Gert Dressel, Johanna Kohn et al. (Hrsg.): Erzählcafés
Rezensiert von Conny Martina Bredereck, 23.06.2023
Gert Dressel, Johanna Kohn, Jessica Schnelle (Hrsg.): Erzählcafés. Einblicke in Praxis und Theorie. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2023. 317 Seiten. ISBN 978-3-7799-6719-4. D: 26,00 EUR, A: 26,90 EUR.
Thema
Das Buch richtet sich an Fachkräfte und Engagierte aus der Sozialen Arbeit, der Bildungsarbeit, der Alters- und Jugendarbeit, der Hospiz- und Palliativarbeit etc., die bereits Erzählcafés anbieten oder zukünftig anbieten wollen, und gibt ihnen einen theoretischen und praktischen Einblick in die Planung, Umsetzung und Wirkung von Erzählcafés.
In Gedenken und Ehren an C.W. Müller (1928-2021), der 1987 die Idee des ersten namentlichen Erzählcafés von seinen Forschungsreisen in New Orleans in den Berliner Wedding brachte.
Vorstellung von Autor:in oder Herausgeber:in
Gert Dressel ist Historiker, Fortbildner sowie Moderator und lehrt an der Universität Wien in den Instituten für Pflegewissenschaft und Soziologie. Seit 1990 initiiert und moderiert er Erzählcafés in verschiedenen Zusammenhängen.
Johanna Kohn ist Professorin an der Fachhochschule Nordwestschweiz mit den Schwerpunkten Alter, Biographiearbeit und Migration sowie Sterben, Tod und Trauer. Als Mitbegründerin des Netzwerks Erzählcafé Schweiz ist sie an der Verbreitung von Erzählcafés und an der Formulierung von Qualitätsstandards aktiv beteiligt.
Jessica Schnelle ist Psychologin und Leiterin der Abteilung Soziales bei Migros-Kulturprozent. In ihrer Verantwortung liegen diverse Projekte rund um die Themen Biografiearbeit, Generationen und frühkindliche, ästhetische Bildung.
An dieser Stelle unberücksichtigt, aber nicht unerwähnt, bleiben die mehr als 30 weiteren Autor:innen, die sich mit ihren Beiträgen an der Entstehung und Umsetzung des Buches beteiligt haben. Die Vorstellung aller Autor:innen erfolgt in dem Sammelband ab S. 312.
Entstehungshintergrund
Im Jahr 2015 wurde das Netzwerk Erzählcafé Schweiz unter Mitwirkung von Migros-Kulturprozent und der Fachhochschule Nordwestschweiz gegründet. Ziel war und ist die Vernetzung, Fortbildung und Sichtbarmachung der verschiedenen Akteur:innen in diesem Feld. Die vorliegende Publikation vereint diese Ziele und verknüpft darüber hinaus die Theorie mit der Praxis, um die langjährigen Erfahrungen mit diesem Format und den erreichten Professionalisierungsgrad genauer zu betrachten (S. 14).
Aufbau
- Einstiege: Drei Beträge führen in das Buch ein.
- Überblicke: Es erfolgt eine theoretische Einbettung des Erzählcafés.
- Einblicke: Insgesamt stellen 14 Erzählcafé-Initiator:innen und -Moderator:innen Ausschnitte und Überlegungen ihrer biografische Arbeit sowie Reflexionen zur Umsetzung vor.
- Durchblicke: In diesem Teil wird das Format Erzählcafé sowie die Rolle der Moderation reflektiert.
- Zum Abschluss: Abschließend werden das Netzwerk Erzählcafè Schweiz und die Autor:innen vorgestellt.
Drei der fünf Kapitel werden mit lyrischen Beiträgen von Mechthild Wand abgeschlossen.
Inhalte
Im (1) Einstieg (S. 9 ff.) berichtet Johanna Kohn eindrücklich von ihrem ersten Erzählcafé und den Gedanken, die sie mit dieser besonderen Erfahrung angestoßen wurden. Einer kurzen Einführung in das vorliegende Buch folgt ein Gespräch zwischen Johanna Kohn, Gert Dressel und Hartmut Rosa zu Resonanzerfahrungen in Erzählcafés, einem Raum, in dem biografische Erfahrungen geteilt werden.
Das Kapitel (2) Überblicke (S. 29 ff.) bettet Erzählcafés theoretisch ein. Der erste Beitrag der Herausgeber:innen rekonstruiert die Geschichte der Erzählcafés und lebensgeschichtlicher Gesprächskreise. Auch wenn sich diese Formate in der Schweiz erst in den 2000er Jahren verbreitete, finden sich in Österreich und Deutschland verschiedene Anfänge schon in den 1970er und 1980er Jahren. In erster Linie galt es, die Lebenserfahrungen und -geschichten vor allem älterer Menschen festzuhalten: „Damit es nicht verloren geht.“ (S. 30). In einem geschützten Raum mit ausreichend Zeit werden die verschiedenen Lebensgeschichten einer Öffentlichkeit präsentiert und in das kollektive Gedächtnis geschrieben. Die Erzählenden werden nicht als „Forschungsgegenstände“, sondern als Partner:innen verstanden, die ihre individuellen Lebensgeschichte und -erfahrungen in einen gesellschaftshistorischen Kontext stellen (S. 35). Ihre Lebensgeschichte erhält in diesem Raum eine besondere Relevanz und ist von Interesse für alle Beteiligten. Für die Erzählenden ist der Prozess mehr als die Aufarbeitung der eigenen Biografie. Vielmehr wird ein Prozess in Gang gesetzt, in dem sich die Erzählenden selbst und andere besser verstehen, die Lebensgeschichte mit der Gegenwart und der Zukunft in Bezug gesetzt wird und somit eine neue Bedeutung erhält (S. 38). Mittlerweile sind lebensgeschichtliche Erzählungen unter verschiedene Namen wie Geschichtswerkstätten, Erzählsalons, Zuhörstunde etc. in einem multiprofessionellen und multidisziplinären Feld zu finden. In einer explorativen Studie wurde analysiert, wie es in diesem heterogenen Rahmen gelingt, die Gruppendynamik nicht nur dem Zufall zu überlassen, sondern die Veranstaltung verantwortungsvoll zu moderieren (S. 45 ff.). Als Ergebnis der Studie werden im ersten Schritt unterschiedliche Handlungsfelder, Orte, Zielgruppen, Motivationen und Intentionen von Moderierenden sowie Gelingensbedingungen und Stolpersteine vorgestellt. Zusammenfassend wird festgehalten, dass Erzählcafés ein enormes Potential innewohnt, aber auch eine große Verantwortung seitens der Initiator:innen und Moderierenden, dieses Potential konstruktiv zu entfalten.
In dem umfangreichsten Kapitel (3) Einblicke (S. 73 ff.) stellen insgesamt 14 Autor:innen-Teams Ausschnitte ihrer biografischen Arbeit und eine Vielzahl an Überlegungen zur Umsetzung vor. Geschrieben wird von sorgsamer Durchführung, Haltung, Wechselseitigkeit, Zuhören, Dialogen, Pausen, Nutzung von Artefakten und vielem mehr, um die Gelingensfaktoren sowie Herausforderungen an ganz konkreten Beispielen aus den einzelnen Veranstaltungen zu verdeutlichen. Anschaulich werden verschiedene Formate dargestellt: Erzählcafés, in denen eine Person zu Gast ist, die vor einem Publikum ihre persönliche Lebensgeschichte erzählt; Erzählcafés, in denen alle Teilnehmenden zu einem bestimmten Schwerpunkt erzählen können; Erzählcafés, in denen ein gemeinsames Thema verbindet und dazu erzählt wird. Für die Umsetzung werden Museen, Nachbarschaftszentren, Bildungsstätten, Mehrgenerationenhäuser etc. als Orte gewählt und entsprechend der Zielgruppe Kaffee und Kuchen oder auch mal Pizza und Cola angeboten, um eine offene, lockere und erzählgenerierende Atmosphäre herzustellen. Gemeinsam ist den unterschiedlichen Umsetzungsformen auch, dass ein Raum für den gemeinsamen Austausch geschaffen wird, in dem alle, die wollen, allerdings in unterschiedlicher Ausprägung, zu Wort kommen und die Moderator:innen in diesem Raum eine sichere Atmosphäre halten. Mit ihren Schwerpunkten bewegen sich die vorgestellten Projekte im Bereich internationaler Geschichte, Gender, Geburtskultur, Diversität in Quartieren, Inklusion, Wohnungslosigkeit, Alter, Bildungsarbeit, generationsübergreifender Austausch, Antisemitismus und Extremismus, Aufarbeitung und vielen weiteren Themen. Lebensgeschichtliche Erzählungen werden beschrieben, die das erste Mal laut ausgesprochen und erstmalig gehört werden, individuelle Geschichten werden im Kollektiv reflektiert und strukturelle Defizite wahrgenommen, Erfahrungen werden ausgetauscht und Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den lebensgeschichtlichen Erfahrungen der Teilnehmenden sichtbar gemacht.
Als eines der vielen Praxisbeispiel kann das Erzählcafés in Gebärden- und Lautsprache vorgestellt werden, an dem Hörende und Gehörlose teilnahmen (S. 130 ff.). Dieses Erzählcafé wurde teilnehmend beobachtete und im Anschluss daran einzeln sowie in Fokusgruppen befragt, um die Interaktion und das Erleben der Beteiligten analysieren und Rahmenbedingung für einen Dialog zwischen Gehörlosen und Hörenden herauszuarbeiten. Die Erzählungen wurden zu den Themen Lieblingsorte, Glück, Essen und Trinken geführt. Anschaulich werden Asymmetrien in der Gesprächskultur beschrieben. Bewegen sich gehörlose Menschen in unterschiedlichen Ausprägungen „bikulturell“ (S. 133), also neben der Community gehörloser Menschen auch in der sie umgebenden mehrheitlich hörenden Gesellschaft, trifft das umgekehrt für hörende Menschen eher selten zu. Als herausfordernd wurden die unterschiedliche Bewertung von Erzählthemen, Missverständnisse im Erzählverhalten oder auch unterschiedliche Erwartungen der Teilnehmende wahrgenommen. Aus den Ergebnissen der Evaluation konnten Gelingensbedingungen für ein inklusives Erzählcafé abgeleitet werden (S. 136 ff.).
Als ein anderes Beispiel soll das Erzählcafé zum Thema Heimat „Hier, Dort, Überall: Wo ist Ihr Zuhause?“ vorgestellt werden (S. 142 ff.), das sich als eines von wenigen Kulturprojekten explizit an obdachlose Menschen wendete und Kulturinstitutionen für diese marginalisierte Personengruppe zugänglicher machen wollte. Im Musée Ariana in Genf wurde unter dieser Zielsetzung eine Begegnung zwischen obdachlosen Menschen und anderen Museumsbesucher:innen initiiert, um Barrieren abzubauen und zu einem gesellschaftlichen Zusammenhalt beizutragen. Es gab unterschiedlicher Erwartungen und Motivationen zwischen dem Museum und den Intitiator:innen, die übereigebracht werden mussten sowie Beschränkungen in der Öffentlichkeitsarbeit aufgrund der Pandemie. In der durch den/die Autor:in als gelungen eingeschätzte Veranstaltung tauschten die Teilnehmenden ihre Lebensgeschichten und Erfahrungen zu den Themen Zuhause, Verbundenheit, Wurzeln etc. aus. Im Nachgang resümiert die/der Autor:in zu Fragen von Akquise, Netzwerken und möglichen Denkfehlern.
Zuletzt soll noch ein Einblick in ein Erzählcafé mit Jugendlichen gegeben werden (S. 196 ff.). Neben den transkribierten Erzählungen zu den Erfahrungen der Jugendlichen eines Jugendzentrums führten zusätzliche biografisch Texte und Reflexionen zur Herausgabe eines kleinen Buches. Beschrieben werden die Herausforderungen in der Kooperation zwischen einem/​einer soziokulturellen Animator:in (aus dem Französischen übersetzt und im Artikel erläutert) (S. 197) und einer/​einem Moderator:in von Erzählcafés sowie Herausforderungen in der Arbeit mit der Zielgruppe, denen in adäquaten Anpassungen des Formats begegnet wurde. Dargestellt werden der Ablauf bei Pizza und Tacos, die (außer im ersten Treffen) partizipativ ausgehandelten Erzählthemen, der Entstehungsprozess des Buchprojekts inklusive der Vernissage zur Veröffentlichung des Buches sowie die langfristige Wirkung dieser besonderen Erfahrung in einem sonst sehr kurzlebigen Setting.
Der nächste Abschnitt (4) Durchblicke (239 ff.) setzt noch einmal den Fokus auf das Format Erzählcafé. In einem interdisziplinären Gespräch werden aus verschiedenen professionellen Perspektiven die jeweiligen Bezüge zu Lebensgeschichten und Erzählcafés dargestellt. Herausgearbeitet werden verschiedene Dimensionen von Erzählcafés, die soziale Praxis, der Ablauf von Erzählcafés, aber auch die Schwierigkeiten in der Finanzierung derartiger Formate. Verschiedenen Beiträgen reflektieren praxisnah die Rolle der verschiedenen Akteuer:innen: Moderation, Erzählende, Institutionen bzw. Organisationen.
Abschließend (5) Zum Abschluss (S. 308 ff.) werden das Netzwerk Erzählcafé Schweiz und die verschiedenen Autor:innen und Herausgeber:innen vorgestellt.
Diskussion
Das Erzählcafé als ein arrangiertes Ereignis (Gieschler, 1999, S. 229) und eine besondere Form der Biografiearbeit, in dem persönliche Erzählungen auf einer öffentlichen Bühne vor einem Publikum präsentiert werden (Müller, 1991), wird in dieser Publikation erstmalig so prominent in all seinen unterschiedlichen Facetten, Ausprägungen und Umsetzungsmöglichkeiten inklusive des theoretischen Hintergrundes sowie praktischer Hinweise zur Umsetzung vorgestellt. Deutlich werden verschiedene Dimensionen herausgearbeitet, auch wenn die politische Dimension als solche weniger explizit benannt und modelliert wird. Dabei deutet der Appendix „Café“ in dem von C. W. Müller und S. Gieschler kreierten Begriffs „Erzählcafé“ auf mehr als nur den Veranstaltungsort oder -charakter und wurde bewusst im Sinne der Tradition der Kaffeehäuser gewählt, als „… ein Ort des lebendigen Austausches, eine sprechende Zeitung, ein Spielfeld der öffentlichen Meinung, politischer Freiraum, die Geburtsstätte neuer Ideen, Inspiration für Künstler …“ (Gieschler, 1999, S. 234). Die Vorstellung der in der vorliegenden Publikation 14 unterschiedlichen Erzählcafés zeigt die vielfältigen Umsetzungsvariationen, Schwerpunktsetzungen und Diskussionsstränge auf, die auch immer vom Engagement und Wechselspiel der Initiator:innen, der Moderation, der Erzählenden und der Zuhörenden leben. Deutlich wird der durch die Moderation verantwortete Prozess zum Erhalt eines geschützten Raums herausgearbeitet, in dem über einen diversitätssensiblen Umgang Diskriminierungen und postkoloniale Haltungen nicht weiter reproduziert werden (sollen). Das Erzählcafé ist ein offener Ort des Kennenlernens, des Austausches, des Miteinanders, der Begegnung. Damit wird den Moderator:innen eine hohe Kompetenz abgefordert, die die Sensibilität aufbringen müssen zu erkennen, wann Pausen für die Erzählenden angebracht sind, die aufgrund der tiefen psychischen Wirkung traumapädagogische Stabilisierungstechniken kennen und anwenden sowie zeitgleich über ein hohes Maß an erzählgenerierenden Gesprächstechniken verfügen sollten. Erst in der Anwendung und Beachtung von diesen und weiteren in der Publikation genannten Qualitätsstandards gelingt eine professionelle Umsetzung des Erzählcafès.
Fazit
Absolut lohnenswert für alle, die sich für das Erzählcafé als eine besondere Form der Biografiearbeit interessieren. Neben vielen unterschiedlichen Impulsen für die Ausgestaltung von Erzählcafés werden auch umfangreiche reflexive Überlegungen und theoretische Begründungsmuster dargelegt.
Literatur
Gieschler, S. (1999). Leben erzählen. Leben erzählen. Von der Wiederbelebung einer Kulturtätigkeit in postmoderner Zeit. Münster: Waxmann.
Müller, C.W. (1991). Vorwort. In S. Gieschler & A. Lange. Das Erzählcafé-Lesebuch. Band 1. Die Weddinger Themen. Berlin: Verlag der Buchhandlung Mackensen.
Rezension von
Conny Martina Bredereck
Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humanistischen Hochschule Berlin (HHB), Schwerpunkte: Jugend- und Schulsozialarbeit, Traumapädagogik und Biografiearbeit, Freie Dozentin und Supervisorin (DGSv)
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Zitiervorschlag
Conny Martina Bredereck. Rezension vom 23.06.2023 zu:
Gert Dressel, Johanna Kohn, Jessica Schnelle (Hrsg.): Erzählcafés. Einblicke in Praxis und Theorie. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2023.
ISBN 978-3-7799-6719-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30303.php, Datum des Zugriffs 10.10.2024.
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