxis der Sozialen Arbeit eigenständige und widerständige Aufträge abzuleiten. Diese Forderung erheben sie gerade in Abgrenzung dazu, dass die Soziale Arbeit als Notversorgerin selbst Teil des ausschließenden Systems von „Anspruchsberechtigten“ und „Nichtanspruchsberechtigten“ ist. Zur Überwindung dieser Mitarbeit geben die Menschenrechte wichtige Orientierungspunkte, die jedoch, so die Autorinnen, lediglich basale Forderungen sind und keineswegs radikal. Die Autorinnen fordern deshalb eine radikal antirassistische Perspektive der Sozialen Arbeit:
„Eine Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession muss konsequenterweise auch antirassistisch sein. Bewegungsfreiheit für alle und eine Welt ohne nationalstaatliche Grenzen sind Realutopien, an deren Umsetzung Soziale Arbeit mitwirken sollte, um sich selbst ‚überflüssig‘ zu machen.“ (Kühne/Füchslbauer 2021, S. 243)
b) Berner, Heiko (2021): Der Preis der Anerkennung.
Heiko Berner stellt in seinem theoretisch orientierten Beitrag die breit rezipierten Anerkennungstheorien von Charles Taylor (2017) und Axel Honneth (1994) vor. Hierbei reflektiert Berner kritisch auf den „Preis der Anerkennung“, den die um Anerkennung ringenden gesellschaftlichen Gruppen zu zahlen haben. Aufgrundlage dieser Kritik sucht Berner nach Ansätzen zur Integration von Anerkennungstheorien in die Soziale Arbeit.
Charles Taylors Anerkennungstheorie fasst Anerkennung als Streben gesellschaftlich marginalisierter Gruppen nach rechtlicher Repräsentanz ihrer kulturellen oder ethnischen Differenz. Taylor stehen hier die frankophonen Quebecer vor Augen, welche rechtliche Repräsentation z.B. durch Sprachgesetze erfahren. Berner weist daraufhin, dass Taylor hier nicht ohne die Kategorie der Authentizität auskommt. Damit verbunden sind homogenisierende Vorstellungen, welche angesichts der Vielfalt und Flexibilität von modernen (Post-)Migrationsgesellschaften und der Diversität der Individuen der gesellschaftlichen Gruppen, schwer haltbar sind. Berner stellt heraus, dass Taylor hierzu durchaus auch widersprüchliche Postionen einnimmt, die die Vorstellung einer authentischen Identität aufbrechen. Wie Berner am Lehrplan der österreichischen Volksschule aufwirft, versagt Taylors Anerkennungstheorie, wenn es um Fragen der Anerkennung geht, die nicht von einer Gruppe, die sich differenzpolitisch positioniert, aufgeworfen werden.
Auch bei Honneth geht es um die Anerkennung in der Gruppe, jedoch sind Gruppen bei Honneth charakterisiert durch Zugehörigkeit entlang der individuellen Bedürfnisse und Interessen. Über die Erfahrung des Unrechts konstituieren sich diese Gruppen, um in den Kampf um Anerkennung einzutreten. Die Anerkennung vollzieht sich bei Honneth in drei Formen (emotionale Zuwendung, Recht, solidarische Wertschätzung). Der Prozess der Anerkennung ist die Grundlage zur Selbstverwirklichung sowohl von Individuen als auch von Gruppen. Bleibt die Anerkennung aus, so kann dies zum Anlass genommen werden als Gruppe einen Kampf um mehr soziale Gerechtigkeit i.e. Anerkennung zu führen.
Die Unterschiede, Stärken und Schwächen in den Anerkennungstheorien von Honneth und Taylor diskutiert der Autor am Lehrplan der österreichischen Volksschule. Vor diesem Hintergrund reflektiert Berner zum Preis der Anerkennung, den er mit der jeweiligen Theorie verknüpft sieht. Bei Taylor sieht er die Gefahr der Etablierung eines exkludierenden Zirkels. Im Falle Honneths sieht Berner, im Anschluss an Mecheril und Rossiter, die Gefahr, dass durch die Anerkennung einer kollektiven Identität gerade die Differenzen betont und verfestigt werden, welche durch die Anerkennung überwunden werden sollten. Außerdem verweist Berner darauf, dass Honneth nicht behandelt, dass negative Anerkennung, die Missachtung, von außen, durch Fremdzuweisung, kollektive Identitäten schaffen kann.
Diese Preise der Anerkennung zu berücksichtigen hält Berner für eine wichtige und selbstreflexive Aufgabe Sozialer Arbeit in der (Post-)Migrationsgesellschaft: „Gerade eine Soziale Arbeit unter migrationsgesellschaftlichen Verhältnissen sollte berücksichtigen, dass Anerkennung häufig einen Veränderungsprozess meint, der sich nicht nur auf Klient*innen bezieht, sondern der auch die Selbstverhältnisse der Sozialarbeiter*innen betrifft. Dies ist der Preis, den die Sozialarbeiter*innen selbst zu leisten bereit sein sollten, wenn sie einen inklusiven Umgang mit Anerkennungsbestrebungen pflegen wollen.“ (Berner 2021, S. 377)
Diskussion
„Soziale Arbeit in der Postmigrationsgesellschaft“ leistet sich einen zweifachen Spagat. Einerseits zwischen Theorie und Praxis andererseits zwischen Fachbuch und professionspolitischer Streitschrift. Der Spagat gelingt. Die vorgestellten theoretischen Blicke führen einerseits ein in grundlegende Themenfelder zu Sozialer Arbeit in der Postmigrationsgesellschaft und sind andererseits immer kritische Wendungen auf Praxis, Theorie und Wissenschaft Sozialer Arbeit. Die Praxisbeispiele analysieren Handlungsfelder, Fragen nach Alternativen und beziehen kritisch Stellung zu aktuellen sozial(arbeits-)politischen Entwicklungen in Österreich. Damit liegt zwar ein gewisser „appellativer Charakter“ vor (Kukovetz 2022, S. 227), jedoch sind die Appelle wohl begründet und verdanken sich dem Anspruch der Herausgeber*innen die Soziale Arbeit in Österreich aus ihren eigenen Verstrickungen von Macht und Differenz zu befreien, wovon nicht zu letzt die kritische Reflexion des eigenen weiß*-Seins der Herausgeber*innen zeugt (ogsa ag 2021, S. 13).
Fazit
Der vorliegende Band ist somit ein Werk für alle Praktiker*innen, Lehrenden, Forschenden und Studierenden der Sozialen Arbeit, da, wie die Herausgeber*innen betonen, sie längst schon handeln, lehren und forschen in der Postmigrationsgesellschaft. Der Sammelband gibt ihnen kritischen Input zu allen Feldern von Differenz und Macht, damit auch die eigenen Perspektiven im Dickicht von Differenz, Macht und Migration hinterfragt werden können.
Quellenangaben
Berner, Heiko (2021): Der Preis der Anerkennung. In: ogsa AG Migrationsgesellschaft (Hrsg.): Soziale Arbeit in der Postmigrationsgesellschaft. Kritische Perspektiven und Praxisbeispiele aus Österreich. Beltz Juventa. S. 366 – 378.
Honneth, Axel (1994). Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Suhrkamp.
Kühne, Anne/Füchslbauer, Tina (2021): Von den (Un-)Möglichkeiten einer Sozialen Arbeit mit obdachlosen EU-Bürger*innen. In: ogsa AG Migrationsgesellschaft (Hrsg.): Soziale Arbeit in der Postmigrationsgesellschaft. Kritische Perspektiven und Praxisbeispiele aus Österreich. Beltz Juventa. S. 234 – 245.
Kukovetz, Brigitte (2022): Berner, Heiko/Böhler, Doris/Füchslbauer, Tina/Hofer, Manuela/Kühne, Anne/Messinger, Irene/​Riegler, Anna/Tißberger, Martina (Hrsg.). (2021): Soziale Arbeit in der Postmigrationsgesellschaft. Kritische Perspektiven und Praxisbeispiele aus Österreich (450 Seiten). Weinheim und Basel: Beltz Juventa. Rezension. In: Österreichisches Jahrbuch für Soziale Arbeit (ÖJS), Nr. 1, 2022. S. 223- 227.
Prasad, Nivedita (2011): Mit Recht gegen Gewalt. Die UN-Menschenrechte und ihre Bedeutung für die Soziale Arbeit. Ein Handbuch für die Praxis. Barbara Budrich.
Prasad, Nivedita (2021): Rassismus, Migration und Flucht als Themen im Kontext menschenrechtsbasierter Sozialer Arbeit. In: ogsa AG Migrationsgesellschaft (Hrsg.): Soziale Arbeit in der Postmigrationsgesellschaft. Kritische Perspektiven und Praxisbeispiele aus Österreich. Beltz Juventa. S. 220 – 233.
ogsa AG Migrationsgesellschaft (Hrsg.) (2021): Soziale Arbeit in der Postmigrationsgesellschaft. Kritische Perspektiven und Praxisbeispiele aus Österreich. Beltz Juventa.
Taylor, Charles (2017 [1992]). Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. 3. Auflage. Suhrkamp.
Rezension von
Moritz Niklas Frietzsche
M.A. Soziale Arbeit. Integrativer Lerntherapeut für Dyskalkulie. Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hamburg, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Arbeitsbereich Sozialpädagogik. Freier Lehrbeauftragter an verschiedenen Hochschulen in Deutschland
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Zitiervorschlag
Moritz Niklas Frietzsche. Rezension vom 19.05.2023 zu:
ogsa AG Migrationsgesellschaft (Hrsg.): Soziale Arbeit in der Postmigrationsgesellschaft. Kritische Perspektiven und Praxisbeispiele aus Österreich. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2021.
ISBN 978-3-7799-6447-6.
Buchreihe der ogsa. Österreichische Gesellschaft für Soziale Arbeit.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30300.php, Datum des Zugriffs 14.01.2025.
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